13.10.2006

Der UN-Menschenrechtsrat – ein halber Schritt nach vorn

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Der UN-Menschenrechtsrat – ein halber Schritt nach vorn

Die alte, umstrittene UN-Kommission wurde ersetzt. Das neue Gremium muss sich seine Autorität erst noch erstreiten von Philippe Texier

Am 16. Mai 2006 haben die Mitgliedsländer der Vereinten Nationen (UNO) nahezu einstimmig beschlossen, die alte UN-Menschenrechtskommission durch den UN-Menschenrechtsrat zu ersetzen. Von der seit langem geforderten1 großen Reform der UNO ist dies die einzige Neuerung, die bisher umgesetzt wurde. Nur die USA, Israel, die Marshallinseln und Palau stimmten dagegen, Weißrussland, Iran und Venezuela enthielten sich der Stimme. Damit war die 1946 gegründete Kommission abgeschafft, die wegen ihrer starken Politisierung und selektiven Verurteilungen viel Kritik auf sich gezogen hatte.2

Obwohl diese von vielen Seiten geäußerte Kritik nicht unberechtigt war, fällt die Bilanz der alten Kommission keineswegs negativ aus. Zunächst war sie ein hervorragendes Instrument zur Formulierung von Normen, vor allem der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, die zum Basistext für alle seither abgeschlossenen Konventionen, Abkommen und Verträge wurde. Anschließend beschäftigte sich die Kommission damit, den Inhalt der Menschenrechtserklärung zu konkretisieren, um so ein kohärentes, für alle Staaten verpflichtendes Normensystem zu schaffen.

Zwei wichtige Abkommen wurden 1966 verabschiedet: der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte3 . Die Kommission erarbeitete dann auf unterschiedlichen Gebieten mehr oder weniger zwingende Normen (Leitlinien oder Abkommen), etwa über Pressefreiheit oder über das Verbot von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, über Rechte von Kindern oder der Senioren und Behinderten.

So entstand auch die Unterkommission zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte, die sich aus unabhängigen Experten zusammensetzte. Sie spielte eine wichtige Rolle auch beim Anprangern von Missständen. Schließlich richtete die Kommission verschiedene Arbeitsgruppen ein und beauftragte spezielle länderbezogene und thematische Berichterstatter. So hat die Arbeitsgruppe Chile während der ersten Jahre der Diktatur General Augusto Pinochets durch Besuche vor Ort und ihre Berichterstattung zur Schwächung des Regimes beigetragen. Auch die Resolutionen zu Uruguay, Brasilien, Argentinien und Paraguay waren eine wichtige Hilfe für die Menschenrechtskämpfer in diesen Ländern.

Ähnliches gilt für die Rolle der Kommission im Kampf gegen die Apartheid in Südafrika. Im Übrigen konnten verschiedene Menschenrechtsvereinigungen, aber auch fast alle Freiheitsbewegungen (etwa die PLO oder der südafrikanische ANC) vor der Kommission ihre Standpunkte vorbringen. Trotz ihrer Grenzen galt die Menschenrechtskommission als Diskussionsforum, in dem solche Anliegen vorgebracht werden konnten. Überdies entwickelten die Berichterstatter nach und nach eine Balance zwischen den unumstrittenen bürgerlichen und politischen Rechten und den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten, die schon im Grundsatz von einigen angefochten wurden. Das gilt etwa für die Berichte zum Recht auf Wohnraum, auf Ernährung, auf Bildung oder auf Gesundheit, oder zu Themen wie extreme Armut und Strukturanpassung.

Die häufig kluge Auswahl der Sonderberichterstatter4 und ihre Befugnis, die Realität vor Ort in Augenschein zu nehmen, machte sie zu wertvollen Gehilfen der Kommission bei ihrer doppelten Aufgabe, einerseits die zu Unrecht bestrittenen Rechtsbegriffe zu vertiefen und andererseits ihre Anwendung durch alle Staaten zu überprüfen. Aber schon dies brachte einige Staaten dazu, die Abschaffung der länderbezogenen Berichterstatter zu fordern und Resolutionen abzulehnen, die ein Land namentlich erwähnen. Ohne Zweifel gehört dies zu den negativsten Auswirkungen der kritisierten „Politisierung“.

