13.10.2006

Unruhe im globalen Kasino

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Unruhe im globalen Kasino

von Gabriel Kolko

Die Vertreter der klassischen ökonomischen Lehre gingen davon aus, dass eine liberalisierte und von allen staatlichen Hemmnissen befreite Weltwirtschaft ein sich selbst stabilisierendes System darstellt. Heute jedoch sind selbst die leidenschaftlichen Anhänger eines privatwirtschaftlich organisierten Kapitalismus immer weniger davon überzeugt, dass ökonomische Krisen vermieden werden können. Sie sind nicht einmal mehr in der Lage zu durchschauen, wie das Ganze funktioniert. Das heutige Weltfinanzsystem ist aufgrund seines Umfangs wie seiner Komplexität weit intransparenter und anfälliger als noch vor zwanzig Jahren.

Ein Beispiel: Noch vor wenigen Jahrzehnten entsprach das Volumen der täglichen Devisentransaktionen dem Kapital einer US-amerikanischen Großbank; heute ist dieses Volumen so groß wie der Kapitalwert von hundert US-Banken. Die Freibeuter der Finanzmärkte erfinden immer neue „Finanzprodukte“, die das internationale Bankensystem und die Nationalstaaten vor immer neue Probleme stellen. Im Mai 2006 beklagte Rodrigo de Rato, Generaldirektor des Internationalen Währungsfonds (IWF), die damit einhergehenden Risiken, die durch die Dollarschwäche und das US-Handelsbilanzdefizit noch verschärft werden.

Diese Befürchtungen zeigen, dass der IWF sowohl strukturell wie auch intellektuell in eine Krise geraten ist. Strukturell verringerten sich seine Außenstände (an Darlehen und Krediten) zwischen 2003 und Ende Juli 2006 von 70 Milliarden auf 20 Milliarden Dollar. Entsprechend schrumpften sein Einfluss auf die Wirtschaftspolitik der Entwicklungsländer, aber auch seine Einnahmen, die heute nicht mehr die hohen Betriebskosten decken. Der IWF sieht sich nach eigenem Bekunden „quantitativ marginalisiert“.1 Seine Schwierigkeiten erklären sich großenteils daraus, dass die Weltmarktpreise für wichtige Rohstoffe (Erdöl, Kupfer, Silber, Zink, Nickel) sich seit 2003 verdoppelt haben. Diese Entwicklung erlaubte es den Rohstoff exportierenden Entwicklungsländern, ihre Schulden vorzeitig zurückzuzahlen, was dem IWF wichtige Einnahmequellen entzieht.

Die Rohstoffpreise werden wegen der steigenden Nachfrage aus den rasch wachsenden Volkswirtschaften Chinas, Indiens und anderer Schwellenländer weiter steigen. Was die Auslandsaktiva betrifft, so hat sich die Position der USA weiter verschlechtert: Insbesondere Japan, die asiatischen Schwellenländer und die Erdöl exportierenden Staaten haben dank ihrer wirtschaftlichen Stärke ihre Gläubigerrolle gegenüber Washington weiter ausgebaut. Das Handels- und das Zahlungsbilanzdefizit der USA hat auch den Dollar in den Keller gedrückt. Von 2001 bis 2005 hat er gegenüber dem Euro um 28 Prozent an Wert verloren.

Auch intellektuell befinden sich IWF und Weltbank in der Defensive, seit Ostasien, Russland und andere Länder zwischen 1997 und 2000 von Finanzkrisen erschüttert wurden. Etliche führende IWF-Mitglieder können sich nicht mehr auf die Prämissen der klassischen Wirtschaftstheorie verlassen, an der sich ihre Politik bisher orientierte. Viele räumen inzwischen ein, dass ihr „Wissen vom Wirtschaftswachstum äußerst begrenzt ist“, und empfehlen „mehr Bescheidenheit“. Wie Stephen Roach, der Chefökonom der Morgan Stanley Bank, mahnt, hat die Welt kaum etwas getan, „um sich auf die möglicherweise ins Haus stehende Krise vorzubereiten“2 .

