12.11.2010

Unter Druck

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Unter Druck

Warum die Franzosen protestieren von Danièle Linhart

Frankreichs Massenproteste gegen die Erhöhung des Rentenalters von 60 auf 62 Jahre finden in der Öffentlichkeit breite Zustimmung. Das zeigt nicht nur, wie wenig Verständnis die Franzosen für derartige Einschnitte haben, es verrät darüber hinaus einiges über den zunehmenden Druck durch die Modernisierung des Arbeitsalltags.

Die Demonstrationen machen deutlich, wie viele Menschen sich von den heutigen Aufgaben des Arbeitslebens überwältigt fühlen. Ein großer Teil der abhängig Beschäftigten zweifelt heute an der eigenen Fähigkeit, den beruflichen Alltag auf Dauer durchzustehen. Die Angst, irgendwann zusammenzubrechen, bringen die Spruchbänder auf den Demonstrationen unmissverständlich zum Ausdruck: „Lieber gleich krepieren, bevor einen die Arbeit umbringt!“; „Wir wollen ein Leben nach der Arbeit!“ Deutlicher kann man den eigenen Überdruss kaum formulieren.

Dabei haben die neuen Technologien die körperliche Schwerarbeit weitgehend abgeschafft. Mehr als zwei Drittel der abhängig Beschäftigten in Frankreich sind im Dienstleistungsbereich tätig, und die gesetzliche Arbeitszeit ist theoretisch auf 35 Wochenstunden beschränkt. Dennoch verfestigt sich bei vielen der Eindruck, dass die Arbeit einem heutzutage wertvolle Lebenszeit raubt.

Niemand soll sich wohlfühlen

Es sind eben nicht nur die zwei zusätzlichen Arbeitsjahre, welche diesen deprimierenden Eindruck verstärken. Die Spruchbänder von heute erinnern sehr an die Parolen vor 40 Jahren: „Den Lebensunterhalt verdienen soll uns nicht das Leben kosten“ hieß es im Mai 1968 beim großen dreiwöchigen Generalstreik, als die französischen Arbeiter für soziale Verbesserungen kämpften. Seither hat sich trotz digitaler Revolution und postindustriellem Wandel die Situation kaum gebessert – vielleicht sogar noch verschlechtert. Aus einem anderen berühmten Motto der 1968er über die Entfremdung der Arbeit – „Métro, boulot, dodo“ (Metro, Maloche, Schlaf) – ist die drastische Steigerung „Métro, boulot, tombeau“ (Metro, Maloche, Grab) geworden.

Die Franzosen wehren sich gegen den wachsenden Stress im Arbeitsalltag: lange oder biorhythmisch ungünstige Arbeitszeiten, die zu Schlafstörungen führen, ermüdende, monotone Tätigkeiten, die permanente Verfügbarkeit über E-Mail und Handy, zunehmende Muskelerkrankungen, wirtschaftliche Unsicherheit, der Druck durch Kunden und ständig steigende Leistungsanforderungen. All diese Aspekte, die den Arbeitsalltag in offensichtlich zunehmendem Maß erschweren, werden nun endlich auch öffentlich diskutiert.

Angst vor und bei der Arbeit haben die Franzosen noch aus anderen Gründen: Viele haben das Gefühl, dem beruflichen Alltag nicht gewachsen zu sein, in dem sie von den Vorgesetzten permanent unter Druck gesetzt werden. Sie leiden darunter, dass man ihnen zu verstehen gibt, dass keine Leistung jemals gut genug ist und dass man sich immer wieder aufs Neue selbst übertreffen muss. Zielvorgaben erscheinen häufig unerfüllbar, zumal sie von Vorgesetzten kommen, die durch die eigene Überforderung oft selbst nicht mehr wissen, was ihre Untergebenen eigentlich tun. Um sich gegenüber den Angestellten durchzusetzen und deren letzte Reserven zu mobilisieren, betreibt das moderne Management ein System der permanenten Verunsicherung. Dazu gehört ein Klima der Feindseligkeit im Betrieb. Die Angestellten sollen sich im Unternehmen nicht zu sehr wohlfühlen. Man will tunlichst verhindern, dass sie zu Kollegen, Vorgesetzten oder gar zu Kunden ein komplizenhaftes Verhältnis aufbauen oder auf die Idee kommen könnten, die Organisation ihrer Arbeitsabläufe selbst in die Hand zu nehmen. Daher auch die ständigen Umstrukturierungen und häufigen Versetzungen, die den Aufbau und die Pflege beruflicher Netzwerke sabotieren. Die Verhältnisse bei France Télécom, wo seit 2008 Dutzende Angestellte wegen der unerträglichen Arbeitsbelastung sich selbst töteten und Mobbing ein Teil des Systems war, sind in dieser Hinsicht durchaus symptomatisch.

