13.10.2006

Ach, Mandela

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Ach, Mandela

Präsident Thabo Mbeki klebt an der Macht. Die Hoffnungen der Südafrikaner bleiben unerfüllt von Johann Rossouw

Im vergangenen Jahr lag das Wirtschaftswachstum Südafrikas zum ersten Mal seit 45 Jahren über vier Prozent. Präsident Thabo Mbeki, der 1999 zum Nachfolger von Nelson Mandela gewählt wurde, hat als Ziel allerdings die Sechsprozentmarke ausgerufen. Seit den ersten Wahlen von 1994 ist von dieser fast schon magischen Zahl die Rede, mit der es gelingen soll, Armut und Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen. Doch der Anteil der Armen ist inzwischen auf 30,9 Prozent angestiegen,1 die Arbeitslosigkeit liegt bei offiziell 30 Prozent.

Das „neue“ Südafrika unter der Regierung des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) kann seine Versprechen nicht einlösen.2 Sampie Terreblanche, Sozialdemokrat und führender südafrikanischer Wirtschaftshistoriker, hat sogar herausgefunden, dass unter der Wirtschaftspolitik des ANC die sozialökonomische Ungleichheit zugenommen hat: „Die südafrikanische Gesellschaft hat einen Strukturwandel vollzogen. Während sie bisher nach Rassen segregiert war, ist sie heute sehr deutlich in soziale Schichten aufgespalten.“3

Tatsächlich hat der ANC 1996 eine historische Wende eingeleitet. Seitdem verfolgt die Regierung, nicht zuletzt unter dem Druck von Anglo American, dem größten und mächtigsten Konzern des Landes, eine neoliberale Wirtschaftspolitik. Das zeigte sich bereits in der Verabschiedung des Strukturanpassungsprogramm Gear (Growth, Employment and Redistribution), das die Privatisierung der Staatsbetriebe vorsieht und auf eine (angebotsorientierte) Wachstumsförderung setzt.

Südafrika ist das einzige Land des Kontinents, das sich der Rosskur des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, die in der Regel aufgezwungen werden muss, aus freiem Willen unterzieht. Die Radikalität dieses Kurswechsels ist insofern erstaunlich, als die wirtschaftspolitischen Leitlinien des ANC bis vor kurzem die Stärkung der Nachfrage als Methode der Armutsbekämpfung festlegten. Noch 1990, in einer seiner ersten Reden nach der Freilassung, hatte Nelson Mandela die Verstaatlichung von Banken und Bergwerken zur Priorität erklärt.

Der ideologische Einfluss der SACP (South African Communist Party) auf die Führung des ANC ging jedoch bereits schon seit Mitte der 1980er-Jahre zurück. Damals geriet die regierende Nationale Partei (NP) unter großen internationalen Druck. Laut Moeletsi Mbeki, Bruder des Präsidenten und Wirtschaftsexperte, „entzogen damals große Teile des Kapitals der regierenden Nationalen Partei (NP) ihre Unterstützung. Sie forderten Änderungen in der Wirtschaftspolitik. Seit Mitte der 1980er-Jahre suchten südafrikanische Unternehmer das Gespräch mit Exilparteien, um für die Zeit nach dem Ende der Apartheid vorbereitet zu sein.“4

Nach Sampie Terreblanche ließ sich der ANC trotz seines überwältigenden Siegs über die Nationale Partei von Unternehmern und Ökonomen vereinnahmen. Dieser Einfluss war schon in der Illegalität sichtbar und hat den ANC nachhaltig geprägt.

Thabo Mbeki, der im britischen Exil Volkswirtschaft studiert hatte und seit Mitte der 1980er-Jahre als außenpolitischer Sprecher des ANC Verhandlungen mit der weißen Minderheitsregierung geführt hatte, spielte eine wichtige Rolle bei der Entscheidung für den wirtschaftsliberalen Kurs. Auch bei der Durchsetzung des Gear-Programms war er – damals als Vizepräsident – die treibende Kraft.

