12.11.2010

Das Gespenst des Kommunismus

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Das Gespenst des Kommunismus

Die neue Rechte in den USA beschwört alte Schrecken von Walter Benn Michaels

Letzten Sommer stritten sich zwei Galionsfiguren der amerikanischen Rechten freundschaftlich darüber, wer die größte Gefahr für die USA darstelle. Bill O’Reilly schlug sich auf die Seite der Mehrheitsmeinung und zeigte auf al-Qaida. In der Ära Bush ließen sich konservative Amerikaner die Koordinaten ihrer Weltsicht vom berüchtigten Kampf der Kulturen vorgegeben, und wenn sie sich über illegale Einwanderung sorgten, dann fürchteten sie, dass sich künftig Al-Qaida-Bomber unter die Einparker in Chicago oder die Fleischpacker in Iowa mischen könnten.

O’Reillys neuer Kollege und Einschaltquotenrivale Glenn Beck wartete jetzt mit einer völlig anderen, verblüffenden Antwort auf: Nicht die Dschihadisten sind es, „die unser Land zu zerstören versuchen“, sondern die Kommunisten. Wenn Beck und die ihm nahestehende populistische, rechte Tea-Party-Bewegung ihre tiefsten Ängste artikulieren, meinen sie nicht den Terrorismus, sondern den Sozialismus.

Dies ist überraschend, weil man Kommunistenfurcht ja eher mit den Eisenhower-Jahren in Verbindung bringt als mit der Zeit seit dem 11. September. Und noch verblüffender: Beck ist eine Generation jünger als O’Reilly; er war noch nicht einmal geboren, als 1963 Ezra Taft Benson, Eisenhowers ehemaliger Landwirtschaftsminister, sich in einer Rede über Chruschtschows Versprechen ereiferte, uns Löffel für Löffel „mit Sozialismus zu füttern“, bis wir eines Tages (also heute, behauptet Beck, der diese Rede häufig zitiert) aufwachen und feststellen, dass wir „den Kommunismus schon haben“. Am erstaunlichsten ist allerdings, dass diese Auferstehung des Kalten Kriegs funktioniert. Die Tea-Partisanen entlarven lauter Kommunisten innerhalb der Demokratischen Partei, laut Amazon ist F. A. Hayeks „Der Weg zur Knechtschaft“ das meistverkaufte politische Buch der USA, und der konservative Talkshowmaster Rush Limbaugh fürchtet sich neuerdings vor „kommunistischen“ Spionen, die „für Wladimir Putin arbeiten“.1

Aber warum Kommunismus? Und warum jetzt? Die Islamfeindlichkeit hatte zumindest eine gewisse reale Grundlage – Dschihadisten haben tatsächlich tausende von Amerikanern getötet. Aber nicht nur gab es keine Kommunisten an Bord der Flugzeuge, die ins World Trade Center rasten, in den ganzen USA gibt es heute so gut wie keine Kommunisten und selbst in der ehemaligen UdSSR muss man sie mit Lupe suchen. Wenn es eines gibt, worin sich Wladimir Putin und Barack Obama einig sind, dann ihre Begeisterung für den „Geist des freien Unternehmertums“, den Putin in Davos beschworen hat. Und doch spielt der Antikommunismus ohne Kommunisten – wie der Antisemitismus ohne Juden – bei den Rechten inzwischen eine gewichtige Rolle, zumal bei jenen Rechten, die man als antineoliberal bezeichnen könnte.

Becks eigene Biografie lässt erahnen, wie und warum es dazu gekommen ist. Seine Eltern ließen sich, wie uns Becks Biograf mitteilt, wegen der Probleme scheiden, die hauptsächlich von der Rezession der 1970er Jahren herrührten. Und seine ersten Erfolge im Radio waren ein Resultat des Quotenkriegs, der durch die 1972 von der Aufsichtsbehörde beschlossene Deregulierung des Rundfunks ausgelöst wurde. Und seine Erfolge wie seine Niederlagen hingen eng damit zusammen, dass die Rundfunkindustrie immer stärker fragmentiert und von der Nachfrage eines deregulierten Markts bestimmt wurde. Bevor Beck in seinen Sendungen richtig politisch wurde, tat er sich vor allem als ein Meister des Marketings hervor. Und viele denken, dass seine gegenwärtigen politischen Ansichten keine Sache der Überzeugung, sondern lediglich eine Marketingstrategie sind.

