12.11.2010

Tauwetter

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Tauwetter

Der Permafrost in Sibirien geht zurück von Tony Woods

Decken und Wände hier im Korridor sind mit dicken Eisschichten überzogen, bei näherem Hinsehen kann man die zarten, sechseckigen Kristalle erkennen. Wir befinden uns im Keller des Permafrost-Instituts von Jakutsk. Die roten Ziffern einer Digitalanzeige melden minus 8 Grad Celsius. Nach wenigen Minuten ist die Temperatur – wegen der atmenden und sprechenden Besucher – auf minus 7 Grad gestiegen. Als wir zurück an der Oberfläche sind, empfängt uns ein Sommertag mit gleißender arktischer Sonne und einer Temperatur von 35 Grad.

Der sengende Sommer hat auch in Sibirien, wie im übrigen Russland, weite Teile der Landschaft in Zunderholz verwandelt. Die internationalen Medien brachten nur die apokalyptischen Meldungen aus dem europäischen Russland: tausende Menschen, deren Häuser abgebrannt sind; Millionen Hektar zerstörter Ackerboden; und Moskau, das am Rauch der schwärenden Torffeuer fast erstickt ist. Doch auch in Russlands fernem Osten richtete die Hitze großen Schaden an. In dem Hügelland südwestlich von Jakutsk hat man für die Autofahrer Warnhinweise aufgestellt, bestehend aus zwei Meter hohen Holzbuchstaben, von denen allerdings einige umgefallen sind oder geklaut wurden, sodass man die Wörter kaum noch entziffern kann.

Doch unter der Erde herrscht in Jakutsk ewiger Winter. Die Stadt liegt im Zentrum der autonomen Republik Sacha, der kältesten besiedelten Region der Welt. Bis 1990 hieß Sacha noch Jakutien, nach dem russischen Namen für die größte Ethnie der Gegend. Mit einer Fläche von 3 Millionen Quadratkilometern ist Sacha die größte Teilrepublik der Russischen Föderation – und zugleich eine der am dünnsten besiedelten (0,3 Menschen pro Quadratkilometer). Zu zaristischen Zeiten war Jakutien, wie ganz Sibirien, ein Verbannungsort für alle möglichen Oppositionellen. Dekabristen, polnische Rebellen, Narodnikis und Sozialdemokraten lebten hier in einer Art offenem Strafvollzug – die Region war so abgelegen und die klimatischen Verhältnisse waren so hart, dass man auf Gefängnismauern verzichten konnte.

Zwei Städte in der Republik Sacha erheben den Anspruch, „Kältepol“ der Welt zu sein, weil sie mit minus 68 Grad Celsius die tiefste Temperatur verzeichnet haben, die außerhalb der Antarktis jemals auf Meereshöhe gemessen wurde. Die Durchschnittstemperatur in Jakutsk beträgt im Januar minus 40 und im Jahresdurchschnitt minus 8 Grad. Die Stadt liegt im Tal des träge fließenden Stroms Lena und wird im Westen durch einen niedrigen, kahlen Höhenzug begrenzt. Bäume wachsen in dieser Gegend nur an Stellen, wo sie vor den peitschenden Winden geschützt sind.

Jakutsk hat heute 250 000 Einwohner, die zu etwa gleichen Teilen Sacha und Russen sind. Auch andere Nationalitäten der ehemaligen Sowjetunion sind vertreten, zum Beispiel Migranten aus Zentralasien, die meisten von ihnen sind Bauarbeiter. Auf den Straßen hört man die Turksprache der Sacha ebenso wie Russisch und Tadschikisch. Entstanden ist die Stadt aus einem 1632 gegründeten Fort, das ein Expeditionscorps der Kosaken angelegt hatte, um die Region für den Pelzhandel zu erschließen. Die Berichte der ersten Militärgouverneure heben hervor, wie ungastlich der neue Vorposten des Zarenreichs war. In einem Schreiben von 1640 wird der Obrigkeit in Moskau mitgeteilt, dass sie sich „keinen Weizen erhoffen“ dürfe, weil „die Erde selbst im Sommer nicht ganz auftaut“. Und 1686 meldete der örtliche Woiwode nach mehreren missglückten Versuchen, einen Brunnen zu graben, dass der Boden nur bis zu einer Tiefe von zwei Arschins (1,4 Meter) auftaue, darunter sei die Erde „immer hart gefroren“.