In einem Umfeld, in dem die Arbeitsabläufe ständig komplexer werden und die wirtschaftliche Unsicherheit zunimmt, bieten die im Laufe eines Arbeitslebens gemachten Erfahrungen nur noch selten Schutz. Es genügt auch nicht mehr, die Zielvorgaben zu erfüllen. Um das Vertrauen des Vorgesetzten zu gewinnen, muss man dessen Erwartungen stets übertreffen. Daraus ergibt sich die Willkür jener Evaluierungen, die heute die meisten großen Unternehmen für unverzichtbar halten: Zwar wird den Mitarbeitern ständig vermittelt, dass die Vorgaben übertroffen werden müssen, aber sie erfahren nicht, um wie viel Prozent oder mit welchen Mitteln dies geschehen soll.

Bei Befragungen erzählen viele Angestellte, dass sie ständig das Gefühl haben, ihr Arbeitsalltag sei ein einziger Drahtseilakt und dass sie nur durchhalten, wenn sie immer alles geben. Sie fühlen sich als Einzelkämpfer und glauben, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen können. Hierarchische Strukturen erleichtern nicht mehr die Orientierung, sondern dienen dazu, den Spielraum jedes Einzelnen möglichst klein zu halten. Gemäß der herrschenden Logik der Individualisierung ist jeder Kollege in erster Linie ein Konkurrent. Wer sich eine Blöße gibt, muss damit rechnen, dass andere sie ausnutzen.

Eine Besonderheit moderner Arbeitsverhältnisse besteht in dem unmittelbaren Nebeneinander von fließbandartiger Arbeitsorganisation und der Aufforderung an die Angestellten, sich kreativ einzubringen. Die Callcenter sind ein gutes Beispiel für diesen systematisch eingesetzten Zielkonflikt. Hier arbeiten die sogenannten Agenten zwar nach genau vorgegebenen Dialogmustern, doch wenn sie sich eine Prämie verdienen wollen, müssen sie ihre individuelle kommunikative Kompetenz unter Beweis stellen, stets klug, sympathisch, schlagfertig und wohltönend telefonieren.

Eine andere Strategie der Verunsicherung sind kurzfristige quantitative Vorgaben. Dabei überlässt es die Firmenleitung im Sinne der angeblich flachen Hierarchien ihren Untergebenen, mit dem Spannungsverhältnis zwischen Qualität und Menge der Arbeitsleistung (Anzahl der angenommenen Anrufe, der bearbeiteten Akten, zugestellten Pakete und so weiter) zurechtzukommen. Ein erheblicher Teil der Betriebsorganisation wird oft den Angestellten der untersten Gehaltsstufe zugeschoben. Sie werden für „eigenverantwortlich“ erklärt und mit steigenden Anforderungen an ihre Produktivität konfrontiert, ohne dass sie die Möglichkeit haben, die Bedingungen und den Zeitrahmen ihrer Leistung zu beeinflussen.

In dieser Situation entsteht selbst bei Angestellten mit Kündigungsschutz das Gefühl, nie zu genügen und stets vom Verlust des Arbeitsplatzes bedroht zu sein. Aber auch die Führungskräfte unterliegen diesem Druck, sind in denselben inneren Widersprüchen und Zwängen gefangen. Auch ihnen werden immer engere zeitliche Vorgaben zur Erfüllung von Umsatzzielen gemacht, und das Berichtswesen vieler Unternehmen verpflichtet inzwischen auch das mittlere Management, detailliert Rechenschaft über die eigene Zeiteinteilung abzulegen.