Doch das gesamte Weltfinanzsystem hat sich auf so radikale Weise verändert, dass es keinerlei Bezug mehr hat zu jener Art „tugendhafter“ nationaler Wirtschaftspolitik, die sich an den Empfehlungen des IWF orientiert. Die Portefeuille-Manager der Investmentfonds und die weltweit agierenden Großbanken haben den nationalen Zentralbanken und den internationalen Organisationen den Rang abgelaufen. Risikobereite Trader verdrängen die vorsichtigeren Banker, weil sich im Handel mit Aktien, Obligationen und Finanzderivaten3 maximale Gewinne erzielen lassen. Höhere Risikobereitschaft ist damit die Regel geworden: Trader werden auf der Basis bekannt gegebener Gewinne fiktiver oder realer Natur entlohnt und jonglieren häufig gewagt mit den Geldeinlagen ihres Instituts. Das niedrige Zinsniveau und die Bereitschaft vieler Banken, Kredite an hochspekulative Hedgefonds und an Geldinstitute zu vergeben, die auf Fusions- und Akquisitionsfinanzierung spezialisiert sind, verschaffte den Tradern im Kasino der Finanzmärkte alle erdenkliche Handlungsfreiheit. In den USA wie auch in Japan und anderen Regionen haben Trader eine Reihe mehr als zweifelhafter Fusionen ausgekocht, die früher als halsbrecherische Unternehmungen gegolten hätten.

Im Rahmen einer kreditfinanzierten Rekapitalisierung („leveraged recapitalisations“4 ) genehmigen sie sich zuweilen enorme Honorare und Dividenden, während das Unternehmen auf mehr Schulden sitzen bleibt.

Seit Anfang 2006 vergeben die Investmentbanken mehr und mehr Kredite zur Akquisitionsfinanzierung und verdrängen damit die Handelsbanken aus einem Markt, der bislang deren Domäne war. Um sich Marktanteile zu sichern, stürzen sie sich in immer riskantere Operationen, befindet auch der für die Qualitätsprüfung von Bankdarlehen verantwortliche Manager bei dem Rating-Unternehmen Standard & Poor’s. Und auch die Financial Times prophezeit „einen deutlichen Anstieg der Zahl hochverschuldeter Unternehmen, die ihre Zahlungen einstellen müssen“5 .

Die Lage ist offenbar bereits so beunruhigend, dass der IWF im März dieses Jahres ungewohnt eindringlich für eine neue Publikation von Garry J. Schinasi warb, die den Titel „Safeguarding Financial Stability“ trägt. Das alarmierende Buch dokumentiert die Befürchtungen des IWF mit vielen Details. Nach Schinasi hat sich die „Entregulierung und Liberalisierung“, für die der IWF und die Wortführer des „Washingtoner Konsens“7 seit Jahrzehnten eintreten, zu einem Albtraum entwickelt. Zwar habe diese Politik „für Gesellschaft und Einzelne phänomenale Vorteile“8 gebracht, jedoch berge sie auch ein „Potenzial von Krisenanfälligkeit, Instabilität, Systemrisiken und nachteiligen wirtschaftlichen Folgen“.

Das hervorragend dokumentierte Buch kommt zu dem Schluss, die irrationale Entwicklung der globalisierten Finanzströme habe im Verein mit Deregulierung und Liberalisierung den „Spielraum für Finanzinnovationen eröffnet und die Mobilität der Risiken erhöht“. Garry J. Schinasi und der IWF befürworten einen radikal neuen Rahmen für die Beobachtung und Verhütung der Probleme, die auf uns zukommen können. Wie erfolgreich die neuen Methoden sein werden, hänge dabei von politischen Maßnahmen und einer strengen Marktüberwachung ab, aber ebenso sehr „von einer gehörigen Portion Glück“. Doch die klassische Ökonomie hat uns mehr versprochen, als auf das Glück zu vertrauen.