Wenn uns die letzten dreißig Jahre etwas gelehrt haben, so die Erkenntnis, dass Marketing für sich schon eine Art Politik ist. Beck ist ein Kind des Neoliberalismus, kaum war er erwachsen, wurde mit dem Untergang des Kommunismus das Ende der Geschichte verkündet. Zwanzig Jahre später haben wir die große Rezession und Beck macht mit der Wiederkehr des Kommunismus Karriere. Für ihn und Millionen seiner Zuschauer kann es nicht der Sieg des Kapitalismus sein, der unsere wirtschaftlichen Probleme hervorbringt, also muss es die Wiederkehr des Kommunismus sein. Und die treibende Kraft sind dabei „Immigranten und Sozialisten“, also nicht Saudis in Flugzeugen, sondern Mexikaner zu Fuß.

Dasselbe Argumentationsmuster begegnet uns in Geschichten, die Demokraten (Präsident Obama) wie Republikaner (der Kongressabgeordnete Inglis) über wütende Tea-Partisanen erzählen, denen Obamacare, also die Verstaatlichung der Medizin, zuwider ist, die aber zugleich von der Regierung verlangen, sie solle gefälligst „ihre Finger von Medicare lassen“. Über sein Gespräch mit einem solchen Partisanen berichtet Inglis: „Ich musste ihm höflich auseinandersetzen, dass er seine Gesundheitsversorgung in Wirklichkeit vom Staat bezieht, aber davon wollte er nichts hören.“2 Das wollte er deshalb nicht, weil er zwar sieht, dass Medicare und sogar die Sozialversicherung inzwischen stark gefährdet sind – er aber nicht kapiert, dass erst der ungebremste Privatisierungsfuror diesen Zustand herbeigeführt hat. Mit anderen Worten: Diese Leute möchten eigentlich vor dem Neoliberalismus gerettet werden (damit sie Medicare nicht verlieren), aber sie glauben, sie müssten vor dem Sozialismus (Obamacare) gerettet werden.

In Wirklichkeit sind weder Obamacare noch die Einwanderungspolitik auch nur ansatzweise sozialistisch. Im Gegensatz zur Tea Party sehen die Ökonomen der Chicagoer Schule in offenen Grenzen geradezu ein Synonym für freie Märkte. Für sie ist nicht die Einwanderung, sondern ihre Beschränkung „eine Form sozialistischer Planwirtschaft“. Am wenigsten kommunistisch ist aus dieser ökonomischen Sicht die illegale Einwanderung, die sogar noch besser ist als die legale, weil sie sensibler „auf die Marktbedürfnisse reagiert“ und damit den Arbeitgebern zugutekommt, „die flexible, kostengünstige Arbeitskräfte suchen“.3

Wenn also Beck im Namen aller Tea-Party-Anhänger befindet: „Einwanderung ist gut, illegale Einwanderung ist schlecht“, mag er durchaus glauben, dem Kommunismus entgegenzutreten, tatsächlich aber widersetzt er sich dem Neoliberalismus in seiner reinsten Form. Was die Tea Party für die größte Bedrohung des Kapitalismus hält, ist in Wahrheit der Kapitalismus selbst.

Damit ist nicht gesagt, dass es jemanden gibt, der grundsätzlich für illegale Einwanderung eintritt. Das Prinzip der illegalen Einwanderung zu verfechten wäre in der Tat ein Widerspruch in sich – warum dann nicht gleich für offene Grenzen plädieren? Aber was man als Prinzip nicht unbedingt als sinnvoll ansieht, kann man in der Praxis durchaus vernünftig finden. Genau das war die Politik der Bush-Regierung und auch der Regierung Obama, bis die Tea Party die Widersprüche beim Namen nannte. Diese Politik erlaubte Demokraten wie Republikanern, einerseits das Angebot an sehr billigen Arbeitskräften zu erhöhen, andererseits diese Arbeitskräfte wegen eben der Eigenart zu verdammen, die sie so billig machte – wegen ihrer Illegalität.

