12.11.2010

Partnerschaft auf Raketenbasis

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Partnerschaft auf Raketenbasis

Indien kooperiert mit Israel bei Rüstungsprojekten von Isabelle Saint-Mézard

Die Staatsgründungen Indiens und Israels liegen nur ein Jahr auseinander, 1947 und 1948. Beide Länder sind am Ende eines gewaltsamen Trennungsprozesses aus den Trümmern des britischen Imperiums hervorgegangen. Und beide sind in komplizierte Konflikte verwickelt, die immer wieder in Krieg und Gewalt münden. Doch die Ähnlichkeiten haben nicht dazu geführt, dass sich Indien und Israel besonders nahegekommen wären – im Gegenteil.

Seit den 1920er Jahren machten die Führer der indischen Nationalisten gemeinsame Sache mit den Arabern in Palästina – gegen den britischen Imperialismus und das zionistische Projekt eines jüdischen Staats. Am 29. November 1947 stimmte Indien in der UN-Vollversammlung gegen den Teilungsplan für Palästina und verweigerte Israel bis 1950 die Anerkennung. Im Kreise der Vereinten Nationen wie innerhalb der Blockfreien-Bewegung stand Indien bis in die 1980er Jahre an der Seite der arabischen Staaten und verteidigte das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat.

Diese Haltung war nicht ohne Hintergedanken. So befürchtete Indien, dass die muslimische Welt die pakistanischen Gebietsansprüche in Kaschmir unterstützen könnte. Eine andere Sorge betraf die Energiesicherheit: Für die Deckung seines Ölbedarfs war Indien weitgehend von den Staaten des Nahen Ostens abhängig. Und Neu-Delhi rechnete mit den Rücküberweisungen der indischen Arbeiter in den Golfstaaten, um das Zahlungsbilanzdefizit gegen Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre in den Griff zu bekommen.1

Im Laufe der Jahre verringerte sich die Kluft zwischen den beiden Ländern. Bereits seit den 1960er Jahren unterhielten Neu-Delhi und Tel Aviv geheime Kontakte und tauschten sich über Militär- und Geheimdienstfragen aus. Israel war auch bereit, die indische Armee bei ihren Konflikten mit China (1962) und Pakistan (1965 und 1971) zu unterstützen. 1978 stattete Israels Verteidigungsminister Mosche Dajan der indischen Führung sogar einen heimlichen Besuch ab, um die Möglichkeiten für eine Kooperation auszuloten. Schließlich nahm Indien 1992 auch offiziell diplomatische Beziehungen zu Israel auf. Der Kalte Krieg war vorbei, und durch die Madrider Nahostkonferenz vom Oktober 1991 hatte sich eine Friedensperspektive eröffnet.

Indien näherte sich aber auch deshalb Israel an, weil es mit seiner bisherigen Strategie, den Einfluss Pakistans bei den arabischen Ländern einzudämmen, nicht sonderlich erfolgreich gewesen war: Die Islamische Konferenz (Organization of the Islamic Conference, OIC) verabschiedete wiederholt Resolutionen, in denen sie Indiens Verhalten im Kaschmirkonflikt verurteilte.

Zwar waren die diplomatischen Beziehungen zu Israel bereits unter der Mitte-links-Regierung der Kongresspartei entstanden, aber erst die zwischen 1998 und 2004 regierende extremistisch-hinduistische Bharatiya Janata Party (BJP) strebte eine echte Partnerschaft an. Wegen ihrer misstrauischen, wenn nicht gar feindseligen Einstellung zur muslimischen Welt hatte die BJP keinerlei Bedenken, ihre Sympathien für Israel offen zu zeigen. Und im Gegensatz zur Kongresspartei fühlte sich die BJP auch nie dazu verpflichtet, die Meinung der muslimischen Minderheit zu berücksichtigen.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA rief die Koalitionsregierung unter der BJP-Führung zum gemeinsamen Kampf der liberalen Demokratien gegen den islamistischen Terrorismus auf. Eigens zum gemeinsamen Gedenken an die Opfer der Terroranschläge, die die ganze Welt in Aufruhr und Schrecken versetzt hatten, reiste im September 2003 Ariel Scharon an – es war der erste offizielle Besuch eines israelischen Regierungschefs in Indien.

