Blues, Brot und Spiele
Brasilien vor der WM von Gerhard Dilger
Brasilien wird einen Kampf mit sich selbst erleben, es wird sich mit anderen Mannschaften auseinandersetzen, aber auch mit seiner eigenen Unfähigkeit, sich zu verändern und das Land zu verwalten.“ So lautet die WM-Prognose von José Miguel Wisnik, dem führenden Fußballtheoretiker Brasiliens,1 die er vor Kurzem auf einer Diskussionsveranstaltung in São Paulo vorbrachte. „Die Gesellschaft passt auf“, fügte er hinzu, und das sei ein gutes Zeichen.
Einen Monat vor Beginn der Weltmeisterschaft haben die Brasilianer den Blues. Die Wirtschaft schwächelt, die Energiepolitik steckt in der Krise. Der halbstaatliche Multi Petrobras steht wegen Korruptionsaffären in der Kritik, ebenso zahlreiche Politiker. In den Metropolen bringt die Militärpolizei nahezu täglich Unschuldige um.2 Im Touristenviertel Copacabana in Rio fanden im April heftige Auseinandersetzungen zwischen Polizisten und Jugendlichen aus einem nahe gelegenen Armenviertel statt.
Letzten Umfragen zufolge erwarten 55 Prozent der Einheimischen durch die WM mehr Nach- als Vorteile für ihr Land, nur noch 36 Prozent sehen das umgekehrt. Zusätzliche Brisanz erhält die WM dadurch, dass im Oktober Präsidentschafts-, Gouverneurs- und Parlamentswahlen stattfinden. Ob Präsidentin Dilma Rousseff von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei PT ihrer Favoritenrolle gerecht werden und die Wiederwahl schaffen kann, ist noch nicht ausgemacht.
„Das Duo Lula/Dilma ist verantwortlich für eine WM in Brasilien, die nicht annäherungsweise eine WM für Brasilien sein wird“, bringt der Fußballjournalist Juca Kfouri das Dilemma der Mitte-links-Regierung auf den Punkt. Er beziffert die Kosten des Fifa-Spektakels auf 40 Milliarden Dollar, so viel wie die letzten drei WMs zusammen.3 Der Fußballweltverband wird hingegen um die 5 Milliarden Dollar verdienen, 36 Prozent mehr als 2010 in Südafrika und mehr als doppelt so viel wie vor acht Jahren in Deutschland.
Allein die zwölf prunkvollen Stadien verschlingen mehr als dreimal so viel Geld – fast ausschließlich von der öffentlichen Hand – wie 2007 angekündigt. Mehrere Fußballtempel werden erst in allerletzter Minute vollendet werden; immer wieder haben die Baufirmen ihre Arbeiten verzögert, um die Behörden besser erpressen zu können. Doch auch Steuerbefreiungen und Billigkredite konnten die Kostenexplosion nicht eindämmen. Zahlreiche der oft als künftiges „Vermächtnis“ der WM bezeichneten Projekte des öffentlichen Nahverkehrs wurden auf Eis gelegt oder werden erst in ein paar Jahren fertig sein. Das ist die gewohnte Logik von so vielen „öffentlich-privaten“ Megaprojekten, nicht nur in Brasilien.4
Besonders drastisch sind die Folgen für die direkt Betroffenen, etwa für die Bauarbeiter und die Anwohner des Itaquerão-Stadions 20 Kilometer östlich vom Zentrum São Paulos. Dort soll am 12. Juni das WM-Eröffnungsspiel stattfinden. In die Schlagzeilen geriet die Arena, weil dort im letzten halben Jahr bei zwei Unfällen wegen des enormen Zeitdrucks mit 10-Stunden-Tagen und schlechten Sicherheitsbedingungen drei Bauarbeiter umkamen. Im November 2013 stürzte ein Kran um und erschlug zwei Arbeiter – der 56-jährige Kranführer hatte zuvor 18 Tage am Stück gearbeitet.
„Ja, wir sind Brasilianer, und uns gefällt die WM“, sagt Darcy Silva, 53, einer der Sprecher von Vila da Paz, eines Armenviertels, das knapp einen Kilometer vom Itaquerão entfernt liegt, zwischen einem stinkenden Bach und einer Autobahn. „Aber wir spüren die Folgen am eigenen Leib. Für die WM wird ein Haufen Geld ausgegeben. Und was haben wir davon?“
Die 300 Familien der Favela werden umgesiedelt, ein Drittel noch vor der WM. Nach jahrelangem Widerstand erreichten sie immerhin, dass nun ganz in der Nähe Sozialwohnungen gebaut werden, aber ob die in den kommenden Wochen fertig werden, ist ungewiss. Ähnliche Teilerfolge haben WM-Basiskomitees an allen zwölf Austragungsorten erstritten, doch Zehntausende – offizielle Zahlen gibt es nicht – wurden unter oft menschenunwürdigen Bedingungen zwangsgeräumt.