Dieser Umgang mit der illegalen Einwanderung (nach dem Motto „sprich wie ein Grenzpolizist, handle wie ein Personalchef“) hat maßgeblich zu einer Umverteilung des Wohlstands (nach oben) beigetragen, die durch die neue Mobilität von Kapital und Arbeit einen fantastischen Schub erfahren hat. Die wachsende Mobilität der Arbeit und des Kapitals sind, wie die Deregulierung, die beide ermöglichte, zentrale Bestandteile des Neoliberalismus. „Die Umverteilung von unten nach oben sowie die Verschärfung der sozialen Ungleichheit“ kennzeichnet David Harvey in seiner Analyse des Neoliberalismus „nachgerade als Strukturmerkmale des ganzen Projekts“.4

Was Wunder also, wenn dieser Prozess in den USA insbesondere bei jenen Arbeitern Ängste auslöst, deren ohnehin magerer Anteil am Volkseinkommen seit Jahren zurückgeht. Während der ersten Amtszeit von Ronald Reagan bezogen die unteren 80 Prozent der Lohnabhängigen über 48 Prozent des Volkseinkommens; inzwischen ist dieser Anteil auf 39 Prozent gesunken.

Andererseits ist es zumindest auf den ersten Blick erstaunlich, dass Glenn Beck und die Tea Party sich derart über die illegale Einwanderung ereifern. Die Anhänger der Tea-Party-Bewegung sind vergleichsweise wohlhabend, überproportional viele von ihnen gehören zu den oberen 20 Prozent, für die der Neoliberalismus eine gute Sache war.5 Die illegale Einwanderung ist schließlich eine der entscheidenden Faktoren, die den reichen Amerikanern ihren Reichtum beschert haben. Dass die Armen gegen ihre eigenen Interessen handeln, ist uns eine vertraute Vorstellung, aber dass Reiche auf die Straße gehen, um gegen die Politik zu demonstrieren, der sie diesen Reichtum verdanken, ist eine neuere Erscheinung.

Neu, aber nicht unerklärlich. Denn für die Tea-Party-Leute gibt es nicht nur die gute Nachricht, dass die oberen 20 Prozent ihren Anteil am Volkseinkommen vergrößert haben. Die schlechte Nachricht lautet, dass dieser Vermögenszuwachs fast komplett an das oberste Prozent gegangen ist. Hier die Zahlen: 1982 strich das oberste Prozent der Spitzenverdiener 12,8 Prozent des Volkseinkommens ein, während 39,1 Prozent auf die restlichen 19 Prozent des reichsten Fünftels entfielen. Bis 2006 hatte das oberste Prozent sein Einkommen auf 21,3 Prozent erhöht, die anderen 19 Prozent dagegen nur auf 40,1 Prozent (was eine wesentlich kleinere Steigerung bedeutet).

Wenn die Tea-Party-Anhänger die Einwanderung als Gefahr sehen, sind sie also nicht vollkommen verrückt. Sie sehen vielmehr etwas sehr Reales: neue ökonomische Spielregeln, welche die traditionellen Ungleichheiten des amerikanischen Lebens noch weiter verschärft haben; sie sehen, dass aus dem Kapitalismus, der sie einst zu Gewinnern gemacht hat, ein Kapitalismus geworden ist, der sie zu Verlierern zu machen droht.

Diese Entwicklung hat einen Antielitarismus hervorgebracht, der ein bisschen weniger verlogen ist, als wir es von der amerikanischen Politik gewohnt sind. Normalerweise gelingt es den Millionären an der Spitze der Republikanischen Partei, sich volksnäher zu geben als die Millionäre an der Spitze der Demokratischen Partei, indem sie sich Cowboystiefel anziehen, Abtreibungen verurteilen und ständig über Jesus reden. Aber in diesem Jahr waren die Vorwahlen in Staaten wie New York, Delaware und – natürlich– Alaska mit Jesus allein nicht mehr zu gewinnen (obwohl es ohne ihn nicht geht).

