12.11.2010

Der kleine nackte Mann

zurück

Der kleine nackte Mann

Für eine neue ökonomische Rationalität von René Passet

Wir gleichen alle dem kleinen nackten Mann aus der Zeichenfeder des französischen Karikaturisten François Batellier. Er steht auf seinem Planeten und richtet eine bange Frage ins dunkle Universum: „Ist da wer?“ Er will verstehen, ob diese Welt einen Sinn hat, wie sie funktioniert und welchen Platz er selbst in ihr hat. Und während er an den Methoden, mit denen er die Welt beobachtet, immer weiter herumfeilt, verändern sich die Vorstellungen, die er sich von ihr macht.

Anfangs nahm sich der Mensch als Teil eines von geheimnisvollen Geistern bevölkerten, organischen Ganzen wahr – und heute glaubt er, dass aus dem Urknall das Universum entstanden ist, aus dem sich dann im evolutionären Prozess das Leben auf unserem Planeten entwickelt hat. In der Zwischenzeit fand er Schritt für Schritt heraus, dass die Entwicklung des Universums auf bestimmten Ursachen und Gesetzmäßigkeiten aufbaut.

In der Zeit nach Isaac Newton (1642–1727), dem Entdecker der Schwerkraft, waren die Menschen überzeugt, das Universum funktioniere wie ein Uhrwerk; mit Sadi Carnot (1796–1832), dem Begründer der Thermodynamik, glaubten sie, es werde durch eine immaterielle Kraft, nämlich die Energie, angetrieben; dann waren sie der Meinung, dass diese Energie sich im Raum ausbreite und schöpferische Kräfte besitze. Demnach hätten die Strahlen, die die jeden Tag ein wenig schwächer werdende Sonne aussendet, die Entstehung und Entwicklung des Lebens auf der Erde ermöglicht.

Die Beschäftigung mit der Vergangenheit belehrt uns darüber, wie veränderlich und relativ diese Erkenntnisse sind. Das Wissen nimmt eben nicht durch Anhäufen zu, sondern durch den veränderten Blick auf die Dinge: Nach Nikolaus Kopernikus sahen dieselben Gelehrten mit denselben Instrumenten nicht mehr dieselben Objekte am Himmel wie zuvor. Zwischen den Gesetzen der Mechanik, die ein Uhrwerk zum Laufen bringen, und denen der kinetischen Energie, die die Bewegung in der Welt bewirkt, und den Gesetzen der immer komplexer werdenden Evolution bestehen qualitative Unterschiede. Das gilt übrigens auch für die aus diesen Gesetzen abgeleiteten wirtschaftlichen Konzepte.

Wenn ein ökonomisches Konzept ein anderes ablöst, werden die bestehenden Regulations- und Entwicklungsmodi über den Haufen geworfen. Es gibt auf diesem Gebiet also keine ewig gültige, universelle Wahrheit. Konzepte, die angesichts der Gegebenheiten einer bestimmten Epoche ausgearbeitet wurden, mögen der damaligen Wirklichkeit gerecht geworden sein, können sich aber für eine andere Epoche als völlig ungeeignet erweisen.

So hielt beispielsweise der britische Nationalökonom David Ricardo (1772–1823) das Sparen für eine Tugend und Geldausgeben für ein Laster – er verfasste seine Bücher in der Frühphase des Kapitalismus, die vor allem durch Kapitalakkumulation bestimmt war. Ein Jahrhundert später löste in England, wo die Phase der ursprünglichen Akkumulation nun vollendet war, der dauerhafte Konsum das Kapital als Antrieb der Wirtschaft ab. Die Entwicklung hing jetzt auch nicht mehr am Bau der Eisenbahnwege, sondern an der Nachfrage nach Autos. Anders als Ricardo hielt John Maynard Keynes nun Geldausgeben für eine Tugend und Sparen für Laster – sie hatten beide recht, jeder für seiner Zeit.

Friedrich Hayek hingegen vertat sich in der Epoche, als er in seiner berühmten Debatte mit Keynes an den Ideen Ricardos festhielt.1 Er irrte sich genauso, wie sich die heutigen Neoliberalen irren. Ihre angeblichen Lösungen (niedrige Staatsausgaben, Einsparungen im öffentlichen Dienst, Abbau der sozialen Sicherungssysteme) erinnern stark an die Konzepte, die die Volkswirtschaften schon in den 1920er Jahren zum Stillstand verurteilt haben. In einer Zeit, in der moderne Kommunikationstechniken Öffnung möglich, ja sogar unumgänglich machen, da Computer die Welt in eine „in Echtzeit erlebte Einheit“ verwandeln, fällt der neoliberalen Politik nichts Besseres ein, als sich für die Rentabilisierung der Vermögen starkzumachen.