Im Juni 2013 hatte sich der Unmut über die anhaltende soziale Schieflage und die weitgehend als korrupt wahrgenommene Politikerkaste in den größten Straßenprotesten seit dem Ende der zivil-militärischen Diktatur (1964 bis 1985) entladen. Die WM-Generalprobe Confederations Cup wirkte dabei wie ein Katalysator – zu krass war der Kontrast zwischen den hochmodernen Fifa-Stadien und den oft verheerenden Verhältnissen im Gesundheits-, Bildungs- oder Transportwesen.5 Hinzu kommt, dass sich die ärmeren Fußballfans die teuren Tickets kaum leisten konnten – drinnen saßen die Besserverdienenden.
Es war eine Zeitenwende. Denn zuvor schien nichts den Aufstieg Brasiliens zum Global Player symbolträchtiger zu belegen als die Gastgeberrolle für die Fußball-WM der Männer 2014 und für die Olympischen Spiele 2016 in Rio. 2009 verwies Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (2003 bis 2010) in seiner Olympia-Bewerbungsrede auf die großen Erfolge seiner Regierung bei der Armutsbekämpfung: „In den letzten Jahren haben 30 Millionen Brasilianer die Armut hinter sich gelassen, 21 Millionen sind in die neue Mittelschicht aufgestiegen“, und „auf einer neuen Wirtschaftsweltkarte“ werde die Bedeutung Brasiliens offensichtlich.
Nach dem Sieg über die konkurrierenden Bewerber in den Industriestaaten brach er in Tränen aus: „Da wir ein koloniales Land waren, waren wir daran gewöhnt, uns nichts zuzutrauen. Wir dachten, manche Dinge könnten nur andere Länder schaffen.“ Brasiliens häufig beschworener „Straßenköterkomplex“6 schien definitiv überwunden. Dazu passte, dass die große Mehrheit der Bevölkerung voller Optimismus in die Zukunft blickte. Doch selbst vor fünf Jahren, als Brasilien die Auswirkungen der weltweiten Finanzkrise gut bewältigt hatte und dem Wirtschaftsmagazin The Economist als Musterschüler galt, stimmten bei Weitem nicht alle in den Jubel ein.
Unter Lula herrschte in der internationalen Berichterstattung das Bild Brasiliens als eines „sanften Riesen“ vor, wo in Zeiten des weltweiten Raubtierkapitalismus mehr als anderswo auf sozialen Ausgleich gesetzt wurde. Die Fortschritte bei der Armutsbekämpfung machten den Staatschef zur Lichtgestalt, allerdings nicht nur bei den Betroffenen, sondern auch für die internationalen Finanzmärkte: Durch seine Sozialpolitik wurde der früher radikale Gewerkschaftsführer zum Garanten des kapitalistischen Systems. Zugleich behielt er eine konservative Finanzpolitik bei und setzte auf ein vom Rohstoffexport getragenes Wirtschaftswachstum. Dennoch wurde Brasilien zur Hoffnung für alle, die den Neoliberalismus überwinden wollten: Lula und Dilma Rousseff werteten die Rolle des Staates auf und verfolgten eine selbstbewusste Außenpolitik mit Süd-Süd-Allianzen und einer gesunden Skepsis gegenüber der Hegemonie des Westens.
Im Lande selbst geht der soziale Aufstieg von Millionen mit kulturellen Phänomenen einher, für die der Politologe André Singer den Begriff „Lulismo“ geprägt hat.7 Die Hegemonie der Linken habe sich während der Diktatur entwickelt, sei aber bereits Ende der 1980er Jahre zu Ende gegangen, so Singer. Die „Werte des Marktes, des individuellen Aufstiegs und des Wettbewerbs, jene, die mit einer intensiven Merkantilisierung des öffentlichen Raums zusammenhängen“, seien bald allgegenwärtig geworden. „Der Lulismo ist eine neue Synthese konservativer und nicht konservativer Elemente“, meint Singer, „er setzt auf Reformen, aber ohne eine extreme Konfrontation mit dem Kapital, hält also die Ordnung aufrecht.“8
Die neue Mittelschicht der armen Konsumenten
Gleichzeitig nimmt der Einfluss rechter evangelikaler Gruppierungen innerhalb des Parlaments wie in der Gesellschaft zu; Frauenfeindlichkeit, Homophobie und Rassismus sind wieder auf dem Vormarsch – und das mediale Pendel schlägt in die andere Richtung aus: Kaum noch wird Positives vermeldet.