Noch alarmierender klingt eine gleichzeitig erschienene und ebenfalls vom IWF empfohlene Studie, die einige Finanzexperten über die zahllosen Probleme im Gefolge der Liberalisierung des Weltfinanzsystems verfasst haben. Die Autoren gelangen zu dem Schluss, im Zuge dieser Entwicklung seien die nationalen Finanzsysteme „immer anfälliger für das erhöhte Systemrisiko und die wachsende Zahl von Finanzkrisen“ geworden.9

Der Finanzcrash in Argentinien 1998 hat gezeigt, dass Regierungen, die dem Druck von IWF und Banken widerstehen, die Widersprüche zwischen IWF-Mitgliedstaaten und IWF ausnutzen und wenn nicht alle, so doch die meisten der Forderungen des Auslands umgehen können. Als Argentinien Ende 2001 alle Zahlungen einstellte, waren die 140 Milliarden Dollar an Staatsobligationen verloren, die Privatbanken und der IWF gehalten hatten. Die Rechnung für diesen größten Staatsbankrott aller Zeiten mussten am Ende die Banken zahlen, die Argentinien zuvor mit Krediten überhäuft hatten.

Aufstieg der Schwellenländer

Seitdem sind die Rohstoffpreise kräftig gestiegen. Die Schwellenländer in Südostasien, einschließlich China, und Lateinamerika erzielten in den letzten zwei Jahren doppelt so hohe Wachstumsraten wie die reichen Länder. 2003 stammten aus diesen Ländern bereits 37 Prozent der Auslandsdirektinvestitionen (ADI) in Entwicklungsländern. Ein Gutteil dieses Wachstums geht auf das Konto Chinas, was heißt: Der IWF und die Banker in New York, Tokio und London haben heute weit weniger Einfluss als noch vor wenigen Jahren. Obwohl die Banken im Gefolge der Finanzkrisen in den Schwellenländern gegen Ende der 1990er-Jahre den löblichen Vorsatz fassten, in Zukunft mehr Vorsicht walten zu lassen, sind sie heute wegen der hohen Renditen (etwa auf den Philippinen oder in Sambia) wie auch wegen der überschüssigen Liquidität noch stärker von den Aktien- und Obligationenmärkten dieser Länder abhängig. „Die Liebesaffäre geht weiter“, kommentiert dies ein Trader.10

Die zunehmende Komplexität der Weltwirtschaft und der stockende Verlauf der WTO-Verhandlungen über den Abbau von Subventionen und Schutzzöllen haben bislang verhindert, dass ein umfassendes Freihandelsabkommen zustande kommt und die Gefahr von Handelskriegen endgültig überwunden ist.

Diese Finanzproblematik auf globaler Ebene hängt unentwirrbar mit dem sich ausweitenden Handelsbilanz- und Budgetdefizit der USA zusammen. US-Präsident George W. Bush hat die Schuldenaufnahme der Bundesregierung seit seinem Amtsantritt 2001 um mehr als 3 000 Milliarden Dollar auf derzeit 9 000 Milliarden Dollar erhöht. Solange die Abwertung des Dollars anhält, werden Banken und Trader versuchen, ihr Geld zusammenzuhalten, was abenteuerliche Finanztransaktionen im internationalen Raum immer attraktiver macht. Allerdings hat sich Washington schon vor der Abwärtsbewegung des Dollars für eine Deregulierung der Finanzmärkte stark gemacht.

Heute gibt es mindestens 10 000 Hedgefonds, vier von fünf davon sind auf den Kaimaninseln beheimatet. Dabei werden 80 Prozent der Transaktionen von nur 400 dieser Fonds getätigt. Jeder von ihnen verfügt über ein Portefeuille von über einer Milliarde Dollar. Derzeit gibt es keinerlei Mittel, um diese Spekulationsfonds zu überwachen, die Aktiva in Höhe von 1 500 Milliarden Dollar halten. Ihr Tagesumsatz mit globalen Finanzderivaten beläuft sich auf knapp 6 000 Milliarden Dollar, das entspricht der Hälfte des Bruttosozialprodukts der USA. In der euphorischen Stimmung der vergangenen fünf Jahre haben die meisten Hedgefonds Gewinne erwirtschaftet, einige allerdings auch Bankrott gemacht. Von August 2005 bis August 2006 wurden 1 900 neue Hedgefonds aufgelegt und zugleich 575 liquidiert. Die Rating-Agentur Standard & Poor’s würde ihre Kreditwürdigkeit gern bewerten, hat dies aber noch nicht geschafft. Die größten Hedgefonds stützen sich bei ihren Transaktionsentscheidungen auf Computermodelle.

