Späte Wahrheitsfindung
Einige Führer der Roten Khmer leben noch. Nun soll ihnen in Kambodscha der Prozess gemacht werden von Raoul Marc Jennar
Erst nach der Besetzung des „Demokratischen Kampuchea“ durch die vietnamesische Armee im Dezember 1978 erfuhr die Welt von den Massenmorden durch das Regime von Pol Pot1 . Zuvor hatte sich Vietnam drei Jahre lang gegen die grenzüberschreitenden Attacken der Roten Khmer zur Wehr gesetzt. Nach dem Einmarsch bildeten unter dem Dach der Vereinten Nationen China, die USA und ihre jeweiligen Verbündeten eine Allianz, die den „Regimewechsel durch Intervention einer fremden Macht“ verurteilte.
Der neuen Volksrepublik Kampuchea (RPK) wurde folglich die internationale Anerkennung verweigert, und Thiounn Prasith, der von Pol Pot entsandte UN-Botschafter, behielt sein Amt noch weitere vierzehn Jahre. In den Gebieten, die die Roten Khmer noch kontrollierten, ging indessen das Morden weiter. Aber aus Sicht der USA waren die Führer des einstigen „Demokratischen Kampuchea“ „nicht-kommunistische Persönlichkeiten“2 , die es in ihrem Kampf gegen die vietnamesische Besatzung zu unterstützen galt. Mit westlicher und chinesischer Hilfe konnte Pol Pot in Thailand seine Truppen neu aufstellen.
Die UN wollte es nicht Völkermord nennen
So weigerte sich denn auch die UN-Menschenrechtskommission, zu einem Bericht von 1979 Stellung zu nehmen, der auf 995 Seiten Zeugenaussagen über die schweren Menschenrechtsverletzungen im „Demokratischen Kampuchea“ enthielt. In den folgenden zehn Jahren scheiterten in der UNO alle Versuche von Vertretern der RPK, von Überlebenden wie Dith Pranh3 oder von Menschenrechtsaktivisten wie David Hawk, eine Verurteilung von Führern der Roten Khmer zu erwirken.
1989 begannen die Friedensverhandlungen. Um die Teilnahme der Roten Khmer sicherzustellen, wurde jede Bezugnahme auf die Verbrechen des Pol-Pot-Regimes vermieden. Begriffe wie „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ oder „Völkermord“ tauchten in den offiziellen Akten nicht auf. Im Friedensvertrag von Paris wird die Vernichtung von 1,7 Millionen Menschen – fast einem Viertel der kambodschanischen Bevölkerung – mit der Formulierung „politische Maßnahmen und Praktiken der Vergangenheit“ umschrieben.
Die Überlebenden, die heute Gerechtigkeit fordern, bestehen auf einer gerichtlichen Aufarbeitung. Dass der Völkermord nie durch eine unparteiische Justiz geahndet wurde, ist für die überlebenden Opfer unerträglich. Vor allem lädt es dazu ein, die Geschichte zu leugnen. Wohin die Untätigkeit der Justiz bereits geführt hat, wurde 2003 deutlich, als der Vorsitzende einer der drei parlamentarischen Parteien den Roten Khmer seine Anerkennung „für ihr Wirken in den vergangenen dreißig Jahren“ aussprach.
Immerhin fällte 1979 ein „Revolutionäres Volkstribunal“ sein Urteil über das „Demokratische Kampuchea“, indem es zwei der früheren Führer (Pol Pot und seinen Stellvertreter und Außenminister Ieng Sary) in Abwesenheit zum Tode verurteilte. In der Verhandlung4 konnten viele Überlebende ihre Aussagen machen, doch im kollektiven Gedächtnis der Kambodschaner trägt dieser Prozess immer noch den Makel, dass er unter vietnamesischer Besatzung stattfand. Und bis zur Auflösung der Roten Khmer 1998 hat die Propaganda der Bewegung stets versucht, die unter Pol Pot begangenen Massaker den Vietnamesen unterzuschieben. Vor allem unter der kambodschanischen Jugend trifft diese Erklärung bis heute auf große Zustimmung – und 51 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 18 Jahre. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass der Prozess, auf den sich die kambodschanische Regierung und die Vereinten Nationen 2003 schließlich verständigten, im Land und in der Landessprache geführt werden soll. 2007 soll der Prozess beginnen.
