Die Wahnsinnigen von Odessa
von Keith Gessen
Als ich das letzte Mal in Odessa war, wurde mir mein Pass geklaut. Das war im Sommer 1995, und es war heiß. Odessas Innenstadt, die wegen ihrer prächtigen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert zuweilen mit St. Petersburg verglichen wird, war damals eine einzige Ruine. Das Opernhaus war eine Ruine, die berühmte Fußgängerpromenade, von der die berühmte Potemkin-Treppe zum Hafen hinunterführt, war eine Ruine. Immerhin war die legendäre Gambrinus-Bar noch zu finden, in einem Kellergeschoss an der Deribasowska-Straße, und man bekam ein Bier und eine Schüssel Garnelen für zwei Dollar, dazu spielten zwei alte jüdische Musiker abgeklärte Klezmer-Melodien, aber ich war offenbar der einzige Mensch in der Stadt, der zwei Dollar übrig hatte.
Ich stand ganz hinten in einer überfüllten Straßenbahn. In diesem Teil der Welt hängen viele Leute dem Aberglauben an, dass man, wenn man ein Fenster öffnet, eine Krankheit einfangen und sterben wird, weshalb es eine sehr muffige und stickige Straßenbahn war. Ich erinnere mich, wie ich damals dachte, ich könnte fast alles ertragen. Dann sagte einer der beiden Typen hinter mir zu seinem Kumpel: „Ich glaube, an dieser Haltestelle steig ich aus.“ Worauf sein Freund meinte: „Interessant. Ich steige auch hier aus.“
Ich dachte: Was für ein seltsames Gespräch. Aber die Leute hier sind ein spezielles Völkchen und stolz darauf. Wegen seines Hafens und der Nähe zu Bulgarien, Griechenland und dem Osmanischen Reich im Süden, auch zum jüdischen Ansiedlungsrayon des Zarenreichs, der sich nach Norden und Westen anschloss, war die Einwohnerschaft von jeher bunt gemischt und sehr aktiv und geschäftig. Aber wo war mein Pass? In meiner linken Gesäßtasche. Nein, da war er nicht. Ich sprang aus der Tram, bevor die Türen zugingen. Aber die seltsamen Typen waren verschwunden. Mein Pass war weg.
Diesen März war ich wieder in Odessa. Eigentlich hatte die Touristensaison schon begonnen, aber es waren kaum Menschen unterwegs, als ich vom Bahnhof her die breite Richelieu-Straße hinunterging, unter noch kahlen Platanen, die ihre Rinde abgeworfen hatten. Ich kannte ein Foto, auf dem die Rote Armee genau diese Straße entlangmarschiert. Es ist von 1944, im Hintergrund sieht man das Opernhaus, mehr oder weniger intakt. Dahinter sieht man vom oberen Ende der Potemkin-Treppe aus den Hafen, Schiffe warten aufgereiht auf ihre Ladung Holz, Kohle oder Eisenerz, die auf an der Küste entlangführenden Gleisen gebracht werden. Heute werden die meisten Güter, die hier ankommen, auf Containerlastwagen verfrachtet. Nach 1989 exportierte der Waffenhändler Wiktor But zwanzig Jahre lang über diesen Hafen seine Ware aus den Beständen der zerfallenden Armeen in Russland, der Ukraine und Transnistrien. Damals war Odessa auch der Heimathafen der Black Sea Shipping Company, 1990 noch die größte Handelsreederei Europas, die dann einen der spektakulärsten Bankrotte der postsowjetischen Ära hinlegte.