NGOs könnten wichtige Beiträge liefern

Die UN-Menschenrechtskommission, die sich aus 53 vom Wirtschafts- und Sozialrat der UNO (Ecosoc) gewählten Staaten zusammensetzte, war selbstverständlich ein politisches Organ. Häufig schlossen Staaten opportunistische bis absurde Bündnisse, um eine negative Resolution zu verhindern. Länderbezogene Resolutionen wurden schließlich abgeschafft und die Mandate zu „eifriger“ Sonderberichterstatter nicht erneuert. Und natürlich beeinflusste auch die wirtschaftliche oder politische Macht eines Staates die Entscheidungen der Kommission. Kein ständiges Mitglied des Sicherheitsrats wurde je von ihr verurteilt. Aber auch ein Land wie Kuba hat nie gezögert, sich mit den schlimmsten Diktaturen zu verbünden, um einer Verurteilung zu entgehen oder die Kritik an einem befreundeten Staat zu verhindern.

Alle bedeutenden Fortschritte der Kommission wären ohne den beständigen Kampf der Nichtregierungsorganisationen (NGO) nicht möglich gewesen. Doch deren Redezeit, Handlungsfreiheit und Möglichkeit, schriftliche Dokumente vorzulegen, wurden sukzessive eingeschränkt. Einigen Staaten wäre es am liebsten gewesen, wenn man sie zum Schweigen gebracht hätte. Allerdings waren auch einige NGOs in Wirklichkeit Regierungsorgane (auch „Gongos“ genannnt).

Welchen Platz werden die NGOs im neuen Rat einnehmen? Ihr Beraterstatus war bis heute durch den Ecosoc auf Grund der Artikel 68 und 71 der Charta der Vereinten Nationen festgelegt.5 Diese Bestimmungen müssten geändert werden und den NGOs müsste ein Beraterstatus bei der Generalversammlung zuerkannt werden, die ja den Rat beruft. Auch andere Probleme bleiben offen mangels einer Einigung unter den Staaten. Dazu gehören das Schicksal der Sonderberichterstatter, der Umgang mit individuellen Klagen und die Zukunft der Unterkommission für die Förderung und den Schutz der Grundrechte. Außerdem wird der Rat in seinem jährlichen Rechenschaftsbericht an die Generalversammlung Empfehlungen formulieren, deren rechtliche Tragweite nicht präzisiert wurde.6

Der Rat setzt sich aus 47 Staaten zusammen, die nunmehr für drei Jahre in direkter und geheimer Wahl mit einfacher Mehrheit von den Mitgliedern der Generalversammlung gewählt werden. Dabei sollen die einzelnen Kontinente angemessen vertreten sein. Die Wahlen fanden am 9. Mai 2006 statt. Alle ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates wurden gewählt, mit Ausnahme der USA, die nicht kandidierten. Etliche der gewählten Länder verletzten systematisch die Menschenrechte. Damit ist aber das wichtigste Kriterium in Frage gestellt, das bei der Qualifikation für diesen Rat zu beachten ist, nämlich die Verpflichtung auf die Menschenrechte, die der Rat gerade schützen soll.

Die Evaluierung der Kandidaten wurde keiner unabhängigen Einrichtung anvertraut, sondern den Staaten selbst. Zudem gibt es keine Kriterien für diese Evaluierung. Zwar kann die Generalversammlung jedes Ratsmitglied, das schwerwiegende und systematische Verletzungen der Menschenrechte begeht, mit einer Zweidrittelmehrheit suspendieren. Aber mangels Bewertungskriterien werden solche Entscheidungen ohne objektive Grundlage und nach politischen Zweckbündnissen fallen. Schließlich soll jeder Staat, der Mitglied des Rates ist, sich während seiner Mandatslaufzeit einer „regelmäßigen allgemeinen Überprüfung“ unterziehen. Doch auch die Modalitäten dieser Überprüfung stehen noch aus.

Der Menschenrechtsrat ist nicht, wie ursprünglich vorgesehen, ein zentrales UN-Organ mit einem dem Sicherheitsrat oder dem Ecosoc vergleichbaren Status. Er ist lediglich eines von mehreren Unterorganen der Generalversammlung und überdies keines, das ständig tagt. Er tagt mindestens dreimal pro Jahr über insgesamt mindestens zehn Wochen, während die alte UN-Menschenrechtskommission es jährlich auf nur sechs Wochen brachte – ein eher bescheidener Fortschritt.