Im Juni 1997 hatte die kambodschanische Führung in einem Brief an den UNO-Generalsekretär „die Hilfe der Vereinten Nationen und der internationalen Gemeinschaft“ erbeten, „um diejenigen vor Gericht zu bringen, die unter dem Regime der Roten Khmer für Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich waren“. Offizielles Ziel eines solchen Verfahrens, dem die UNO-Vollversammlung Ende 1997 den Segen gab: „Wahrheitsfindung“ und „Verurteilung der Verantwortlichen“.
Doch es dauerte sieben weitere Jahre, um alle Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Die Vereinten Nationen schlugen ein internationales Tribunal vor, Kambodscha dagegen wollte die Verfahren nach nationalem Recht führen, wenn auch unter Einbeziehung ausländischer Berater und Beisitzer. Die UNO forderten außerdem die Beachtung internationaler juristischer Maßstäbe, rechtliche Garantien bei der Verhaftung der vom Tribunal benannten Tatverdächtigen und die Teilnahme internationaler Justizvertreter am gesamten Verfahren. Nicht ohne Grund – alle beteiligten Vertreter der kambodschanischen Justiz sind gewissermaßen Richter und Kläger in einer Person: Sie haben das Pol-Pot-Regime überlebt und sie haben Angehörige verloren.
Ein 2001 verabschiedetes Gesetz über die „außerordentlichen Strafkammern im Rahmen des kambodschanischen Justizwesens, die der Verhandlung von Verbrechen unter dem Regime der Roten Khmer dienen“ wurde 2004 nachgebessert, um das so umschriebene Tribunal für die UNO akzeptabel zu machen. Das Ermittlungsverfahren soll unter der gemeinsamen Verantwortung eines kambodschanischen und eines von der UN benannten Staatsanwalts stehen, beide Seiten stellen auch je einen Ermittlungsrichter. In der ersten Instanz besteht das Gericht aus drei kambodschanischen und zwei internationalen Richtern, das Urteil muss mit vier Stimmen gefällt werden. In der Berufungsinstanz (vier kambodschanische und drei internationale Richter) sind fünf Stimmen nötig. Stets ist so das Votum eines internationalen Richters Voraussetzung für eine Verurteilung.
Es dauerte noch einmal zwei Jahre, bis Kambodscha und die UNO den Etat des Tribunals in Höhe von 56 Millionen Dollar bereitgestellt hatten und die Juristen – 17 kambodschanische und 8 internationale – benannt waren. Gegen die Beschuldigten wird wegen Vergehen nach dem seit 1975 geltenden kambodschanischen Strafgesetzbuch, der Menschenrechtskonvention und den von Kambodscha ratifizierten internationalen Konventionen verhandelt. Damit fallen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verletzung der Genfer Konventionen und Verstöße gegen die Haager Konvention über das Kulturerbe in die Zuständigkeit des Tribunals.
Auch wenn von mancher Seite noch immer behauptet wird, es habe überhaupt keinen Völkermord gegeben, sprechen die Fakten eine klare Sprache. Vierzig Prozent der muslimischen Bevölkerung – die Volksgruppe der Cham, die heute in verschiedenen Staaten leben – wurden umgebracht. Tausende wurden hingerichtet, weil ihnen die „Khmer-Seele im Khmer-Körper“ fehlte: thailändische, chinesische, aber vor allem vietnamesische Khmer und alle mutmaßlichen Sympathisanten Vietnams.
Einige führende Mitglieder der Regierung Pol Pot, der Kommunistischen Partei, der politischen Polizei Santebal und der Betreiber des Folter- und Hinrichtungslagers S-21 sind noch am Leben: Staatspräsident Khieu Sampan; Nuon Chea (als „Bruder Nr. 2“ engster Vertrauter von Pol Pot in der Parteiführung und zweitmächtigster Mann im Staat); Vizepremier Ieng Sary, Khieu Thirith (Gattin von Ieng Sary, Schwiegertochter von Pol Pot, Ministerin und ZK-Mitglied); Minister Thiounn Mumm; Minister Keat Cheon5 ; Thiounn Prasith (UNO-Botschafter und bestens informiert über die Unterstützung der Roten Khmer durch die USA in den Jahren 1979 bis 1990). Weiterhin: Kang Kek Ieu (alias „Duch“), der das S-21-Lager leitete, sowie die Oberkommandierenden von Luftwaffe und Kriegsmarine, Sou Met und Meah Mut. Mit Ausnahme von Thiounn Prasith, der offenbar den Schutz der USA genießt, leben diese Personen heute in Kambodscha.