In der immateriell gewordenen Welt bekommt alles eine andere Bedeutung. Räumlichkeit hat kaum noch etwas mit Distanz zu tun. Sie ist inzwischen in Netzwerken organisiert und besteht aus Knoten, die direkt miteinander kommunizieren: Die Börsen stehen unabhängig von Landesgrenzen miteinander in Verbindung, 24 Stunden am Tag, ohne Unterbrechung. Die Entfernung zwischen dem kalifornischen Silicon Valley und dem französischen Technologiepark Sophia Antipolis ist geringer als die zwischen Sophia Antipolis und Frankreich.

Geld machen mit immateriellen Gütern

Zeit ist nicht mehr eine Dauer, während der sich Ereignisse aneinanderreihen und Spuren hinterlassen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vermischen sich. Der Spekulant kauft heute zu irgendeinem künftigen Termin mit Geld, das nicht er in der Vergangenheit angesammelt hat (und also auch nicht besitzt), Papiere, die er nicht in Besitz nehmen will, von einen Verkäufer, der nicht über sie verfügt und auch keine Absicht hat, sie je auszuhändigen, ja noch nicht einmal den Preis für sie zu kassieren gedenkt. Und all das endet schließlich mit der Ausschüttung einer Kursdifferenz als Belohnung für denjenigen, der die Entwicklung der Märkte richtig prognostiziert hat.

Im Unterschied zu materiellen Gütern, die man nur weitergeben kann, indem man sie selbst abgibt, ist der Austausch von immateriellen Gütern additiv: Eine Information wird einem anderen übermittelt, ohne dass der ursprüngliche Besitzer aufhört, sie zu besitzen.

In einem System der gegenseitigen Abhängigkeiten sind es nicht mehr individuelle Akteure, die produzieren, sondern integrierte Systeme samt aller zugehörigen Faktoren. Die Vorstellung von der Leistung eines isoliert betrachteten Faktors – Kapital oder Arbeit – hat keinen Sinn mehr. Man steigert nicht die Produktion, indem man dem Produktionssystem eine Arbeits- oder Kapitaleinheit zufügt, sondern indem man, bei minimalen Mehrkosten, den Takt des ganzen Systems erhöht.

Bei der Herstellung einer CD ist es die Software, die Kosten verursacht; hinzu kommt nur noch der mehr oder weniger vernachlässigbare Preis für das Material. Je höher die Produktion, umso niedriger die Stückkosten – und umso höher die Rendite. Im Falle von Überproduktion werden – man muss schließlich wettbewerbsfähig bleiben – die Preise gesenkt, bei gleichzeitiger Steigerung der hergestellten Mengen und somit verstärkter Überproduktion. Der Markt wird damit zum Verstärker des Ungleichgewichts.

Wir haben die Grenzen der materiellen Wirtschaft erreicht. Die Zeiten der „fertigen Welt“ haben begonnen. Zum einen kann die ausgebeutete Natur nicht mehr wie in Zeiten der klassischen Ökonomie als „freies Gut“ betrachtet werden, als wahre, unveränderliche und unerschöpfliche Himmelsgabe, die sich jedem ökonomischen Kalkül entzieht. Die Frage, wie sich die Natur reproduziert, ist inzwischen auch aus ökonomischen Erwägungen sehr wichtig. Zum andern können dank der weltweiten Güterproduktion die Grundbedürfnisse auf der Erde im Prinzip gestillt werden. Das vorrangige Problem der Wirtschaft besteht demnach nicht darin, Unterversorgung in den Griff zu bekommen, sondern die Güter zu verteilen und manchmal mit Überfluss fertigzuwerden.

Einst half es, in Phasen der Knappheit – so wie heute noch in den armen Ländern – die Lebensmittelproduktion zu erhöhen. Aber soll das auch bei der Automobilproduktion so sein? In manchen Weltgegenden gibt es so viele Autos, dass der Straßenverkehr vor dem Kollaps steht, während es den Menschen anderswo am Lebensnotwendigsten fehlt. Jede Erhöhung der Produktion wirft daher die Frage nach dem Wozu auf, die Frage nach Zweck und Moral.

Seit die Grenze der materiellen Wirtschaft erreicht ist, hat sich auch die wirtschaftliche Rationalität verändert. Früher war die Menge der produzierten Güter die Basis für den Wohlstand eines Gemeinwesens. Um dieses Wohlergehen zu sichern, musste der produktive Sektor möglichst effizient sein. Heute bemisst sich ökonomische Rationalität an den Folgen für die Menschen. Einst war sie nichts als ein Instrument, heute besteht ihr Zweck darin, den Menschen nützlich zu sein. Nur will das noch niemand wahrhaben.