Entdeckt haben das als Permafrost bekannte Phänomen also die Kosaken. Das ursprünglich englische Wort stammt aus dem Jahr 1943; älter ist der umgangssprachliche russische Ausdruck wetschnaja merslota (wörtlich: ewig gefrorener Boden), der schon Mitte des 19. Jahrhunderts in einem wissenschaftlichen Lexikon auftauchte. Für das Phänomen selbst hatten sich russische Geografen, Naturkundler und Entdecker schon lange davor interessiert: Michail Lomonossow, der Vater der russischen Naturwissenschaften, suchte bereits im 18. Jahrhundert eine Erklärung dafür, wie es zu ganzjährig gefrorenen Böden kommt. Ihm lagen auch Berichte von „merkwürdigen, großen, an Elefanten erinnernden Tieren“ vor, die man tief im Boden gefunden hatte – gefrorene Mammuts, von denen die letzten Exemplare in der Gegend vermutlich vor 10 000 Jahren gelebt haben.

Im 19. Jahrhundert gab es die ersten Versuche, die Permafrost-Region in ihrer Ausdehnung zu bestimmen und dann auch zu beherrschen: Auf den Spuren von Forschungsreisenden wie Karl Ernst von Baer, Ferdinand von Wrangel und Alexander von Middendorff (interessanterweise waren viele von ihnen Baltendeutsche) folgten eine Generation später die Ingenieure, die mit der Planung der Transsibirischen Eisenbahn betraut waren. 1941 wurde dann das Permafrost-Institut gegründet, nachdem sowjetische Wissenschaftler eine Disziplin namens merslotowedenije (Frostologie) entwickelt hatten, die sich der Erforschung der „Kriosphäre“ widmete. Diese Forschungstätigkeit hat in Jakutsk sichtbare Spuren hinterlassen. Die meisten großen Gebäude stehen, einen Meter über dem Boden, auf dutzenden Betonstelzen. Das gilt für Verwaltungskomplexe und sechsstöckige Wohnhäuser, für das neue Seminar der orthodoxen Kirche und eine Fabrikruine am Stadtrand.

Die Stelzenarchitektur verleiht Jakutsk etwas Vorläufiges, als wippe die Stadt über dem Boden wie ein Vogel auf dem Ast. Diese Bauweise soll verhindern, dass die Wärme von der Heizung der Häuser auf den Boden abstrahlt. Denn das würde den eisigen Untergrund auftauen, auf dem die Fundamente der Gebäude ruhen, und zu deren Einsinken führen. Wie sinnvoll die neue Stelzentechnik ist, zeigt sich an den Holzhäusern im Stadtzentrum und vor allem in den ärmeren Außenbezirken: Das Alter dieser Häuser lässt sich am Abstand zwischen Fenstersimsen und Gehweg ablesen, je geringer er ist, umso älter sind die Häuser.

Durch die ganze Stadt schlängeln sich Gas- und Dampfleitungen, die Fernwärme in die Häuser bringen. Auch sie liegen auf Betonstelzen und führen in erstaunlichen Bögen und Winkeln über die Straßen. Die extremen Temperaturunterschiede – die winterlichen Tiefst- und sommerlichen Höchstwerte können hier bis zu 100 Grad Celsius auseinander liegen – sind für die Infrastruktur von Jakutsk eine ständige Belastung, unter der sie oft genug zusammenbricht. Viele Häuser sind vom Klimastress gezeichnet, haben eingedellte Dächer und verformte Mauern. Im Sommer gibt der Boden, wenn er ungleichmäßig auftaut, unter manchen Häusern nach. Seit 1970 sind deshalb gut 300 Gebäude eingestürzt, mit steigender Tendenz seit Anfang der 1990er Jahre – eine äußerst beunruhigende Entwicklung, da in Jakutsk nach wie vor die meisten Gebäude aus Holz sind.