Zweifel sind angebracht, ob gegen alle ermittelt werden wird, ob belastende und entlastende Ergebnisse abgewogen werden. Das hängt mit den besonderen Umständen des Friedensprozesses in Kambodscha zusammen. Ende November 1993 zogen nach zwanzig Monaten die UNO-Friedenstruppen ab, aber erst fünf Jahre später kapitulierten die Roten Khmer endgültig. Ieng Sary kam nach seiner Verurteilung von 1979 in den Genuss eines königlichen Gnadenerlasses und wurde 1996 sogar Mitglied der Regierung. Khieu Sampan und Nuon Chea stellten sich Ende 1998 den Behörden. Sou Met und Meah Mut bekleiden Posten in der kambodschanischen Armee. Nur „Duch“ sitzt im Gefängnis. Wie viele und welche Personen unter Anklage gestellt werden, dürfte ein entscheidendes Kriterium der Glaubwürdigkeit des Tribunals sein.
Eine weitere Frage: Wird man im Zuge der Ermittlungen die Angkar (das oberste Führungsorgan des Regimes), die für die Massaker verantwortlich war, und die politische Polizei Santebal als kriminelle Vereinigungen behandeln? Oder wenigstens den ständigen Ausschuss des Zentralkomitees der kommunistischen Partei, in dem die Planung und Durchführung der Massaker beschlossen wurde? Man könnte auf diese Weise jede Person vor Gericht bringen, die einer dieser Institutionen einmal angehört hatte – 27 Jahre vor Beginn der am 3. Juli 2006 aufgenommenen Ermittlungen. Einige sind inzwischen verstorben: Pol Pot (im April 1998), Verteidigungsminister Son Sen (der auch Dienstherr der Santebal war), die Minister Yun Yat und Thiounn Thieeunn, Generalstabschef Ta Mok und sein Stellvertreter Ke Pauk. Sie alle standen von 1979 bis 1993 unter dem Schutz der „internationalen Gemeinschaft“. Son Sen gehörte sogar dem Nationalen Führungsrat an, der gemäß den Pariser Verträgen von 1991 gebildet wurde – er hatte die Aufgabe, in der Übergangsperiode für die Sicherung der nationalen Souveränität zu sorgen.
Die USA haben dem Tribunal nur unter der Bedingung zugestimmt, dass es ausschließlich die vom 17. April 1975 bis zum 6. Januar 1979 in Kambodscha begangenen Verbrechen untersucht. Damit werden alle ausländischen Verantwortlichkeiten für die tragischen Ereignisse sowohl vor als auch nach der Ära des „Demokratischen Kampuchea“ ausgeblendet. So wird kein ziviler oder militärischer Entscheidungsträger aus Thailand vor Gericht erscheinen müssen, obwohl dieses Land sich seit 1953 immer wieder in Kambodscha eingemischt hat. Vor 1970 versuchte Thailand mit allen Mitteln, die um politische Neutralität bemühte Regierung zu destabilisieren, und von 1979 bis 1998 erlaubte es den Truppen von Pol Pot, sich auf thailändischem Territorium neu zu formieren.
Die Führung Singapurs – dort war die wichtigste Drehscheibe für den Nachschub der Pol-Pot-Truppen nach 1979 – wird ebenso wenig angeklagt werden wie die europäischen Regierungen, allen voran die britische, die von 1979 bis 1991 an der Versorgung der Roten Khmer mit Waffen und Munition beteiligt waren. Auch Henry Kissinger nicht, der die Verantwortung für die Bombenangriffe im März 1969 und Mai 1970 trug und der den Putsch gegen König Sihanuk vom 18. März 1970 und den nachfolgenden Einmarsch im März absegnete.6 Vor allem wird die Rolle von US-Präsident Jimmy Carter und seinem Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski nicht zur Sprache kommen: Sie waren es, die 1979 die Entscheidung trafen, die Befreiung Kambodschas durch Vietnam zu missbilligen, ein gnadenloses Embargo über das Land zu verhängen und die Armee von Pol Pot wieder aufzubauen und zu unterstützen. An diese Politik haben sich auch die Nachfolger, Ronald Reagan und George Bush sen., bis 1990 gehalten.