Der Hafen ist nicht mehr, was er einmal war – But sitzt in den USA im Gefängnis, die Black Sea Shipping gibt es nicht mehr –, aber er ist immer noch einer der zwei größten Wirtschaftsfaktoren von Odessa. Und er wird wieder an Bedeutung gewinnen, wenn hier der Heimathafen der neuen ukrainischen Marine entstehen sollte, nachdem man die in Sewastopol liegenden Kriegsschiffe an die Russen verloren hat.1
Der andere große Wirtschaftszweig ist der Tourismus, aber auch der ist jetzt gefährdet. Bislang kamen jeden Sommer etwa eine halbe Million Russen nach Odessa, aber das russische Fernsehen zeigt jeden Abend Szenen mit wilden Demonstrationen und jungen Ukrainern in Militärklamotten, die Baseballschläger oder Fahnen schwingend durch die Straßen marschieren. Höchstwahrscheinlich wird Odessa dieses Jahr keine russischen Touristen sehen. Andererseits gab es auch vier Millionen Ukrainer, die ihre Sommerferien auf der Krim zu verbringen pflegten. Das werden sie dieses Jahr sicher nicht tun. Wo werden sie stattdessen hinfahren? Der Kaufkraft entsprechend bräuchte man für jeden verlorenen Russen zweieinhalb ukrainische Touristen. Das könnte gelingen.
Die ersten Leute, die ich in Odessa traf, waren Anatolle Kaplan und Tatiana Barbotina. Beide sind aus Russland verpflanzt, beide schreiben Gedichte. Anatolle hat es auch mit Computern; Tatiana ist Journalistin, ihren Job in Moskau hat sie aufgegeben. Sie berichtet für die lokale Presse über Protestaktionen, an denen Anatolle selbst teilgenommen hat. Und zwar, obwohl Anarchist, als Mitglied des berüchtigten „Rechten Sektors“. Als ich ihn fragte, ob er mit dem Nazi-Gedankengut kein Problem habe, meinte er nur, er sei dabei, eine jüdische Abteilung des Rechten Sektors zu gründen. Sie wären schon acht Mann.
Odessa ist ein merkwürdiger Schauplatz für das historische Drama zwischen der Ukraine und Russland. Innerhalb des russischen Imperiums war die Stadt schon immer besonders kosmopolitisch. „Ich habe Moldawien hinter mir gelassen und bin in Europa angekommen“, schrieb Puschkin, als er 1823 an seinem neuen Verbannungsort eintraf. Mitte des 19. Jahrhunderts war Odessa das Tor, durch das der Weizen aus der „Schwarzerde“-Region der heutigen Ukraine in alle Welt gelangte. Die britisch-französische Blockade des Hafens während des Krimkriegs (1853–1856) zeigte dann, dass die globale Weizenproduktion diversifiziert werden müsse; Kansas und Nebraska nutzten die Chance und schlossen die Versorgungslücke.
Odessa war auch ein wichtiges Zentrum jüdischen Lebens im sogenannten Ansiedlungsrayon. Juden machten stets rund ein Drittel der Bevölkerung aus, das gilt selbst für die Zeit nach dem großen Pogrom von 1905 und noch bis zur deutschen Invasion.2 Auf die Frage, ob Odessa eine russische oder eine ukrainische Stadt sei, gibt es verschiedene Antworten. Heute sind die prorussischen und die proukrainischen Gefühle (wenn wir es so nennen wollen) in Odessa etwa gleich stark vertreten.
Rechter Sektor, jüdische Abteilung
Seit Beginn der Maidan-Proteste in Kiew versammeln sich die Ukraine-Anhänger jeden Abend am Denkmal des Herzogs von Richelieu, des ersten Gouverneurs von Odessa, am oberen Ende der Potemkin-Treppe. Treffpunkt des Anti-Maidan, wie die prorussischen Aktivisten sich nennen, ist ein Rummelplatz in der Nähe des Hauptbahnhofs. Bislang haben die prorussischen Demonstranten hier keine gewaltsamen Aktionen unternommen, wie sie in Charkiw und im Bezirk Donezk ständig vorkommen. Die Stadtregierung ist schwach und konfus und verhält sich abwartend. Zwar hat sie den lautstärksten Anführer der prorussischen Bewegung, einen jungen Hitzkopf namens Anton Davidschenko, festgenommen, aber ansonsten hält sie sich bedeckt. Das scheint durchaus vernünftig, allerdings ist die Regierung auch so schwach, dass sie gar keine andere Wahl hat.