Haben wir es hier mit einem weiteren Beweis für den Klimawandel zu tun? Die meisten Leute in Jakutsk verweisen eher auf Fehler bei der Bauplanung und -ausführung oder auf den Wärmeeffekt, den ein bestimmtes Haus für die obersten Schichten des Permafrostbodens hat. Nur eine kleine Minderheit bringt die Probleme mit dem weltweiten Klimawandel in Verbindung. Selbst der Bericht von Greenpeace Russia für 2009, auf den ich mich im Folgenden stütze, formuliert eher vorsichtig, dass der Klimawandel „gewiss eine Rolle spielt“.1

Dass das Thema in Russland anders wahrgenommen wird als in den USA und Westeuropa, war auch an den Reaktionen der Medien auf die extreme Hitzewelle dieses Sommers zu erkennen. Im Westen käme heute kein Bericht über derart dramatische Anomalien ohne Hinweis auf den Klimawandel aus (samt der üblichen Warnung, dass es sich dabei nur um einen Vorgeschmack auf schlimmere, künftige Entwicklungen handle). In der russischen Presse dagegen kommt diese Argumentationsfigur kaum vor. In Zeitungs- und Fernsehberichten wurde die extreme Hitzewelle dieses Sommers eher heruntergespielt. So konnte man Mitte Juli in der Zeitschrift Expert lesen, die Trockenheit sei nicht zu vergleichen mit der sasucha des Jahres 1972 – ganz zu schweigen von den Jahren 1891 und 1921. Und Puschkin und Gogol hätten etliche noch heißere Sommer erlebt.

Die verheerenden Waldbrände dieses Sommers könnten diese bequeme Sicht der Dinge ins Wanken bringen. Immerhin erklärte Präsident Medwedjew am 30. Juli, dass sie eine Folge des Klimawandels seien. Der Dokumentarfilm „Die Geschichte einer Täuschung“ hingegen, der im Oktober 2009 auf dem Staatssender Kanal 1 lief, präsentierte den Klimawandel als Produkt einer großen Medienverschwörung, mit Al Gore an der Spitze.

Im Sommer gibt der Boden nach

In der russischen Öffentlichkeit ist diese Skepsis weit verbreitet. Sie nimmt Klimaschutzmaßnahmen meist als eine – mehr oder weniger gut gemeinte – Methode wahr, den russischen Öl- und Gashandel zu behindern. Und weithin herrscht die für Schwellenländer typische Auffassung, nach der die reichen Industriestaaten mittels wissenschaftlicher Argumente versuchen, den weniger entwickelten Ländern die Leiter für den Aufstieg wegzuziehen.

Dabei hatte Moskau durch die Ratifizierung des Kioto-Protokolls dafür gesorgt, dass dieses 2005 tatsächlich in Kraft treten konnte. Aber die Unterzeichnung dieses Abkommens war weniger der Ausdruck einer ökologischen Haltung als eine Folge des industriellen Zusammenbruchs in der postsowjetischen Ära. Der führte nämlich dazu, dass die Emissionen in Russland zwischen 1990 und 2004 um 32 Prozent zurückgingen – und die Regierung ihr ursprüngliches Ziel gleichbleibender Emissionen weit übertraf.

So konnte Medwedjew im Juni 2009, als er die Emissionsziele seines Landes für 2020 verkündete, darauf hinweisen, dass Russland dann tatsächlich 30 Prozent mehr klimaschädliche Treibhausgase ausstoßen dürfe als heute. „Wir werden unser Entwicklungspotenzial nicht beschränken“, fügte er noch hinzu.