Jährliche Berichte nach gleichen Kriterien

Die Funktionen des Rats unterscheiden sich kaum von denen der Kommission: Er soll die Achtung der Menschenrechte fördern und über deren Verletzung informieren, auf dringliche Situationen reagieren und die Arbeit des Büros des Hohen Kommissars für Menschenrechte der Vereinten Nationen kontrollieren. Aber da das neue Organ nicht mehr Macht hat als das alte und weder ständig tagt noch autonom agieren kann, ist die Reform auf halbem Weg stehen geblieben.

Als die interessanteste Neuerung könnte sich dagegen der regelmäßige Überprüfungsmechanismus erweisen. Künftig muss in allen UN-Mitgliedsstaaten die Situation der Menschenrechte nach einem gleichen Verfahren untersucht werden, wenn auch die Modalitäten und Kriterien dieser (regelmäßigen) Überprüfung ebenso wenig präzisiert sind wie die Informationsquellen und ihre Erschließung. Das Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte hatte vorgeschlagen, einen nach Themen gegliederten Jahresbericht vorzulegen. Ein solcher Bericht könnte auch von einer unabhängigen Expertengruppe erarbeitet werden, etwa nach dem Vorbild der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die auf diese Weise die Anwendung verschiedener Konventionen durch alle Mitgliedsländer überprüfen lässt. Dabei sollten auch die vorhandenen Sonderberichterstatter und Arbeitsgruppen eine Rolle spielen. Bleibt es beim jetzigen Zustand, könnte das selektive Funktionieren, das dem alten Mechanismus vorgeworfen wurde, kaum überwunden werden.

Ebenfalls ungeklärt blieb die Frage, ob die Überprüfung einen öffentlichen oder vertraulichen Charakter haben soll. Das frühere Verfahren einer vertraulichen Überprüfung von Staaten, denen schwerwiegende Verletzungen der Grundrechte vorgeworfen wurden (das sogenannte 1503-Verfahren6 ), wurde unisono kritisiert. Der neue Rat kann nur einen Fortschritt darstellen, wenn die Kompetenzen der Kommission bewahrt und sogar erweitert werden, vor allem, was die beachtliche Arbeit auf dem Gebiet der Normenkodifizierung betrifft. Hier hat die abrupte Abschaffung der Kommission dazu geführt, dass einige laufende Verfahren vorläufig eingestellt wurden, etwa die Arbeit an der internationalen Konvention für den Schutz vor dem Verschwindenlassen von Personen7 und an einem Freiwilligen Protokoll zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.

Für die Frage, ob der Rat ein wirksames Instrument sein will, gibt es einen entscheidenden Test: den Fortbestand der Unterkommission für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte, die einige Staaten gern abschaffen würden. Wichtig wird auch das weitere Schicksal der bisherigen Sonderberichterstatter und Arbeitsgruppen sein, außerdem, wie mit individuellen Klagen oder im Fall willkürlicher Inhaftierungen verfahren wird.

Vieles ist also noch offen, weshalb es falsch wäre, den Rat von vornherein zu verurteilen. Zwar wurde das neue Gremium überstürzt geschaffen, doch die Generalversammlung ist verpflichtet, sein Statut nach Ablauf von fünf Jahren nochmals zu überprüfen.

Fußnoten: 1 Siehe Samantha Power, „Vereint, entzweit und unverzichtbar“, Dossier 60 Jahre UNO, Le Monde diplomatique, September 2005. 2 Resolution 60/251: www.ohchr.org/french/bo dies/hrcouncil/index.htm. 3 Ihre Anwendung wird vom Menschenrechtsausschuss und vom Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte kontrolliert. 4 Die Sonderberichterstatter wurden vom Präsidenten der Menschenrechtskommission nach Konsultation des Büros ernannt. 5 Siehe dazu: „Aktivisten einer globalen Zivilgesellschaft“, in: Atlas der Globalisierung, Berlin (Le Monde diplomatique) 2006, insbesondere Grafik S. 75 unten rechts. 6 Aufgrund des radikalen Widerstands einiger Staaten, darunter den USA, wurde der Rat beträchtlich geschwächt. 7 Normalerweise sollte dieses Projekt vom neuen Rat im Juni 2006 und anschließend von der Generalversammlung im Dezember 2006 verabschiedet werden. Aus dem Französischen von Elisabeth Botsch Philippe Texier ist Mitglied im UN-Ausschuss über Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte.

Le Monde diplomatique vom 13.10.2006, von Philippe Texier