Die prorussischen Gruppen halten ihre Großkundgebungen immer sonntags ab. Am vierten Sonntag im März beobachtete ich einen Trupp Schlägertypen, die den Eingang zu dem Rummelplatz bewachten. Sie trugen kleine schwarz-orange-gestreifte St.-Georgs-Kokarden an der Jacke (die den Kampf gegen den Faschismus im Zweiten Weltkrieg symbolisieren) und sie waren keine Muskelprotze wie die meisten der gewalttätigen prorussischen Aktivisten in Charkiw, von denen einige aus einem Kampfsportverein namens Oplot („Bollwerk“) kamen. Aber wie sich später herausstellte, war einer der Männer, die an jenem Sonntag Wache schoben, ein Anton Rajewski aus St. Petersburg, Mitglied einer Neonazi-Gruppe namens „Schwarze Hundertschaft“. Das Wort hat in Odessa einen bösen Klang: Die ursprünglichen „Schwarzhunderter“ organisierten den Pogrom von 1905, der den jungen Journalisten Wladimir Jabotinsky zum militanten Zionisten machte3 und viele Juden Odessas zur Auswanderung in die USA veranlasste.
Vielleicht 10 000 Demonstranten waren versammelt: alte Leute, ehrbare Bürger mittleren Alters und sogar etliche, die blau-weiße Fähnchen mit dem Davidsstern trugen und behaupteten, die Jüdische Gemeinde zu repräsentieren. Auch mein Freund Wadim war da, der früher bei der Black Sea Shipping Company fuhr. Jetzt arbeitet er für ausländische Agenturen, wann immer ein Schiffsoffizier angefordert wird; er war oft monatelang auf See, seit dem Herbst saß er allerdings zu Hause. Wadim hatte sich nicht an den Demos beteiligt, war aber bereit, mich zu begleiten. Und so war er jetzt Teil der Menge, mit einer Kent zwischen den Lippen und einer billigen Lederjacke, wie sie fast alle Männer in Odessa tragen. Es war seltsam: Obwohl es nicht mehr viele Juden in der Stadt gibt, sah ich sogar einen jungen Orthodoxen in einer billigen Lederjacke, unter der die Fäden seines Tallit hervorschauten.
Auf der Bühne forderten die Redner die Freilassung Davidschenkos und ein Referendum über den Status der Region Odessa innerhalb der Ukraine. Ein solches Referendum würde es ermöglichen, dass Odessa aus der Ukraine ausscheidet und sich Russland anschließt, weshalb die ukrainische Regierung es nicht zulassen kann. Eineinhalb Stunden lang marschierte die Menge, in der viele russische Fahnen getragen wurden – darunter ein gigantisches, von vielen Händen getragenes Tuch, das an einen Fallschirm erinnerte –, und rief immer wieder: „Odessa, erhebe dich! Jag die Banderowzi4 davon!“ Oder auch: „Odessa ist eine russische Stadt“, „Rossija! Rossija“ und „Referendum, Referendum!“ Am Puschkin-Denkmal riefen Demonstranten: „Puschkin! Puschkin!“ Und als sie unter den Fenstern eines Studentenwohnheims vorbeizogen, aus denen einige vorwiegend weibliche Studenten mehrere blau-gelbe ukrainische Flaggen heraushängten, grölte es aus der Menge: „Ihr Nutten! Ihr Huren!“ Und mehrere Männer forderten die Studentinnen mit entsprechenden Gesten auf, herunterzukommen, damit man ihnen besorgte, was sie verdienten.
Wadim ist kein Liberaler. Er hält Putin für einen weisen Führer und glaubt, die Ukraine könnte auch einen wie ihn brauchen. Früher hat er mir einmal erklärt, Stalin habe Hitler beim Russlandfeldzug raffiniert in die Falle gelockt. Die Maidan-Revolution fand er gar nicht gut, die Propaganda aus russischen Quellen dagegen großenteils glaubhaft. Andererseits ist Wadim nicht der Typ, der es lustig findet, proukrainischen Studentinnen mit Vergewaltigung zu drohen. Und vor Kurzem hat er, wie er mir gestand, mit seinem besten Freund gebrochen, weil der nicht verstand, dass er nicht zu prorussischen Demos gehen will.