Im Herbst 1998 schlitterte die Weltwirtschaft an einer der schwersten Krisen vorbei, als der LTCM-Fonds bankrottging, der sich rühmte, mit mathematischen Modellen der beiden Nobelpreisträger Myron Scholes und Robert Merton zu arbeiten.11 Damals konnten Washington und die Wall Street das Desaster mit vereinten Kräften abwenden. Doch beim heutigen Volumen der Spekulationsfonds wären solche Sanierungsmanöver nicht mehr so leicht möglich.

Hedgefonds sind ausgesprochen aggressive Konkurrenten und ihre Manager wahre Spielernaturen, die von Kreditderivaten12 und ähnlichen Renditemaschinen fast magisch angezogen werden. Der Markt für solche Finanzprodukte entwickelte sich recht schleppend, aber allein von 2004 bis Ende 2005 hat sich sein Volumen von 5 000 Milliarden Dollar mehr als verdreifacht, auf 17 300 Milliarden Dollar. Kreditderivate gibt es in zwei Formen, als Credit Default Swap, die wie eine Versicherung funktionieren13 , und als Asset Backed Securities (ABS), die eher der klassischen Anleihe entsprechen.

Doch was diese Derivate eigentlich sind, konnte auch Gillian Tett, leitende Redakteurin der Abteilung Kapitalmärkte bei der Financial Times nicht in Erfahrung bringen. Sie fand Folgendes heraus: Das Produkt wurde vor rund zehn Jahren bei einem Treffen von Führungskräften der J. P. Morgan Bank in Boca Raton (Florida) erfunden. Man suchte nach einem neuen Finanzinstrument, das hohe Renditen abwirft und komplex genug ist, um Nachahmer abzuschrecken, denn für Finanzprodukte gibt es kein Copyright. Nach einigen Cocktails hatte man die zündende Idee.

Gillian Tett sieht die neuen Derivate äußerst kritisch, da sie eine Kettenreaktion befürchtet, die sämtliche auf diesem Gebiet aktiven Spekulationsfonds in den Abgrund reißen könnte: „In diesen Zeiten hoher Liquidität“ seien die Banker „überaus kreativ in ihren Bemühungen, Risiken in Scheibchen und Würfel zerlegt weiterzureichen“. In den letzten Monaten veröffentlichte die einflussreiche Wirtschaftszeitung eine ganze Artikelserie über diese Art von „Finanzmagie“, in der Sinn und Zweck solcher Innovationen äußerst skeptisch beurteilt wurden.14

Das niedrige Zinsniveau bringt die Anleger dazu, mit geliehenem Geld auf den Märkten zu spielen, meint der Finanzguru Avinash Persaud. Allerdings sei ein drastischer Abbau der Verschuldungsrate „so sicher wie der nächste Tag – fragt sich nur, wann es so weit sein wird“. Für die Hedgefonds rücke die Stunde der Wahrheit unerbittlich näher. Dann würden sie gezwungen sein, „ihre liquidesten Investitionen abzustoßen“. Gillian Tett analysierte einige verspätete Versuche, die Hedgefonds vor ihren eigenen Wahnsinnsaktionen zu retten, und kam dabei zu dem Schluss: „Auf einen glücklichen Ausgang würde ich nicht setzen.“15

Der US-Investor Warren Buffett, ein unübertroffener Kenner der Finanzmärkte, qualifiziert Kreditderivate als „Massenvernichtungswaffen“. Obwohl sie eigentlich als Versicherung gegen Zahlungsausfälle konstruiert seien, spornten sie nur zu noch riskanteren Operationen an und verschärften damit die Versuchung, die mit jeder Kreditausweitung verbunden ist. Der US-Konzern Enron16 arbeitete in großem Maßstab mit solchen Kreditderivaten, die das Geheimnis seines Erfolgs wie seines Bankrotts waren. Der folgte auf den Verlust von 100 Milliarden Dollar. Die undurchsichtigen Kreditderivate unterliegen keiner effektiven Kontrolle. Etliche der innovativen „Produkte“, so ein Finanzdirektor, „existieren nur im Cyberspace und dienen allein dem Zweck, den Reichsten der Reichen“ Steuern zu ersparen.17

In Wirklichkeit wissen nicht einmal die Führungsetagen der Banken und Börsenaufsichtsbehörden, wer bei diesen Derivaten welchen Anteil des Risikos trägt und „wer was besitzt“. Die Fonds beteuern zwar ihre ehrlichen Absichten. Doch da sich die Honorare nach den erzielten Gewinnen richten, ist eine erhöhte Risikobereitschaft programmiert.