Kurz vor dem Weltklimagipfel in Kopenhagen schaffte es dann der Chef der russischen Delegation, die Umweltaktivisten auf die Palme zu bringen. Michail Selichanow behauptete, die Naturwissenschaftler in Russland und anderswo wären sich „noch nicht einig über die Ursachen der globalen Erwärmung“. Entsprechend schlug er die Gründung einer internationalen Kommission vor, die herausfinden sollte, inwieweit die Menschen zum Klimawandel beigetragen haben. Dass es einen Weltklimarat – den von der UN einberufenen Intergovernmental Penal for Climate Change (IPCC) – bereits seit 1988 gibt, war Selichanow anscheinend entgangen.

Auch unter russischen Wissenschaftlern bestreitet niemand mehr die Tatsache des Klimawandels. Die Daten sprechen schließlich für sich: Nach Messungen von Rosgidromet, dem staatlichen hydrologischen und meteorologischen Institut, sind in Russland die Jahresdurchschnittstemperaturen in den letzten hundert Jahren um 1,29 Grad Celsius gestiegen; weltweit waren es im selben Zeitraum nur 0,74 Grad. Dabei war der Anstieg in den letzten 30 Jahren besonders hoch (um 1,33 Grad).

Uneins sind sich die Experten allerdings über die Ursachen und Folgen des Klimawandels. Die einen betonen die anthropogenen Faktoren, die anderen verweisen auf langfristige Klimaschwankungen, auf die der Mensch kaum Einfluss hat. Die erste Gruppe warnt vor den dramatischen Folgen einer weiteren Erwärmung und dringt auf rasche Reduzierung der Treibhausgasemissionen, während die zweite derlei Alarmrufe für zwecklos und überflüssig erklärt. Noch 2008 meinte Wladimir Melnikow, der Leiter des Instituts zur Erforschung der Kriosphäre in der Stadt Tjumen, die Leute sollten „sich nicht so aufregen“, es werde schon keine Katastrophen geben.

Zur zweiten Gruppe gehören viele Permafrost-Experten, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht haben, die seit zigtausend Jahren ganzjährig gefrorenen Böden zu untersuchen. In Jakutsk ist die Permafrost-Schicht zwischen 250 und 350 Meter dick. Sie reicht damit doppelt so tief wie der Schacht, den der Kaufmann und Freizeitwissenschaftler Fjodor Schergin zwischen 1828 und 1837 in den Boden getrieben hat.

In anderen Regionen der Republik Sacha reicht der Permafrost bis in 1 300 Meter Tiefe. Es würde mehrere hundert Jahre – bei ständig steigenden Temperaturen – dauern, bis der Boden hier vollständig auftaut. Das übersteigt freilich den Horizont aller Modelle unserer heutigen Klimaforscher. Viele Experten glauben deshalb, dass der Permafrost jedes erdenkliche IPCC-Szenario überdauern wird. Einige schreiben ihm sogar eine geradezu mystische Beharrungskraft zu. Der oben erwähnte Melnikow etwa verstieg sich zu der Behauptung, Permafrost sei seiner Natur nach „resistent gegen jede Art von Wandel“.

Andere russische Experten sind jedoch überzeugt, dass der Klimawandel schon heute auf die Permafrostschichten einwirkt. Der Biologe Sergei Kirpotin von der Universität Tomsk hält den Permafrost inzwischen für so instabil, dass man nicht mehr von „ewig“ gefrorenem Boden sprechen könne. Sowohl das staatliche Rosgidromet als auch Greenpeace Russland registrieren seit den 1970er Jahren in der „aktiven“ Schicht – gemeint sind die paar Meter, die im Sommer auftauen – einen Temperaturanstieg zwischen 1 Grad Celsius im nördlichen Westsibirien und 1,5 Grad in der zentralen Sacha-Republik. Sie gehen auch davon aus, dass diese Schicht allmählich immer dicker wird, was ihre Belastbarkeit verringert und folglich ein erhöhtes Risiko für Gebäude, Pipelines und Straßen bedeutet. Für andere Regionen sagen sie ein vollständiges Verschwinden des Permafrost voraus. Welche langfristigen ökologischen Veränderungen das zur Folge hätte, lässt sich heute kaum vorhersagen.