Unter Mandelas Präsidentschaft fungierte Mbeki de facto als Regierungschef, während der historische Held des ANC sich auf die Versöhnung der Rassen konzentrierte. Mbeki verfolgte begeistert die Entwicklung der europäischen Sozialdemokratie in den 1990er-Jahren. Sein erklärtes Vorbild war der britische Premierminister Tony Blair und dessen „Dritter Weg“.5 Er fürchtete, sein Land könnte eine ähnlich verheerende wirtschaftliche Entwicklung einschlagen wie etliche „sozialistische“ Länder Afrikas in den ersten Jahren ihrer Unabhängigkeit. In seinen Beraterstab berief er deshalb zumeist Führungskräfte internationaler Konzerne.

Der Kurswechsel des ANC erzürnte aber dessen traditionelle Verbündete – die Kommunisten und Gewerkschaftler des mächtigen Cosatu (Congress of South African Trade Unions). Und das nicht nur, weil das Gear-Programm das auf Umverteilung basierende Entwicklungsprogramm RDP (Reconstruction and Development Programme) ersetzte, sondern auch, weil man sie überhaupt nicht einbezogen hatte.

Der Herr Präsident verträgt keine Kritik

Mbekis Führungsstil war von Anfang an autoritär und technokratisch. In den dreißig Jahren seines Exils hatte er einen kleinen Kreis von Vertrauten um sich geschart – darunter die Brüder Aziz und Essop Pahad, heute stellvertretender Außenminister beziehungsweise Minister im Präsidialamt. Zudem verträgt Mbeki keine Kritik. Das bekam im November 2004 Bischof Desmond Tutu zu spüren, der an vorderster Front gegen die Apartheid gekämpft hatte. Als der sich ein paar vorsichtig formulierte kritische Bemerkungen erlaubte, reagierte der Staatschefs mit einem fürchterlichen Wutanfall.6

Für Konflikte sorgt auch Mbekis Politik des schwarzafrikanischen Nationalismus, die er mit der sogenannten „Transformation“ verfolgt. Ein Programm für die „grundlegende soziale Umgestaltung der Gesellschaft“7 hatte Mandela schon 1997 anlässlich der 50. Jahresversammlung des ANC formuliert: Alle Bevölkerungsgruppen Südafrikas sollten auf allen Ebenen der Gesellschaft vertreten sein – eine selbstverständliche Forderung mit Blick auf Südafrikas lange Geschichte von Ausbeutung und Diskriminierung. Noch heute halten zum Beispiel Schwarze nur zwei Prozent der an der südafrikanischen Börse gehandelten Aktien.

In der Praxis reduzierte sich die „Transformation“ nach und nach auf die Kategorie der „Rasse“. Der ANC wandelte sich von einer Partei der Armen und der Arbeiter zu einer Partei der schwarzen Mittelklasse. Herzstück der „Transformation“ ist das Gleichstellungsgesetz (Employment Equity Act) vom April 1999 sowie ein Gesetz zur umfassenden Förderung von schwarzen Südafrikanern in der Wirtschaft (Broad-Based Black Economic Empowerment Act/BEE) von 2003. Das Gleichstellungsgesetz betrifft alle Formen von Diskriminierung, auch die von Frauen und Behinderten.

Obwohl dieses Gesetz auch zugunsten von Frauen wirkt, wird es inzwischen so überwiegend zum Vorteil der schwarzen Bevölkerung ausgelegt, dass verschiedentlich der Vorwurf einer „Gegenapartheid“ laut wurde. Beim Versuch, die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit rückgängig zu machen, entfernt sich Südafrika immer mehr vom verfassungsgemäßen Verzicht auf rassische Diskriminierung. „Rasse“ ist in Politik und Rechtsprechung nach wie vor ein maßgebliches Kriterium und nicht etwa die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht oder zu einer der elf Sprachgemeinschaften Südafrikas.