Die politische Annäherung mündete in dem Vorschlag, dass sich Indien, Israel und die USA zu einem strategischen Dreierbündnis zusammenschließen sollten.2 Brajesh Mishra, damals nationaler Sicherheitsberater von Premierminister Atal Bihari Vajpayee, sprach als Erster davon, und zwar am 8. Mai 2003, auf dem jährlichen Galadinner des American Jewish Committee in Washington: „Hier und heute ist das gemeinsame Anliegen, uns das Grauen des Terrorismus in Erinnerung zu rufen und das Bündnis der freien Gesellschaften und ihren Kampf gegen diese Geißel zu würdigen. Die Vereinigten Staaten, Indien und Israel waren in der Vergangenheit die Hauptziele des Terrorismus. Sie müssen dem monströsen Phänomen des modernen Terrorismus gemeinsam begegnen.“3 Anschließend führten die Regierungsvertreter aller drei Länder Gespräche über Verteidigung und Terrorbekämpfung, derweil im Hintergrund die proindischen und proisraelischen Lobbygruppen in Washington wichtige Kontakte knüpften.

Als die Kongresspartei 2004 an der Spitze einer Koalitionsregierung das Regierungsruder wieder übernahm, wurde die ideologische Tendenz der Zusammenarbeit mit Israel zwar deutlich abgemildert, doch berührte das in keiner Weise den Kern der indisch-israelischen Beziehungen, welcher aus den Bereichen Sicherheit und Verteidigung besteht.

Es gibt inzwischen viele unterschiedliche Anknüpfungspunkte zwischen beiden Ländern und neue Kooperationen, etwa in der Landwirtschaft, Wissenschaft, Technologie und im Tourismus. Zudem ist das Handelsvolumen zwischen Indien und Israel von 200 Millionen (1992) auf 4 Milliarden Dollar (2008) angewachsen.4 Doch der Verteidigungssektor bleibt nach wie vor das Herzstück der indisch-israelischen Zusammenarbeit.

Die israelische Rüstungsindustrie ist auf den Export ausgerichtet. Bis Ende der 1990er Jahre ging der vor allem nach China. Doch weil die USA bestimmt hatten, keine sensiblen Technologien an Peking weiterzugeben, war Tel Aviv gezwungen, sich nach anderen Abnehmern umzusehen, darunter Indien. Diese Neuausrichtung erwies sich für Israel als überaus lukrativ, da Neu-Delhi zu diesem Zeitpunkt aufgrund des starken indischen Wirtschaftswachstums endlich in der Lage war, seinen beträchtlichen Bedarf an Rüstungsgütern zu finanzieren.

Zudem war Indien auf der Suche nach neuen Bezugsquellen, weil die russischen Hersteller die Lücke, die die alten sowjetischen Produzenten hinterlassen hatten, nur teilweise hatten schließen können (viele Produktionszweige der sowjetischen Rüstungsindustrie wurden nach 1991 entweder zerschlagen oder gründlich heruntergewirtschaftet). Der Technologietransfer wurde zudem durch die Annäherung zwischen Indien und den USA erleichtert.

Die Phalcon-Radarsysteme, die die Israel Aerospace Industries (IAI) für die indische Luftwaffe entwickelten, sind dafür ein gutes Beispiel.5 Nachdem die USA deren Verkauf an China im Jahr 2000 unterbunden hatten, gab Washington nun grünes Licht für das Geschäft mit Indien. Für Neu-Delhi war der Fall klar: Die Annäherung an Tel Aviv eröffnete den Zugang zu Spitzentechnologien, die Washington ansonsten höchst widerwillig weitergab.

Das heikle Thema Palästina

So wurde Israel innerhalb eines Jahrzehnts einer der wichtigsten Rüstungslieferanten Indiens, das mittlerweile einer der größten Abnehmer für die israelische Rüstungsindustrie ist. Das Auftragsvolumen dieser indisch-israelischen Geschäftsbeziehung wird für den Zeitraum der letzten zehn Jahre auf fast 10 Milliarden US-Dollar geschätzt.6

Flexibilität und Reaktionsfähigkeit waren dabei die zwei großen Trümpfe Israels. Flexibilität, weil sich die israelischen Lieferanten ohne Verzögerung auf die Besonderheiten der indischen Armee einstellten, deren Material hauptsächlich sowjetisch-russischen Ursprungs ist. Das Ergebnis waren lukrative Modernisierungsaufträge: Panzer, Kampfflugzeuge, Helikopter und Flugzeugträger – alles ist heute mit israelischer Elektronik ausgestattet. Und wie schnell Israel reagieren kann, zeigte sich 1999 während des „Kargil-Kriegs“7 in Kaschmir, als es die indische Armee kurzfristig mit dringend benötigter Munition versorgte.