Im öffentlichen Dienst beeinträchtigt die Einführung von Managementmethoden aus der Privatwirtschaft die Arbeitsabläufe und das Selbstverständnis der Betroffenen noch stärker, denn viele Beamten kennen derartige Methoden aus ihrer bisherigen Berufslaufbahn nicht. Es fällt ihnen nicht leicht, sich daran anzupassen. Natürlich muss auch der öffentliche Dienst effizient arbeiten, aber die meisten Beamten sind durch die vielen neuartigen Vorgaben wie gelähmt und können manchmal ihre jahrelang ausgeübten, gewohnten Aufgaben plötzlich nicht mehr ordentlich erfüllen.

Ständige Verfügbarkeit auf Kosten des Privatlebens

Wer sich in der neuen Arbeitswelt durchsetzen will, darf sich nicht darum sorgen, ob die Anforderungen von oben auf Kosten der Arbeitsqualität gehen oder ob sie in ethischer Hinsicht vertretbar sind. Darin zeigt sich nicht zuletzt das ausbeuterische Wesen des modernen Betriebsmanagements: Es fordert immer das Beste, die völlige und bedingungslose Hingabe. Sein Maßstab sind einzig die Stärksten und Zähesten. Erwartet werden ständige Flexibilität und Verfügbarkeit, auch auf Kosten des Privat- und Familienlebens. So erklärt sich auch, warum man bei Großunternehmen oft eine Alterspyramide mit schmaler Basis und dünner Spitze vorfindet: Das heutige Management verschleißt die Menschen sehr schnell. Wer in diesem System das „Senioren“-Alter von 50 Jahren erreicht hat, kann sich nur noch behaupten, wenn er sich frühzeitig seine Meriten erworben hat.

Die Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich ist eine der höchsten in Europa. Dass bei den Demonstrationen viele junge Leute Seite an Seite mit den Älteren marschieren, zeugt von Weitsicht. Sie haben verstanden, dass dieselben Mechanismen, die ihnen den Zugang zur Unternehmenswelt versperren, zugleich die „Alten“ hinausdrängen. Die einen wie die anderen zahlen den Preis für die überzogenen Ansprüche im heutigen Management.

Die Soziologinnen Lucie Davoine und Dominique Méda haben 2008 in einer vergleichenden Untersuchung1 von 27 europäischen Ländern festgestellt, dass die Franzosen die höchsten Erwartungen an ihren Arbeitsplatz haben und ihrem Beruf die größte Bedeutung beimessen. Dementsprechend lassen sie sich von Enttäuschungen aber auch besonders schnell frustrieren. Diese Mentalität lässt sich durchaus historisch begründen: Die Französische Revolution von 1789 hat die Menschen aus ihrer Knechtschaft befreit und es ihnen überlassen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. So wurde aus der Arbeit ein Werkzeug der Emanzipation, und auch heute noch steht die Arbeit in Frankreich im Zentrum der sozialen Kämpfe.

Maßlose Anforderungen im Beruf erzeugen ängstliche Bürger, die das Vertrauen in ihr Gegenüber verlieren. Sie haben das Gefühl, die Regeln des Spiels nicht mehr zu durchschauen, und plagen sich mit permanenten Existenzsorgen: In repräsentativen Umfragen bekundeten mehr als die Hälfte der Franzosen, sie seien nicht sicher, ob sie nicht selbst irgendwann als Obdachlose enden könnten.

Die aktuellen Proteste gegen die Rentenreform könnten all jene, die ihre Schwierigkeiten im Umgang mit den neuen Arbeitsverhältnissen gewöhnlich ihrem eigenen Unvermögen zuschreiben, aus der Isolation führen. Vor unseren Augen entsteht vielleicht gerade das Bewusstsein für ein gemeinsames Schicksal. Zumindest lässt der Button „Je lutte des classes“ („Ich mache Klassenkampf“) einen Brückenschlag zwischen dem von der modernen Arbeitswelt erzwungenen Individualismus und einer beinahe verloren geglaubten Tradition sozialer Kämpfe erahnen.

Fußnote: 1 Lucie Davoine und Dominique Méda, „Place et sense du travaille en Europe: Une singularité française?“, abrufbar unter: www.cee-recherche.fr/fr/doctrav/travail_europe_96_vf.pdf.

Aus dem Französischen von Herwig Engelmann

Danièle Linhart ist Forscherin am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) und Autorin von „Travailler sans les autres“, Paris (Seuil) 2009.

Le Monde diplomatique vom 12.11.2010, von Danièle Linhart