Die Befürchtung, der russofone geopolitische Raum könnte sich auflösen, ist nicht neu. Sie wurde bereits in den 1990er Jahren von so unterschiedlichen Schriftstellern wie Alexander Solschenizyn, Joseph Brodsky und Eduard Limonow geäußert. Solschenizyn schwebte die Gründung eines Superstaats vor, bestehend aus der Russischen Föderation und den russischsprachigen Regionen im Norden Kasachstans, in Weißrussland und in der Ukraine.
Der Dichter und Dissident Eduard Limonow, der 1994 die Nationalbolschewistische Partei Russlands (NBP) gegründet hat, versuchte sogar den bewaffneten Kampf zu organisieren. Er wurde 2001 verhaftet, weil er den Kauf von sechs Kalaschnikows plus Munition angeordnet hatte. Die Waffen waren womöglich für eine Invasion im Norden Kasachstans gedacht, wo er eine Russische Republik ausrufen wollte.
Joseph Brodsky schrieb 1990 das Gedicht „Über die ukrainische Unabhängigkeit“, in dem er die Ukrainer heruntermachte, weil sie die Unabhängigkeit von Russland wollten. Er trug es erstmals bei einer öffentlichen Veranstaltung in New York vor, dann verbot er, es zu publizieren, aber es zirkuliert seit Jahren im Internet. Es ist ein sehr zorniges Gedicht, aber wie gehässig es tatsächlich ist, habe ich erst begriffen, als ich die Russen in Odessa sah. Brodsky prophezeit seinen ukrainischen Lesern düster, auf ihrem Totenbett würden sie sich an die Dichtung von Puschkin erinnern und nicht an das „Geschwafel“ (brechnja) des ukrainischen Nationalpoeten Taras Schewtschenko. Er mag ja recht haben: Vielleicht ist Puschkin der bessere Dichter, und ein Ukrainer, dem auf seinem Totenbett ausgerechnet Gedichte in den Sinn kommen sollten, würde vielleicht tatsächlich Puschkin vorziehen. Aber vielleicht auch nicht. Und die ukrainische Unabhängigkeit ist ohnehin kein Poesiewettbewerb.
Das wusste Brodsky auch, weshalb er das Gedicht nicht publiziert hat. Aber das Gefühl, das er darin ausdrückt, ist sehr wirkmächtig. Ich selbst habe dieses Gefühl in mir gespürt, als ich vor ein paar Jahren durch Kasachstan reiste. Dank der riesigen Ölvorkommen von Tengiz war der große Wohlstand ausgebrochen. Die Hauptstadt wimmelte von Funktionären in Audis und todschicken italienischen Anzügen. Das Land schaltete schrittweise auf Kasachisch um. Zwar schrieben die wichtigsten Autoren und Journalisten noch auf Russisch, auch die Politiker fühlten sich offenbar mehr im Russischen zu Hause, aber unterrichtet wurde zunehmend auf Kasachisch. Das Aussterben der russischen Sprache schien nur noch eine Frage der Zeit. Vermutlich ist das auch richtig so; jedenfalls wird es, wenn das Öl weitersprudelt, über kurz oder lang auch große Autoren geben, die auf Kasachisch schreiben. Und doch muss man einräumen, dass es zu Zeiten der Sowjetunion durchaus eindrucksvoll war, dass so viele „nationale Minderheiten“ des Imperiums russische Literatur produzierten. Brodsky eingeschlossen, der Jude war.