Der Permafrost erstreckt sich über zwei Drittel des russischen Territoriums, also auf 10 Millionen Quadratkilometern, die den Großteil der Fläche östlich des Urals ausmachen. Es gibt drei Hauptarten von Permafrost: den kontinuierlichen (das heißt großflächigen und ganzjährig gefrorenen), den diskontinuierlichen (das heißt zeitweise aufgetauten) und den sporadischen (insularen) Permafrostboden. Diese drei Arten verteilen sich auf drei konzentrische Zonen: In der Mitte ist eine große Zone kontinuierlichen Permafrostbodens, daran grenzt ein Ring von diskontinuierlichem an, und ganz außen kommt ein Saum von sporadischem Permafrost.

Sacha bildet den ewig eisigen Kern, der sich zwischen dem Jenissei im Westen und der Beringstraße im Osten erstreckt. Seine südliche Grenze verläuft von der Mündung des Ob (bei der Halbinsel Jamal) in ostsüdöstlicher Richtung bis Lensk an der Lena und von da entlang des 60. Breitengrads nach Osten zum Ochotskischen Meer, wo sie nach Norden auf eine Linie einbiegt, die etwa 200 Kilometer westlich der Küste verläuft. Weitere Zonen von kontinuierlichem Permafrost sind die höher gelegenen Gebiete zwischen dem Nordostufer des Baikalsees und dem Ochotskischen Meer. Hier ist der Boden bis zu einer Tiefe von mindestens 100 Metern gefroren, stellenweise auch bis zu einem Kilometer, wie etwa in Werchojansk, 600 Kilometer nordwestlich von Jakutsk.

Um diesen Kern liegt ein Gürtel von diskontinuierlichem oder sporadischem Permafrost, der um den Baikalsee herum breiter wird und eine Dicke von 25 bis 100 Metern erreicht. Inseln von sporadischem Permafrost, wo nur an der Oberfläche zwischen 10 und 50 Meter, manchmal auch noch weniger, gefroren sind, erstrecken sich über ein Gebiet, das im Westen die gesamte Kola-Halbinsel und Teile der arktischen Küste des europäischen Russland umfasst, und weiter im Osten den größten Teil des Beckens zwischen Ob und dem Oberlauf des Jenissei sowie die Gegend südlich des Baikalsees.

Das kalte Herz der Republik Sacha

Die Klimaforscher hüten sich, die Erwärmung der Erdatmosphäre als direkte Ursache für die veränderten Temperaturverhältnisse unter der Erdoberfläche zu bezeichnen, zumal sie auch Faktoren wie Bodenbeschaffenheit oder Vegetation und Schneedecke berücksichtigen müssen. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass manche dramatischen Veränderungen unter dem Oberboden erst in Zeiten der globalen Erwärmung aufgetreten sind. Nach Angaben von Greenpeace Russia ist die Südgrenze des sporadischen Permafrost in den letzten 35 Jahren nach Norden gewandert, und zwar in Teilen des europäischen Russland um 35 bis 40 und in der Nähe des Urals um 80 Kilometer.

Wichtigster Autor des Greenpeace-Reports von 2009 ist Oleg Anisimow, Chef des staatlichen Hydrologischen Institut in St. Petersburg (Rosgidromet). Mit seiner Kollegin Swetlana Renewa hatte er bereits 2006 eine Studie verfasst, die auf Basis von fünf unterschiedlichen globalen Klimamodellen prognostiziert, bis zu welcher Tiefe der Boden auftauen wird und welche neue Landkarte sich dadurch für die Permafrostgebiete ergibt.