Die Tea-Party-Kandidatin Christine O’Donnell hat ihren konservativen Gegner bei den Vorwahlen für den Senatorensitz in Delaware nicht etwa geschlagen, weil sie noch christlicher ist als ihr Rivale6 , sondern weil sie „die herrschende Klasse“ attackierte. Auf einer Wahlkampfveranstaltung bekam sie großen Beifall für Sätze wie diese: „Die kleine Elite versteht uns nicht. Die halten uns für Spinner. Sie nennen uns Wirrköpfe. Aber wir nennen uns: ,Wir, das Volk‘.“

Und dann nahm sie reiche Demokraten ins Visier, wie den früheren Präsidentschaftskandidaten John Kerry, dem vorgeworfen wird, beim Kauf seiner neuen 7-Millionen-Dollar-Jacht keine Steuern abgeführt zu haben: „Ich hatte nie eine Großverdienerjob oder Firmenwagen. Ich musste mir noch nie den Kopf darüber zerbrechen, wo ich meine Jacht überwintern lasse, um Steuern zu sparen […] und ich wette, für die meisten von euch gilt das auch!“

Aus der Tatsache, dass Christine O‘Donnell Stimmen für sich gewinnen kann, indem sie sich über reiche Politiker lustig macht, folgt jedoch nicht, dass sie ihr Amt besser führen würde als diese. Im Gegenteil. Falls sie tatsächlich gewählt worden wäre, hätte sie es sicher noch schlechter gemacht.7 Bereits heute wird die Tea Party von Milliardären wie David Koch finanziert, dessen jüngster Beitrag zur Wohlfahrt von „Wir, das Volk“ darin bestand, in North Carolina 118 Leute zu entlassen.

Doch selbst wenn wir den Tea-Party-Anhängern ihre Verachtung für die Reichen nicht recht abnehmen und ihre Abneigung gegen die Einwanderung nicht teilen, müssen wir zugeben, dass diese beiden emotionsgeladenen Themen politisch interessanter sind als all jene, die Demokraten und etablierte Republikaner angestoßen haben.

Offiziell leben 44 Millionen US-Amerikaner unterhalb der Armutsgrenze, während das oberste Prozent – etwa 3 Millionen Bürger – die Hälfte aller Vermögenswerte besitzen. Da wäre es doch mal was erfrischend Neues, wenn eine politische Partei den Reichen endlich im Ernst ihren Reichtum vorhalten und dabei ausnahmsweise davon absehen würde, im selben Atemzug die Armen für ihre Armut selbst verantwortlich zu machen.

Fußnoten: 1 mediamatters.org/mmtv/201007080038. 2 Washington Post, 28. Juli 2009. 3 So Richard N. Haass, der Vorsitzende des Council of Foreign Relations, in seinem Vorwort zu: Gordon H. Hanson, „The Economic Logic of Illegal Immigration“, New York 2007. 4 David Harvey, „Kleine Geschichte des Neoliberalismus“, Zürich (Rotpunktverlag) 2007, S. 25 f. 5 Nur 35 Prozent von ihnen geben an, weniger als die 50 000 Dollar zu verdienen, die das US-Durchschnittseinkommen darstellen. Und 20 Prozent der Tea-Party-Anhänger haben pro Jahr mehr als 100 000 Dollar. 6 Christine O’Donnell ist Vorsitzende der „Savoir’s Alliance for Lifting the Truth Ministry“, einer Gruppe, die sexuelle Enthaltsamkeit vor der Ehe propagiert und sich für ein Masturbationsverbot einsetzt. Siehe The Guardian, 2. November 2003. 7 Bei den Wahlen unterlag sie dem Kandidaten der Demokraten mit 40 zu 57 Prozent.

Aus dem Englischen von Robin Cackett

Walter Benn Michaels ist Professor für Literatur an der Universität von Illinois und Autor unter anderem von „The Trouble with Diversity“, New York 2006.

Le Monde diplomatique vom 12.11.2010, von Walter Benn Michaels