Ich verließ die Kundgebung, um Boris Chersonskij zu besuchen, den bekanntesten russischsprachigen Dichter der Ukraine. Seine ganze Familie zog Anfang der 1990er Jahre nach Brooklyn, aber Boris, geboren 1950, blieb. Nach der ukrainischen Unabhängigkeit hatte er zunächst, wie er mir erzählte, ein schwieriges Verhältnis zur ukrainischen Literatur, aber das habe sich geändert. Er wurde von einigen führenden ukrainischen Lyrikern übersetzt, deren Gedichte er wiederum ins Russische übertragen hat. In den letzten Monaten hat er sich klar zum Maidan bekannt und sieht sich jetzt in einer unhaltbaren Lage. Wenn Russland kommen sollte, werden für die Maidan-Unterstützer schwere Zeiten anbrechen. Aber er sieht auch die andere Seite: „Angenommen, Odessa bleibt bei der Ukraine – einer Ukraine, die ihr nationales Erweckungserlebnis hatte. Wie wird diese Ukraine die russischsprachige Bevölkerung behandeln, wenn diese Leute durch die Straßen marschieren und schreien: ‚Odessa, erhebe dich! Russland, nimm uns auf!‘ So etwas nennt man eine fünfte Kolonne, manipuliert von einem feindlichen Land. Aber zu sagen: ‚Russland ist ein feindliches Land‘ – das ist verdammt schwer.“ Auch wenn es stimmt.
Am nächsten Tag fuhr ich mit dem Trolleybus bis zur Endstation in dem Vorort, wo Wadim wohnt. Er wollte mich mit seiner prorussischen Freundin Natascha bekannt machen, die eine Bar besitzt. Die Bar entpuppte sich als improvisiertes Gebilde, wie man sie überall in der ehemaligen Sowjetunion findet: zwei zusammengeschweißte Schiffscontainer mit herausgeschnittenen Fensteröffnungen und einer Innenverkleidung aus Plastik, obendrauf ein Schrägdach. Es gab Wasser und Strom, aber keine Heizung. Es war zwei Uhr nachmittags, und Natascha, blond, Mitte dreißig, servierte zwei Männern einen Tee und ein Bier. Der eine war Wladimir, genannt Wowa, ein großer attraktiver Mann im Jogginganzug; der andere hieß Sascha und war ein dünner Typ von vielleicht fünfzig Jahren mit einem kleinen Tattoo zwischen Daumen und Zeigefinger, was bedeuten konnte, dass er im Gefängnis gesessen hatte. Sascha sagte, er arbeite gerade nicht besonders viel, aber früher habe er Kleidungsstücke aus der Türkei nach Odessa gebracht, und auch andere Sachen. „Ganze Container?“, fragte ich. „Ganze Containerschiffe!“, sagte er.
Sascha, Wowa und Natascha hatten schwere Vorbehalte gegen die neue Regierung. Eine Bande von Banderowzi, meinten sie, und sie hatten Angst. Sie zeigten mir ein paar Clips auf YouTube: In dem einen prügeln Nationalisten in Lwiw auf Kriegsveteranen aus Sowjetzeiten ein; im anderen veranstalten Kiewer Schulkinder ein Spiel, bei dem sie rufen „Hüpf, wenn du kein Russe bist!“, und dann hüpfen sie alle. Das dritte war ein grusliges Video mit einem Haufen Nationalisten, wahrscheinlich vom Rechten Sektor, die nachts mit brennenden Fackeln durch Kiew marschieren. Die Szenen waren erschreckend, wenn man in der Stimmung ist, sich erschrecken zu lassen.
Die drei redeten immer weiter und sie hatten, um ehrlich zu sein, in vielem recht. Immer wenn die Nationalisten an die Macht kamen, wie nach der Orangen Revolution und jetzt wieder, passierten zwei Dinge: die Umschreibung der Geschichte im Sinne eines ukrainischen Nationalismus und die Bevorzugung der ukrainischen auf Kosten der russischen Sprache. Wobei die Umschreibung der Geschichte darin besteht, dass man den Russen die Schuld am „Holodomor“ gibt (der Hungerkatastrophe der 1930er Jahre, der Millionen Ukrainer zum Opfer fielen), dass man die Sowjets als „Besatzer“ bezeichnet und dass die Ukrainische Aufstandsarmee (die Banderowzi) rehabilitiert wird.