Ein anderes Modell hat das US-Forschungsinstitut GFDL (Geophysical Fluid Dynamics Laboratory) in New Jersey entwickelt. Nach ihrem mittleren Szenario könnte sich die „aktive“, also langsam auftauende Schicht bis 2050 in weiten Teilen Sibiriens um 25 bis 40 Prozent ausdehnen, und der oberflächennahe Permafrost auf der nördlichen Hemisphäre würde deutlich schrumpfen: bis 2030 um 11 Prozent, bis 2050 um 18 und bis 2080 um 23 Prozent. Für die Zone des kontinuierlichen Permafrosts liegen die entsprechenden Werte bei 18, 29 und 41 Prozent. Damit wären die Gebiete, in denen heute kontinuierlicher Permafrost herrscht, bis 2080 größtenteils nur noch dem diskontinuierlichen Permafrost zuzurechnen. Davon unberührt bliebe nur das kalte Herz der Republik Sacha.

Auch das russische Institut Rosgidromet rechnet damit, dass sich in Westsibirien die Südgrenze der Permafrost-Zone in den nächsten 20 bis 25 Jahren um 30 bis 80 Kilometer zurückzieht. Das klingt wie eine gute Nachricht: je kleiner die Kriosphäre, desto milder das Klima und desto günstiger die Lebensbedingungen für ihre Bewohner. In den Regionen mit diskontinuierlichem und sporadischem Permafrost gibt es bereits heute wichtige Bevölkerungszentren und Verbindungswege. An ihrer Südgrenze liegen die größeren sibirischen Städte, aufgereiht wie an einer Perlenschnur entlang der großen Eisenbahnlinie. Industriezentren wie Bratsk und Krasnojarsk würden schon durch geringere Heizkosten von einem milderen Klima stark profitieren. Einer Schätzung von Rosgidromet zufolge wird Russland 2015 fünf Heiztage weniger haben als im Jahr 2000.

Hinzu kommen weitere Vorteile: Die agrarisch nutzbare Fläche würde vergrößert, die Wachstumsperiode verlängert, die Zuckerrüben-Grenze deutlich nach Norden verschoben. Günstige Aussichten ergeben sich auch für den Abbau der natürlichen Ressourcen, die in den bislang unzugänglichen Permafrostschichten lagern. Schon heute stammen 90 Prozent der Gas- und 75 Prozent der Ölproduktion aus den arktischen Regionen Russlands, wo auch ein erheblicher Teil der globalen Nickel-, Kobalt-, Kupfer- und Diamantvorkommen lagern. Der Klimawandel dürfte also die Erschließung weiterer Bodenschätze möglich machen.

Doch es gibt auch eine Reihe von Gefahren. Zum einen würde der Permafrost nicht gleichmäßig auftauen, sondern je nach Dichte, Porösität und Eisanteil im Boden von Ort zu Ort unterschiedlich. Ganze Landstriche würden beim Schmelzen der darunter liegenden Eisschicht einfach einbrechen. Der Biologe Sergei Kirpotin berichtet, dass sich in Teilen von Westsibirien bereits eine Bodenformation herausbildet, die man „Thermokarst“ nennt – in Anlehnung an die zerklüfteten Karstlandschaften, die durch die Verwitterung von Kalkgestein entstehen. Solche Veränderungen könnten Wohnhäuser, Schulen und Fabriken ernsthaft gefährden. Oleg Anisimov und Swetlana Renewa haben auf Basis des oben erwähnten GFDL-Modells eine „Gefahrenlandkarte“ entworfen, mit der sie darstellen, in welchen Regionen die Gebäude am stärksten gefährdet sind.

Ein hohes Risiko besteht demnach für die arktische Küste und einen Landstreifen, der sich entlang der heutigen Südgrenze der Kriosphäre von der Kola-Halbinsel im Westen bis zum Baikalsee im Osten zieht. Hier liegen große Städte wie Murmansk, Irkutsk, Chita, Blagoweschkensk und Komsomolsk am Amur, aber auch große Teile der Ölregion Tjumen, die fast 10 Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts erzeugt.