Auch wenn wir die fortbestehenden Budgetdefizite außer Acht lassen, die auf steigende Staatsausgaben und Steuererleichterungen für die Reichsten zurückgehen, bleibt die Instabilität der Finanz- und Rohstoffmärkte. Sie hat dafür gesorgt, dass die Rendite der Spekulationsfonds im Mai 2006 auf den niedrigsten Stand seit über einem Jahr gesunken ist.

Dass die Probleme struktureller Natur sind, zeigt die Relation zwischen unternehmerischer Neuverschuldung und Eigenkapital, die sich im vorigen Jahr von 4:1 auf 6:1 verschlechterte. Das liegt auch daran, dass die rechtlichen Instrumente abgebaut wurden, die dafür sorgen, dass Unternehmen bankrottgehen, wenn es angebracht ist. Solange die Zinssätze niedrig waren, galt die kreditfinanzierte Übernahme durch externe oder interne Investoren als Patentrezept zur Sanierung maroder Unternehmen.18 Mit den Hedgefonds und ähnlichen Finanzinstrumenten gibt es nun einen Markt für schlecht geführte und überschuldete Unternehmen. Anfang September 2006 gab die Ford Motor Company bekannt, dass sie jährlich 7 Milliarden Dollar verliert. Daraufhin schoss der Börsenkurs um 20 Prozent in die Höhe. Nicht einmal die einst als ehern geltenden Gesetze des Kapitalismus scheinen mehr zu gelten.

Die fast surrealistisch anmutenden Probleme hängen auch mit der Geschwindigkeit und Komplexität der Finanztransaktionen zusammen. Ende Mai enthüllte die International Swaps and Derivatives Association, dass jede fünfte (oft milliardenschwere) Transaktion mittels Kreditderivaten fehlerhaft war, wobei die Regel galt: je mehr Geld im Spiel, desto größer die Fehler. Über 90 Prozent der Verträge wurden auf einem Papier notiert (das häufig auch nur ein Notizzettel war) und nicht ordnungsgemäß protokolliert.

Unzulängliche Kontrollmechanismen

Der ehemalige US-Zentralbankchef Alan Greenspan äußerte sich nach diesem Befund „ehrlich schockiert“. Erste Bemühungen, diesen Saustall auszumisten, begannen aber erst im Juni dieses Jahres. Die aufgelaufenen Riesenprobleme sind noch längst nicht gelöst, obwohl ungeheure Summen auf dem Spiel stehen. Durch die Entregulierung und Ausdifferenzierung der Finanzinstrumente werden wichtige Daten nicht mehr gesammelt und quantifiziert, sodass Banker und Regierende sich kein realistisches Bild mehr machen können. Wenn es stimmt, dass wir in eine „neue Finanzära“ eingetreten sind, schreiten wir jedenfalls mit verbundenen Augen voran.

Morgan-Stanley-Chefökonom Stephen Roach hat am 24. April dieses Jahres geschrieben, dass wir auf eine größere Finanzkrise zusteuern, wobei die globalen Institutionen, die diese Krise verhindern sollen – also IWF, Weltbank und andere Institutionen der internationalen Finanzarchitektur – für diese Aufgabe völlig unzureichend ausgestattet seien.19 Anfang Juni warnte Donald Tsang, der Verwaltungschef von Hongkong, vor den von Hedgefonds ausgehenden Gefahren. Auch der unorthodoxe IWF-Chefökonom Raghuram Rajan wies darauf hin, dass die Honorarstruktur von Spekulationsfonds die Entscheidungsträger ermutige, immer höhere Risiken einzugehen und damit das gesamte Finanzsystem in Gefahr zu bringen. Stephen Roach äußerte sich Ende Juni noch pessimistischer: Bei akademischen Experten wie bei den Politikern dominiere „ein gewisses Gefühl der Anarchie“, und niemand sei in der Lage, „zu erklären, wie die neue Welt funktioniert“.20