Einige Punkte dieser Uminterpretation sind berechtigter als andere, aber alle sind eine Beleidigung für die Russen. Auch für Wowa: „Mein Großvater ist von Moskau nach Berlin marschiert und hat als Einziger in seiner Division überlebt. Und jetzt soll ich mir anhören, dass er ein Besatzer war?“ Ähnlich erbost waren die drei über die gesetzliche Regelung des Sprachengebrauchs. Unter Juschtschenko, dem Helden der Orangen Revolution, wurde das Ukrainische 2005 zur einzigen offiziellen Sprache erklärt, das galt für amtliche Dokumente, Dissertationen, Verlautbarungen der Regierung und anderes mehr. Juschtschenkos Nachfolger Janukowitsch annullierte dieses Gesetz, gleich nachdem er an die Macht gekommen war. Nach dem Maidan-Aufstand wollte das Parlament als Erstes das alte Gesetz wieder einführen, doch der amtierende Präsident verweigerte die Unterzeichnung.
Ähnliche Probleme hatten russischsprachige Bürger in den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Aber im Fall der Ukraine macht die Tatsache, dass beide Sprachen so eng miteinander verwandt sind, die ganze Angelegenheit noch verdrehter. Ein Russischsprachiger wird zwar eine finnougrische Sprache wie das Estnische nur mit Mühe lernen, aber das Ukrainische und das Russische haben zu 90 Prozent die gleiche Syntax. Ein Mann in Odessa hat das Problem mir gegenüber in eine Frage gekleidet: „Wie sehr muss man die Ukraine verachten, wenn man sich nicht mal die Mühe machen will, die Sprache zu lernen?“ Bei Sascha, Wowa und Natascha muss man sagen: sehr. Alle drei wollten zu Russland gehören, um jeden Preis. Es war also schwer zu sagen, wie echt ihre Angst war und ob sie wirklich glaubten, sie seien von Faschisten umzingelt. Sascha erzählte, der jüdische Friedhof von Odessa sei vom Rechten Sektor geschändet worden, sie hätten überall Hakenkreuze hingeschmiert. Als ich Zweifel andeutete, schlug er vor: „Gehen wir gleich hin und sehen es uns an.“ „Okay“, meinte ich. Sascha zögerte. „Ich komme auch mit“, sagte Oleg, ein Typ, der sich zu uns gesetzt hatte und der proukrainisch war.
Sascha stufte sein Angebot zurück. „Du willst ein Hakenkreuz sehen?“, fragte er Oleg. „Dann komm mit zu meinem Wohnblock, da ist eins auf dem Sicherungskasten.“ Der Nachmittag wurde zum Abend, und wir saßen in einer Bar, die aus zwei Schiffscontainern bestand. Ein dünner blauer Teppichboden, dünne orangefarbene Vorhänge und orangefarbene Papierlampenschirme. Sascha war überzeugt, dass der Rechte Sektor aus Kiew gekommen war und in seinem Wohnblock ein Hakenkreuz auf den Sicherungskasten gemalt hatte. „Ich hoffe nur, dass die ganzen Proteste und Kundgebungen zu was führen“, sagte Natascha, als sie mich verabschiedete. „Sie könnten zum Krieg führen“, sagte ich. „Wenn’s ein Krieg wird, dann eben: Krieg.“
„Dann eben Krieg“, sagte Natascha
Ich stieg in einen Kleinbus und ließ mich in die Stadt zurückbringen. Anatolle hatte für mich ein Treffen mit dem Führer des Rechten Sektors in Odessa arrangiert, aber als ich ihn am Richelieu-Denkmal traf, erzählte er mir, dass der Mann, dessen Deckname Akerman war, nach einem Straßenkampf im Krankenhaus lag. Stattdessen traf ich mich mit zweien seiner Stellvertreter, beide 26 Jahre alt, Akadamiker, eloquent. Miroslaw war Psychologe, Oleg Jurist. Mit seinem Dufflecoat, seinen Chukka-Stiefeln und seinem Dreitagebart wäre er auf dem Campus eines amerikanischen Colleges nicht aufgefallen. Aber dann überreichte er mir das neueste Plakat, das der Rechte Sektor gedruckt hatte. „Mobilisierung“ stand da als Überschrift, dazu die schwarz-rote Fahne der Ukrainischen Aufstandsarmee und eine Kalaschnikow. Der Text war auf Ukrainisch, Miroslaw übersetzte für mich: „Die Besatzungsmacht hat begonnen, uns unsere Rechte zu nehmen. Wir müssen mobilisieren. […] Wir haben keine Angst, im Kampf für die Unabhängigkeit das Blut unserer Feinde oder unser eigenes Blut zu vergießen.“