Ebenso gefährdet ist das 350 000 Kilometer lange sibirische Pipelinenetz. Schon jetzt gibt es jedes Jahr tausende Störfälle, weil sich unter den Rohren der Boden absenkt oder verschiebt. Sollte es tatsächlich zu den von Klimaforschern prognostizierten dramatischen Veränderungen kommen, werden solche Störfälle weiter zunehmen.

Womöglich wird sich mit dem Auftauen des Permafrost sogar die Zusammensetzung der Erdatmosphäre verändern. Große Teile Sibiriens sind Sumpfland, besonders im Westen, wo die Torfmoore im Einzugsgebiet des Ob eine Fläche von schätzungsweise einer Million Quadratkilometern bedecken.2 Aus der Vogelperspektive gleicht die Landschaft am Mittellauf des Ob einem riesigen grünen Filztuch, gesprenkelt mit den blauschwarzen Flecken der Teiche und abgestorbenen Flussarme und durchzogen von mäandernden Flussschleifen, die sich als breite Bänder bis zum Horizont erstrecken. Seit den 1960er Jahren, als unter dem Samotlor-See Öl entdeckt wurde, ist diese halb unter Wasser stehende Landschaft zur Hauptquelle der russischen Exporteinnahmen geworden; am Ob gelegene Städte wie Neftejugansk und Nischnewartowsk sind seither rasch gewachsen.

Tonnenweise tiefgekühlter Kohlenstoff

Nach Berechnungen von Sergei Kirpotin liegen unter dem Boden Westsibiriens zwischen 50 und 70 Milliarden Tonnen Kohlenstoff – gut ein Viertel der Gesamtmenge, die sich in unserem Ökosystem angesammelt hat. Der größte Teil dieses Kohlenstoffs ist derzeit in Frostböden unter Seen, Tümpeln oder Flüssen gebunden. Wenn sich die Kriosphäre verkleinert, könnten davon Millionen Tonnen in Form von Methangas freigesetzt werden.

Große Mengen Methan (chemisch CH4) befinden sich auch in den Tiefen des Arktischen Ozean, wo sie unter dem gefrorenen Meeresgrund oder in Eiskristallen eingelagert sind. Auch dieses Gas könnte bei einer weiteren Erwärmung an die Oberfläche steigen. CH4 ist für die Atmosphäre weitaus belastender als CO2 und könnte viel schlimmere Auswirkungen auf das globale Klima haben als Kohlendioxid.3

Einige Wissenschaftler befürchten, dass wir damit eine Erwärmungsschwelle überschreiten, die wir ohne das freigesetzte Methan erst Jahrzehnte später erreichen würden. Noch absorbieren die Sümpfe und Torfmoore in Sibirien Kohlendioxid aus der Atmosphäre, auch weil sie sich flächenmäßig ausdehnen. Aber weiter im Norden bewirkt das Auftauen des arktischen Permafrostbodens – zusammen mit den steigenden Meerestemperaturen –, dass Methangase in einem bislang nicht bestimmbaren Umfang in die Atmosphäre gelangen.

Über das aktuelle Ausmaß und die langfristigen Folgen dieser Methan-Emissionen sind sich die Klimaforscher uneinig. Anisimow und Rewena gehen beispielsweise davon aus, dass bis 2050 die Methan-Emissionen entlang der arktischen Küste um etwa 50 Prozent und in der Zone des diskontinuierlichen Permafrosts um 30 bis 50 Prozent zunehmen werden. Anders Stephen Sicht, der am britischen Hadley Centre for Climate Change arbeitet. Er nimmt an, dass das allmähliche Austreten von Methangasen aus dem sibirischen Permafrost den Methananteil in der Atmosphäre verdoppeln wird, wodurch die globale Erwärmung in den nächsten hundert Jahren um weitere 10 bis 25 Prozent zunehmen würde. Anisimow dagegen ist der Überzeugung, dass die Methan-Emissionen nur unwesentlich zur globalen Erwärmung beitragen werden. Auch das staatliche Rosgidromet versichert in seinem Bericht 2008, die zunehmenden Methan-Emissionen aus den sibirischen Feuchtgebieten und dem auftauenden Permafrost würden „keinerlei Auswirkungen auf das Weltklima haben“.