Vor kurzem meinte auch der IWF, eine ernsthafte Verlangsamung des Weltwirtschaftswachstums sei seit 2001 nicht mehr so wahrscheinlich gewesen wie heute, vor allem wegen der Einbrüche auf dem Immobilienmarkt in den USA wie in vielen Teilen Westeuropas. Als weitere Gründe nannte Roach die sinkenden Realeinkommen der US-amerikanischen Arbeiter und eine unzureichende Kaufkraft.21 Doch auch wenn sich all diese Prognosen und Befürchtungen als falsch herausstellen würden, bleibt die Transformation des Weltfinanzsystems eine Realität, die früher oder später fatale Folgen haben wird.

Nach der Beschreibung der zitierten Experten entwickeln sich „Umfang und Wirkungsweise“ der internationalen Finanzmärkte, ja ihre ganze „Architektur“ ungeregelt und planlos, und die Regulierung dieser Märkte ist „unwirksam“ bis nicht existent.22 Nachdem man alle Restriktionen für das Weltfinanzsystem aufgehoben hat, ging man davon aus, dass die traditionellen Marktgesetze in Kraft treten. Das ist nicht geschehen.

Die Liberalisierung der Finanzmärkte hat ein Monster hervorgebracht, und diejenigen, die alle Kontrollen der Profitmacherei abschaffen wollen, sind gewiss am wenigsten geeignet, die zahlreichen Probleme zu lösen, vor denen wir heute stehen. Im jüngsten Jahresbericht der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) werden all diese Fragen erörtert, einschließlich der Durchsetzung eines ökonomischen Raubtierverhaltens, das „sich nur schwer rational begründen“ lasse.

Ökonomisches Raubtierverhalten

Die Finanzhaie haben die traditionellen Banker ausgetrickst. „Angesichts der komplexen Lage und unseres begrenzten Wissens ist es außerordentlich schwer, den Ausgang der derzeitigen Entwicklung vorherzusagen“23 , erklärt die BIZ. Sie möchte keine Panik auslösen und schlägt deshalb keine alarmistischen Töne an. Doch immerhin sieht sie die Möglichkeit eines „Big Bang“, der die Finanzmärkte erschüttern könnte, und räumt ein, es gebe „verschiedene marktspezifische Gründe für eine Besorgnis über einen gewissen Grad von Unordnung“.

Nach diesem BIZ-Bericht ist ein Zusammenbruch der Märkte derzeit nicht sehr wahrscheinlich, doch gebiete es die Vorsicht, „das Beste zu hoffen, aber auf das Schlimmste vorbereitet zu sein“. Da die globale Wirtschaftsentwicklung und die „finanziellen Ungleichgewichte“ der letzten zehn Jahre ein höheres Gefährdungspotenzial erzeugt haben, sei es „von wesentlicher Bedeutung, die Gründe dieser Entwicklung zu verstehen, um geeignete Maßnahmen zur Reduzierung der aktuellen Gefahren ergreifen zu können“24 .

Die BIZ ist also stark beunruhigt. Die Hyänen der Investmentbanken und -gesellschaften verstehen derlei Pessimismus als Aufforderung, weitere Finanzinstrumente zu erfinden, um von der unmittelbar bevorstehenden Wirtschaftskatastrophe profitieren zu können – eine Krise, die in ihren Augen sicher kommen wird, unklar sei nur, wann. Denn die Analysten der Finanzmärkte sind sich zunehmend einig, dass es in naher Zukunft deutlich mehr zahlungsunfähige Unternehmen geben wird. Doch weil man genau damit Geld machen kann, herrscht an der Wall Street derzeit eine große Nachfrage nach Experten, die sich auf angeschlagene Firmen und die Umstrukturierung bankrotter oder insolventer Unternehmen spezialisiert haben.

Doch in der Diagnose herrscht zunehmend Einigkeit zwischen denen, die dieses System unterstützen, und denen, die den Status quo für unmoralisch und krisenhaft halten. Glaubt man den Institutionen und Persönlichkeiten, die den Kapitalismus an vorderster Front verteidigt haben, stehen dem heutigen System ernsthafte Krisen bevor.