In der Hauptsache entzünden sich die Konflikte um die „positive Diskriminierung“ aber daran, dass die Gesetze zur Verschleierung von Korruption und Vetternwirtschaft missbraucht werden. Diese Politik wurde bereits 1998 von Joel Netzhitenzhe angekündigt, einem engen Mitarbeiter von Präsident Mbeki, der später Regierungssprecher wurde: „Die Transformation des Staates besteht zuerst und vor allem darin, dafür zu sorgen, dass unsere Bewegung an sämtlichen Hebeln der Macht sitzt: in der Armee, der Polizei, der Bürokratie, bei der Lehrerschaft, in der Justiz, in den nichtstaatlichen Strukturen und in verschiedenen Institutionen wie dem staatlichen Rundfunk oder der Zentralbank.“8

Inzwischen häufen sich die Klagen über Klientelismus und Amtsmissbrauch. Eine Handvoll schwarzer Oligarchen mit guten Verbindungen zur Politik9 werden jedes Mal mit bedacht, wenn Aktien von Großunternehmen an Firmen übertragen werden, die sich in der Hand von schwarzen Südafrikanern befinden.10 Solche Praktiken entsprechen der Tendenz, die sich in vielen anderen afrikanischen Ländern abzeichnet und die der Entwicklung einer dynamischen Privatwirtschaft südlich der Sahara im Wege steht.11

Der Präsident und die Regierung Südafrikas setzen auch in anderen Bereichen der Politik verstärkt auf den afronationalistischen Diskurs, der sie pauschal gegen jede Kritik wappnen soll. Diese Haltung erklärt auch zum Teil Thabo Mbekis umstrittene Aids-Politik.11 Der Präsident hat mehrfach öffentlich bestritten, dass es einen Zusammenhang zwischen dem HIV-Virus und der Krankheit Aids gibt, und stattdessen die Ursachen für die Seuche in den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen seines Landes gesucht. Dadurch verhinderte er bis 2001 wirkungsvolle therapeutische und gesundheitspolitische Maßnahmen.

Mbeki hat seine Meinung inzwischen geändert. Aber seine Gesundheitsministerin Manto Tshabalala-Msimang empfiehlt als Therapie immer noch eine gesunde und ausgewogene Ernährung, vorzugsweise mit afrikanischen Kartoffeln – statt antiretroviraler Medikamente. Dabei ist die Katastrophe unübersehbar: Laut WHO sind zur Zeit über 5,3 Millionen Südafrikaner HIV-positiv, darunter 230 000 Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren. Ende 2004 wurden aber nur 47 000 bis 62 000 der infizierten Patienten mit antiretroviralen Medikamenten therapiert.

Der wirtschaftliche und politische Kurs des ANC unter Thabo Mbeki isoliert die Führung zunehmend von den früheren Verbündeten und von ihrer Basis. Seit 2000 äußert sich der Widerstand in Gruppen wie dem „Durban Social Forum“ (DSF) gegen Privatisierungen und dem „Soweto Crisis Comitee“, oder in kulturellen Initiativen wie der Federation of Afrikaans Cultural Associations and Solidarity.

Im Sommer 2005 gab es zahlreiche Demonstrationen gegen die Korruption und den desolaten Zustand öffentlicher Einrichtungen. Auf dem Lande begann die Revolte schon Mitte 2004, als es im Township Intabezwe (nahe Harrismith, Free State) zu spontanen Protesten gegen das Fehlen kommunaler Leistungen kam. Mitte März 2006 verweigerten im schwarze Getto Khutsong in der Nähe von Carletonville viele Wähler den Urnengang, weil der ANC hier seine Kandidaten durchzudrücken versuchte.

Seit Mbeki seinen Stellvertreter Jacob Zuma am 14. Juni 2005 wegen Korruptionsverdachts entlassen hatte, spitzte sich die politische Krise weiter zu. Verschiedentlich heißt es, dass Mbeki mit dieser autokratischen Beseitigung eines möglichen Konkurrenten den Bogen überspannt hat. Dem geschassten – und vor kurzem wieder eingesetzten – Vizepräsidenten gelang es, im ganzen Land Widerstand zu mobilisieren. Es war für ihn ein Leichtes, den Groll der Gewerkschaft Cosatu und der kommunistischen Partei SACP für sich zu nutzen.