All diese Schlussfolgerungen beruhen jedoch auf ziemlich lückenhaften Daten. Das liegt zum Teil daran, dass diese Gebiete so abgelegen sind. Womöglich werden die arktischen Gewässer auch viel mehr Methan freisetzen als bislang angenommen: Im März 2010 wies eine Forschergruppe um die Biochemikerin Natalia Schachowa (University of Alaska) und Igor Semiletow im Fachjournal Science darauf hin, dass in Ostsibirien in der Schelfzone des Arktischen Meeres – einem riesigen Gebiet, zu dem auch die Laptewsee, das Ostsibirische Meer und der russische Teil der Tschuktschensee gehören – große Mengen an CH4 gebunden sind. Nach ihren Berechnungen treten in den seichteren Abschnitten dieser Schelfzonen jedes Jahr etwa 8 Milliarden Tonnen Methangas aus, so viel, wie „für die Ozeane der ganzen Welt angenommen werden“.

Ein Problem sind freilich auch die Messmethoden. Satellitenaufnahmen können alle möglichen Informationen liefern, Angaben über die Menge an Treibhausgasen, die beim Schmelzen aus sibirischen Seen entweichen, können sie nicht machen. Klimaforscher hingegen messen das „Ausatmen“ von Gasen in der Regel direkt an der Wasseroberfläche und extrapolieren daraus allgemeinere Schätzungen. Dabei spricht nach den Untersuchungen, die ein russisch-amerikanisches Forscherteam im Norden der Tschuktschen-Halbinsel durchgeführt hat, vieles dafür, dass das meiste Methangas gar nicht durch Oberflächendiffusion freigesetzt wird. Geologen sprechen in diesem Fall von Ebullition – das sind Gasausbrüche, die entweder Blasen im Eis entstehen lassen oder aber bewirken, dass größere Wasserflächen erst gar nicht zufrieren.4

Das Forscherteam kommt zu dem Schluss, dass wir die gegenwärtigen quantitativen Prognosen über die Methanemissionen deutlich anheben müssen (um mindestens 10 und höchstens 63 Prozent). Wenn das richtig ist, könnten durch das Auftauen des Permafrosts riesige Methanmengen in die Atmosphäre geschleudert werden – mit unermesslichen Folgen für die globale Wasserstoffbalance. Wir könnten also jederzeit über die nächste Schwelle der Erderwärmung gestoßen werden – wenn das nicht sogar schon geschehen ist. Womöglich ist eine Wolke aus 40 000 Jahre alten Gasen, die sich irgendwo in den unbewohnten Räumen zwischen dem Ural und Alaska gebildet hat, bereits in aller Stille dabei, unsere Zukunft entscheidend zu verändern.

Fußnoten: 1 Auf www.greenpeace.org/russia ist der Bericht „Major natural and social-economic consequences of climate change in the permafrost region: predictions based on observations and modeling“ nachzulesen, allerdings nur auf Russisch. 2 Hier liegt auch das mit 68 000 Quadratkilometern größte Torfmoor der Erde: das Wasjugan-Moor. 3 Der Beitrag von CH4 zum Treibhauseffekt ist 20- bis 30-mal höher als der von CO2. 4 Siehe den Beitrag der Forscher K. M. Walter, S. A. Zimov, J. P. Chanton, D. Verbyla und F. S. Chapin: „Methane bubbling from Sibirian thaw lakes as a positive feedback to climate warning, in: Nature, Nr. 443, 7. September 2006, S. 71–75.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Tony Wood ist Redakteur bei der New Left Review. 2007 erschien sein Buch „Chechnya: The Case for Independence“ (Verso, London).

© London Review of Books, für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin.

Le Monde diplomatique vom 12.11.2010, von Tony Woods