Diese Verlagerung ist nicht nur theoretisch von Belang. Sie wirkt sich vielmehr auf die Entscheidungskriterien des wirtschaftlichen Handelns aus. Aus der Sicht der Manager und Wirtschaftsstrategen war der Mensch einst eine variable Größe, inzwischen ist er wieder zu einer festen Größe geworden, auf die wirtschaftliches Handeln Rücksicht nehmen muss. Damit kehren sich die Regularien für den weltweiten Handel um: Die Natur ist nicht mehr eine Ressource, die man ausbeuten und plündern kann, sondern sie gewinnt ihre Bedeutung als Mutter allen Lebens zurück, die es zu schützen gilt, weil ohne sie auf unserem Planeten nichts existieren kann. Damit verändern sich zwangsläufig die Grundlagen ökonomischer Entscheidungen – was sich sowohl auf nationaler Ebene als auch für die internationalen Beziehungen auswirkt.

Für den nationalen Rahmen präsentiert der Abschlussbericht über die „Messung von Wohlstand und gesellschaftlichem Fortschritt“, den die Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stiglitz, Amartya Sen und Jean-Paul Fitoussi ausgearbeitet haben,2 eine Reihe von Empfehlungen. Ihr Ziel ist es, Indikatoren zur Erfassung der tatsächlichen Situation der Haushalte zu entwickeln und dabei insbesondere Einkommen und Konsum (nicht so sehr die Produktion) sowie die Vermögen und die Vermögensverteilung in den Blick zu nehmen. Denn dadurch treten auch die Ungleichheiten in den Gesellschaften deutlicher zutage. Diese Kriterien erstrecken sich auch auf nicht marktbezogene Aktivitäten, wie zum Beispiel innerfamiliäre Dienstleistungen. All diese Indikatoren stehen quer zum neoliberalen Marktradikalismus.

Wenn die Logik der instrumentellen Effizienz und des reinen Wettbewerbs die internationalen Beziehungen bestimmt, bleiben die weniger Leistungsfähigen auf der Strecke. So hat in den Ländern des Südens das Agrobusiness die Subsistenzlandwirtschaft zerstört und ganze Bevölkerungen ins Elend gestürzt. Die Prinzipien des liberalisierten Welthandels (Meistbegünstigungsklausel für ausländische Produkte, freie Zirkulation der Waren und vor allem des Kapitals et cetera) sind allesamt Teil dieser Logik. Eine an den Zielen und Zwecken der Menschen orientierte Rationalität würde diesen Prinzipien das Recht benachteiligter Völker entgegenstellen, sich zu schützen und eigene Wettbewerbsvorteile zu entwickeln (die ja nicht naturgegeben sind, sondern durch Investition zustande kommen), sowie ihr Recht, sich in multinationalen Gemeinschaften zusammenzuschließen, ihre Grundbedürfnisse aus eigenen Ressourcen zu decken und sich dabei gegen die Konkurrenz aus den hoch entwickelten Ländern abzuschirmen.

Mit Hilfe objektiver Indikatoren ließen sich präzisere Umweltnormen definieren, an die sich jede Politik wirtschaftlicher Optimierung halten muss. Von diesem „biologischen“ Zugang sind neue Organisationsprinzipien abzuleiten, die die wirtschaftlichen und politischen Systeme in Zukunft inspirieren können. In all diesen Bereichen muss das Prinzip der Solidarität an die Stelle des Wettbewerbsprinzips treten. Das ist aus Gründen der ökonomischen Rationalität geboten und hat nicht das Geringste mit Gutmenschentum zu tun.

Fußnoten: 1 In der Kontroverse, die sich von 1932 bis 1936 erstreckte, trat Keynes dafür ein, die Wirtschaft durch Konsumankurbelung und Lohnerhöhungen wieder zu beleben. Sein Kontrahent war der Österreicher Hayek, der sich für eine Politik des Sparens zu Lasten der Löhne und Staatsausgaben aussprach. Er wurde später zur Galionsfigur des Neoliberalismus. 2 Siehe: Joseph Stiglitz, Amartya Sen und Jean-Paul Fitoussi: „The Measurement of Economic Performance and Social Progress“, www.stiglitz-sen-fitoussi.fr/documents/overview-eng.pdf.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

René Passet ist Wirtschaftswissenschaftler. Der Text ist ein Auszug aus seinem Buch „Les grandes représentations du monde et de l’économie à travers l’histoire. De l’Univers magique au tourbillon créateur“, Paris (Les Liens qui libèrent) 2010.

Le Monde diplomatique vom 12.11.2010, von René Passet