Populistischer Konkurrent mit linkem Profil

Zuma profiliert sich in seinen öffentlichen Auftritten mit einigen links anmutenden Forderungen – ohne jedoch die Linke mit seinen Positionen insgesamt zu überzeugen. Er ist offensichtlich darauf aus, den Vorsitz des ANC und die Präsidentschaft des Landes zu erobern. Auf diesem Weg konnte er am 20. September einen Sieg verbuchen, als ein Richter die Korruptionsanklage gegen ihn mangels Beweisen abwies. Daraufhin wurde der populäre Politiker vor dem Gerichtsgebäude in Pietermaritzburg von tausenden seiner Anhänger gefeiert.

Innerhalb des ANC werden die Proteste gegen Mbeki immer lauter. Die Frauen- und Jugendliga des ANC stellt Mbekis Parteivorsitz offen in Frage. Bei den Lokalwahlen im März 2006 traten erstmals hunderte unabhängige Kandidaten gegen den ANC an. Zugleich droht der endgültige Bruch mit der kommunistischen Partei und dem Gewerkschaftsbund Cosatu. Mbeki versucht eine solche Entwicklung durch symbolische Zugeständnisse zu verhindern, zum Beispiel durch den Aufschub der Privatisierung von Staatsbetrieben.

Damit konnte er allerdings weder den heftigen Streit innerhalb der Partei beilegen noch seinen Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen. Als er in seiner Rede zu Ehren Nelson Mandelas eine „stärker mitfühlende“ Gesellschaft einforderte, gab es viele kritische Reaktionen, die darauf hinwiesen, dass dem vor allem die neoliberale Politik im Wege steht, die Mbeki selbst seit Jahren vorangetrieben hat.

Fußnoten: 1 Jahresbericht 2005 des United Nations Development Program, www.undp.org. 2 Charlene Smith, „Aids und sexuelle Gewalt in Südafrika“, Le Monde diplomatique, Januar 2006. 3 Sampie Terreblanche, „A History of Inequality in South Africa (1652–2002)“, Pietermaritzburg (University of Natal Press) 2002, S. 33. 4 Moeletsi Mbeki, „A growing gap between the black elite and the black masses? Elites and political and economic change in South Africa since the Anglo Boer War“, Die Vrye Afrikaan, 1. Juli 2005, www. vryeafrikaan.co.za/lees.php?id=267. 5 William Mervin Gumede, „ANC-woelinge oor meer as Mbeki, Zuma“, Die Vrye Afrikaan, 21. Oktober 2005. 6 Thabo Mbeki, „Letter from the President“, ANC Today, 26. November 2004, www.anc.org.za/anc docs/anctoday/2004/at47.htm. 7 www.anc.org.za/ancdocs/history/conf/con ference50/presaddress.html. 8 www.anc.org.za/ancdocs/pubs/umrabulo/arti cles/sprst.html. 9 Es handelt sich um Cyril Ramaphosa, Tokyo Sexwale et Saki Macozoma, die auch alle drei Mitglieder des ANC-Exekutivrats sind. 10 Siehe Stéphane Roman, „Introuvable capitalisme noir en Afrique du Sud“, Manière de voir 51, „Afriques en renaissance“, Mai/Juni 2000. 11 Moeletsi Mbeki, „Hoe om Afrika suid van die Sahara ekonomies op te hef“, Die Vrye Afrikaan, 3. September 2004. 12 Philippe Rivière, „Die zweite Apartheid heißt Aids“, Le Monde diplomatique, August 2002. Aus dem Französischen von Herwig Engelmann Johann Rossouw ist Philosoph und Schriftsteller und Redakteur der Zeitschrift Die Vrye Afrikaan in Durbanville, als deren Beilage die Afrikaans-Ausgabe von Le Monde diplomatique erscheint.

Le Monde diplomatique vom 13.10.2006, von Johann Rossouw