Die industrielle Zusammenarbeit der beiden Länder konzentrierte sich auf zwei Hochtechnologien: Einerseits geht es um Drohnen und Radarüberwachung, andererseits um Raketensysteme. Im ersten Fall unterschrieb Neu-Delhi 2004 einen Kaufvertrag für drei Phalcon-Radarsysteme.

Mit „Barak“-Raketen („barak“ bedeutet auf Hebräisch Blitz) ging es 2001 los, als sich Indien für 270 Millionen US-Dollar ein Verteidigungssystem mit Seezielflugkörpern zulegen wollte. Mit der Entscheidung über die gemeinsame Entwicklung einer neuen Raketengeneration erreichte die Kooperation im Januar 2006 ihren Höhepunkt. Israel begab sich damit in direkte Konkurrenz zu Russland, das ebenfalls gemeinsam mit den Indern an einem neuen Marschflugkörper arbeitete. 2007 schlossen Israel und Indien schließlich einen Kooperationsvertrag in Höhe von 2,5 Milliarden Dollar zur Entwicklung eines Luftabwehrsystems ab, basierend auf den „Barak“-Raketen, doch in diesem Fall für die Luft- und Landstreitkräfte.

Ein weiteres sensibles Kooperationsfeld ist die Satellitenbildtechnik. Im Januar 2008 schossen die Inder im Auftrag Israels einen Spionagesatelliten in die Umlaufbahn, der Tel Aviv Informationen über die iranischen Militäranlagen liefert könnte. Nach den Anschlägen in Mumbai im November 2008, bei denen 170 Menschen ums Leben kamen,8 offenbarten sich die schwerwiegenden Defizite der indischen Landüberwachung. Daraufhin schickte Delhi auf eigene Rechnung im April 2009 einen zweiten Satelliten auf den Weg und erwarb israelische Radaranlagen im Wert von 600 Millionen Dollar, um sein Alarmsystem entlang der Westküste zu verstärken.

Zweifelsohne befindet sich Israel in einer guten Ausgangsposition, um auch weiterhin indische Sicherheits- und Überwachungssysteme zu modernisieren und ganz allgemein die bereits enge Zusammenarbeit im Bereich der Terrorabwehr zu vertiefen. Die Israelis haben beim Bau einer Barriere entlang der Waffenstillstandslinie in Kaschmir mitgeholfen. Sie haben mehrere Überwachungsanlagen zur Abwehr militanter Islamisten geliefert. Und darüber hinaus gehören sie zu den wenigen ausländischen Mächten, die überhaupt Zutritt zu den Operationsgebieten in Kaschmir bekamen.

Bis heute unterstützt Neu-Delhi – wie die gesamte Internationale Gemeinschaft – die Bildung eines unabhängigen palästinensischen Staats. Aber im Verlauf der vielen Krisen zwischen Israel und seinen Nachbarn hat sich die indische Diplomatie angewöhnt, sich aus Eigennutz auch anzupassen. Der indische Ansatz besteht im Wesentlichen darin, die bilateralen Beziehungen strikt vom regionalen Minenfeld im Nahen Osten zu trennen. Anders gesagt: die wichtige Zusammenarbeit mit Israel zu pflegen, ohne die arabischen Staaten gegen sich aufzubringen. In offiziellen Erklärungen verurteilt Neu-Delhi daher entschieden die blinden Terrorattacken gegen Israel genauso wie die Brutalität der israelischen Repressalien in den besetzten Gebieten.

Darüber hinaus hat Neu-Delhi Geschmack am diplomatischen Spagat gefunden: Neben der stetigen Annäherung an Israel hat das Land seit Anfang der 2000er Jahre auch Beziehungen zum Iran aufgebaut (siehe nebenstehenden Text). So war nur sechs Monate vor der Indienreise Ariel Scharons der damalige iranische Präsident Mohammed Chatami im Januar 2003 zu Besuch. Paradoxerweise hat Indien durch die Annäherung an Israel auch mehr Einfluss im gesamten Nahen Osten bekommen: Die Staaten der Region können nicht mehr automatisch mit Neu-Delhis Unterstützung rechnen und haben sich inzwischen darauf eingestellt, stärker auf Indiens Interessen einzugehen.