Fußnoten: 1 „IMF Survey“, New York, 29. Mai 2006, S. 147; „IMF in Focus“, New York, September 2006. S. 11. 2 Roberto Zagha u. a., „Rethinking Growth“, Finance & Development, Washington D.C., März 2006, S. 11; Stephen Roach, Global Economic Forum, Morgan Stanley, New York, 16. Juni 2006. 3 Derivate sollen gegen Preis- oder Kursrisiken schützen und sind u. a. im Rohstoff-, Devisen-, Aktien- und Obligationenhandel anzutreffen. Aufgrund der eingebauten Hebelwirkung lassen sich Derivate aber nicht nur zur Absicherung gegen Wertverluste, sondern auch zur Spekulation verwenden. Dazu Ibrahim Warde, „La dérive des nouveaux produits financiers“, Le Monde diplomatique, Juli 1994. 4 Solche Kapitalerhöhungen ermöglichen es, bilanztechnisch hohe Gewinne auszuweisen, auf deren Basis sich dann die Honorare und Dividenden der Spekulanten bemessen. 5 Financial Times, 17. Juli bzw. 14. August 2006. 6 Garry J. Schinasi, „Safeguarding Financial Stability: Theory and Practice“, IWF, New York, 2006. 7 Der Ausdruck wurde 1989 von dem Ökonomen John Williamson geprägt und bezeichnet die „Empfehlungen“ an überschuldete Staaten, darunter Steuersenkungen, Abbau von Handelsbarrieren, Privatisierung staatseigener Unternehmen und Deregulierung der Finanzmärkte. Der IWF macht seine Kredite von der Durchführung dieser Maßnahmen abhängig. 8 Dieses und die folgenden Zitate stammen aus Garry J. Schinasi, siehe Fußnote 6. 9 Alexander Kern, Rahul Dhumale, John Eatwell, „Global Governance of Financial Systems: The International Regulation of Systemic Risk“, Oxford (Oxford University Press) 2005, S. 22 ff. 10 Siehe Financial Times, 27. Juli 2006. 11 Der LTCM hielt bei einem Eigenkapital von 5 Milliarden Dollar ein Portfolio von 100 Milliarden Dollar. Um einen Zusammenbruch der Märkte zu verhindern, schoss die US-Zentralbank 3,6 Milliarden Dollar ein. 12 Wie bei allen anderen Derivaten spekulieren die Trader hier mit Risikovorhersagen, nur werden in diesem Fall Verbindlichkeiten (Obligationen, Schulden usw.) gehandelt. 13 Der Verkäufer verpflichtet sich, als Gegenleistung für seine Prämie dem Kunden bei Zahlungsausfällen oder bei einer Verschlechterung der Kreditwürdigkeit seiner Schuldner Ersatz zu leisten. 14 Gillian Tett, „The dream machine“, The Financial Times Magazine, London, 24./25. März 2006, sowie: The Financial Times, 10. und 19. Juli 2006, 14., 24. und 29. August 2006. 15 Financial Times, 23. und 24./25. Juni 2006. 16 Dazu Tom Franck, „Enron: Elvis singt hier nicht mehr“, Le Monde diplomatique, Februar 2002. 17 Financial Times, 17. Juli 2006. Siehe auch die Ausgaben vom 31. Mai und 8. Juni 2006. 18 Beim Leveraged Buy Out (LBO) übernimmt das eigene Management das Unternehmen, beim Leveraged Buy In (LBI) springen Fremdinvestoren ein. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass die Übernahme mit ganz geringem Eigenkapital stattfindet. Der Löwenanteil wird mit Krediten finanziert, deren Zinssatz unter der erwarteten Rentabilität des Unternehmens liegt. 19 Global Economic Forum, Morgan Stanley, 24. April 2006. 20 Global Economic Forum, Morgan Stanley, 23. Juni und 5. September 2006. 21 Financial Times, 6. September 2006. 22 Siehe Fußnote 9. 23 Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, 76th Annual Report, Basel, 26. Juni 2006. 24 Siehe Fußnote 23. Aus dem Französischen von Bodo Schulze Gabriel Kolko ist Historiker und veröffentlichte zuletzt „Another Century of War?“ (New York 2004) und „The Age of War“ (Bouldner, Lynne Rienner Pub., 2006).

Le Monde diplomatique vom 13.10.2006, von Gabriel Kolko