Wo Lula oder Marcelo Neri, Minister für strategische Angelegenheiten, von der „neuen Mittelschicht“ reden, sehen Singer und andere eher ein „neues Proletariat“, das aber nicht als politisches Subjekt auftritt wie in den 1980er Jahren, als die Allianz aus organisierter Arbeiterschaft und linker Mittelschichtsintelligenz den Kern der neuen Arbeiterpartei bildete. Auf dem diesjährigen Weltwirtschaftsforum in Davos rechnete Neri 121 Millionen Brasilianer der Mittelschicht zu, das wären knapp zwei Drittel der Gesamtbevölkerung. Zur „neuen Mittelschicht“ gehören nach der Definition Neris derzeit auch Familien, die über ein Pro-Kopf-Einkommen von umgerechnet 100 bis 350 Euro im Monat verfügen.
Andere gaben zu bedenken, dass wegen des schlechten Bildungssystems und mangelhafter Berufsausbildung ein echter sozialer Aufstieg nur schwer möglich sei. In Brasilien wurden in den letzten Jahren zwar viele technische Hochschulen eröffnet, doch ebenso wie im Primar- und Sekundarschulbereich geht hier häufig Quantität vor Qualität.
Die Erzählung von der „neuen Mittelschicht“, die in Brasilien oder anderen Regionen des Globalen Südens entstehe, beruht auf der sehr westlich-kapitalistischen Perspektive: Wer sich ein Auto, einen Plasmafernseher oder ein Smartphone leisten kann – wenn auch, wie in Brasilien so häufig, nur auf Pump –, gehört demnach schon zur Mittelschicht. Die Zugehörigkeit zu dieser Schicht ergibt sich aus dem „Recht auf Konsum“. Dass sich in Brasilien trotz der beeindruckenden Wachstumsraten im letzten Jahrzehnt an den prekären Lebenschancen der meisten wenig geändert hat, gerät so leicht aus dem Blickfeld: Das Recht auf eine gute Gesundheitsversorgung, auf den Zugang zu bezahlbarer Bildung von hoher Qualität, auf eine Wohnung mit sauberem Trinkwasser und funktionierender Kanalisation, auf Sicherheit im Alltag und auf einen verlässlichen Transport zum Arbeitsplatz, auf Teilhabe an politischen Entscheidungen und am kulturellen Leben – all das ist für die meisten Brasilianer noch lange nicht selbstverständlich.9
Endgültig als Mythos erweist sich das Gerede von der „neuen Mittelschicht“, wenn man die Selbstwahrnehmung der Betroffenen zugrunde legt. So rechnen sich laut einer Studie des renommierten Meinungsforschungsinstituts Latinobarómetro nur 26 Prozent der Bevölkerung der Mittelschicht und 62 Prozent der Unterschicht zu. Letztere bildet, aus guten Gründen, Dilma Rousseffs Wählerbasis: Der Lulismo bleibt lebendig.
An den Massenprotesten im Juni 2013 beteiligten sich junge Leute der – am Einkommen gemessen – „alten Mittelschicht“ und des „neuen Proletariats“ zu annähernd gleichen Teilen.10 Die politische Rechte versuchte erfolglos, die Proteste für sich zu instrumentalisieren – jene Rechte, die maßgeblich von der Oberschicht und nun auch wieder von großen Teilen der „alten“, der „oberen“ Mittelschicht unterstützt wird. Von der Bundesregierung, die von einer breiten Koalition bis weit ins konservative Lager hinein getragen wird, kamen kaum neue Impulse. Dilma Rousseffs improvisierter Versuch einer politischen Reform wurde ausgebremst, vereinzelte Hoffnungen auf eine Linkswende verflogen rasch.
Eine schöne Paradoxie ist es, dass gerade der Fußball, der oft als Opium fürs Volk betrachtet wird, die unerhörten Massenproteste mit ausgelöst hat. Die autokratisch geführte, korrupte und rein profitorientierte Fifa erfährt im „Land des Fußballs“ den stärksten Gegenwind überhaupt. Was diese Gemengelage während der WM 2014 hervorbringen wird, bleibt abzuwarten. Brasilien ist immer für Überraschungen gut.