Dass die Beziehung zu Israel in Indien dennoch eine delikate Angelegenheit bleibt, hat weniger außen- als innenpolitische Gründe: Es gilt auf die Empfindlichkeiten der muslimischen Minderheit Rücksicht zu nehmen, die immerhin 14 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Außerdem müssen die linken Randgruppen eingebunden werden. Diese pflegen meist ein antiimperialistisches Erbe und widersetzen sich jeder offensichtlich proisraelischen Politik. Die politische Führung ist deswegen bei ihrer Zusammenarbeit mit dem jüdischen Staat um Diskretion bemüht. In Krisenzeiten ist diese Linie natürlich schwieriger durchzuhalten, wie der Libanonkrieg im Juli 2006 gezeigt hat: Anfangs verurteilte Neu-Delhi die israelischen Militäraktionen nur zögerlich, verschärfte den Ton aber bald unter dem Druck der kommunistischen Parteien und der muslimischen Wählerschaft. Schlussendlich verabschiedete das indische Parlament zähneknirschend, aber einstimmig eine Erklärung, in der es das israelische Vorgehen verurteilte.

Dass die Inder so viel über die Nahostfrage streiten, ist in vielerlei Hinsicht aufschlussreich: Auf der diplomatischen Ebene spiegelt sich darin die Spaltung zwischen den Verfechtern einer traditionellen proarabischen Position und den Anhängern der Partnerschaft mit Israel. Unter der Oberfläche brodelt es aber auch, wegen der Spannungen zwischen der Notwendigkeit, die „Minderheit“ von immerhin 160 Millionen indischen Muslimen einzubeziehen, und einer heimlichen Faszination für die Methoden Israels im Kampf gegen seine Feinde. In Neu-Delhi wären einige anscheinend nicht abgeneigt, terroristische Gruppierungen in Pakistan mit ähnlichen Mitteln zu bekämpfen.9

Fußnoten: 1 Die indische Zahlungsbilanzkrise im Juni 1991 wurde vor allem durch ausbleibende Rücküberweisungen indischer Arbeitsmigranten in den Golfstaaten ausgelöst und zwang die indische Führung – in Absprache mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) –, ein Strukturanpassungsprogramm in die Wege zu leiten. 2 Siehe Louise Tillin, „US-Israel-India: Strategic Axis?“, BBC News, London, 9. September 2003. 3 Die Rede ist abrufbar auf der Webseite des American Jewish Committee: www.ajc.org. 4 Dabei betrug der Anteil der Diamantenindustrie 2008 fast 50 Prozent der gesamten Im- und Exporte der beiden Länder. Siehe die Website der Abteilung für bilateralen Handel der indischen Botschaft in Tel Aviv: www.indembassy.co.il. 5 Das erste Radarsystem lieferte Israel im Frühjahr 2009 und soll in modernisierte russische Iljuschin-Flugzeuge eingebaut werden. Demnächst könnte Neu-Delhi für eine horrende Summe außerdem drei neue Awacs-Systeme bestellen. 6 Siehe Siddharth Srivastava, „Israel rushes to India’s defence“, Asia Times Online, 2. April 2009. 7 Im Mai 1999 besetzten bewaffnete Truppen von pakistanischem Boden aus Stellungen auf der indisch kontrollierten Seite im Kargil-Distrikt im Norden von Jammu und Kaschmir. Nach einer indischen Gegenoffensive und US-amerikanischer Vermittlung zogen sich die pakistanischen Einheiten im Juli 1999 wieder zurück. Siehe Selig S. Harrison, „Das Dilemma der pakistanischen Generäle“, Le Monde diplomatique, Oktober 2001. 8 Zu den Hintergründen der Anschläge siehe Graham Usher, „Pakistan, Partner unter Verdacht“, und Gnani Sankaran, „Die große Heuchelei. Die Anschläge von Mumbai und das indische Fernsehen“, beide Texte in Le Monde diplomatique vom Januar 2009. 9 Wie die größte Demokratie der Welt mit ihren innenpolitischen Gegnern umgeht, beschreibt am Beispiel der Naxaliten der Journalist Cédric Gouverneur in „Teufel und Beelzebub in Chhattisgarh“. Und Subir Bhaumik schildert in „Kurz vor Hinterindien“ die umstrittenen Methoden der Aufstandsbekämpfung im äußersten Nordosten des Landes. Beide Texte in der Edition Le Monde diplomatique, Nr. 7, „Indien, die barfüßige Großmacht“, Berlin (taz Verlag) 2010, S. 18 und 28.

Aus dem Französischen von Jakob Horst

Isabelle Saint-Mézard ist Expertin für strategische Fragen in Südasien. Sie lehrt am Institut d’Études Politiques in Paris und am Inalco (Institut National des Langues et Civilisations Orientales). Sie ist Koautorin des „Dictionnaire de l’Inde Contemporaine“ unter der Herausgeberschaft von Frédéric Landy, Paris (Armand Collin), Oktober 2010.

Le Monde diplomatique vom 12.11.2010, von Isabelle Saint-Mézard