„Die Leute müssen verstehen, dass der Krieg nicht irgendwo hinter den Bergen ist“, sagte Miroslaw. „Er ist schon hier.“ „Mit was wollt ihr gegen sie kämpfen?“, fragte ich. „Zuallererst müssen wir uns spirituell vorbereiten. Wenn wir das geschafft haben, wird sich schon finden, womit wir gegen sie kämpfen.“ Als wir uns hinsetzten, legte Miroslaw seine schusssichere Weste ab und erklärte so militant, wie es sein Dufflecoat zuließ: „Zurzeit haben wir noch nicht das Recht – weder juristisch noch moralisch –, auf eigene Faust zu handeln. Aber wenn die Regierung nicht bald was tut, haben wir keine andere Wahl.“ Dann meinte er, dass man die Korruption bekämpfen und ein Sendeverbot für russische Fernsehkanäle durchsetzen müsse.
Dann mussten sie plötzlich los, zum Polizeihauptquartier, man hatte die Typen, die Akerman angegriffen hatten, festgenommen, und sie wollten sicherstellen, dass man sie nicht wieder laufen ließ. Ich hatte das Gefühl, dass alle hier schlicht verrückt geworden sind. So fängt es an. Es waren ganz normale Leute, nette Leute. In der Container-Bar hatte mir die prorussische Natascha noch eine Portion Pelmeni gemacht, aber wenn man ihr eine Knarre gäbe, würde sie wahrscheinlich Miroslaw in seinen Bart schießen.
Dann traf ich mich mit der Freundin eines Freundes. Lika hat ihr ganzes Leben in Odessa verbracht. Obwohl ihr Vater vor einigen Jahren nach Brighton Beach, Brooklyn, ausgewandert ist, will sie bleiben. Sie schlug einen Spaziergang vor und führte mir mit sichtlichem Stolz ihre Stadt vor. Von den prachtvollen Gebäuden aus dem 19. Jahrhundert, die ich in den frühen 1990er Jahren noch in baufälligem Zustand gesehen hatte, waren inzwischen viele renoviert; auch das alte Denkmal von Katharina der Großen, das die Bolschewiken abgerissen hatten, wurde wieder hergerichtet. Ich hatte die Einweihung auf einem schrecklichen YouTube-Video gesehen: Eine Gruppe nationalistischer ukrainischer Studenten, die gegen das Denkmal protestiert hatten, war wüst zusammengeschlagen worden, der Anführer des Schlägertrupps war ein prorussischer Parlamentsabgeordneter namens Igor Markow. Ich sprach Lika darauf an. „Die Prügel haben sie verdient“, meinte sie. Ihre Liebe zu Odessa war offenbar stärker als ihre liberalen Ideale. Das Denkmal gehöre nun mal hierher: „Schau, wie es den Platz zu einer Einheit macht.“ Wie recht sie hatte.
Zum Abendessen, ich aß eine Riesenschüssel Borschtsch, waren wir mit einem von Likas Freunden verabredet. Er hieß Sergei und war ein Zyniker, aber nach einem Tag mit lauter verrückt gewordenen Idealisten war es eine wahre Wohltat, ihm zuzuhören. „Was hat sich verändert?“, fragte er Lika und meinte die neue Regierung. „Haben sie irgendjemanden ausgewechselt? Sie haben den einen Typen hierhin, den anderen dahin geschoben – das war’s. Es sind noch alles dieselben Leute. Und sie haben die Krim aufgegeben. Und jetzt wollen sie, dass ich kämpfe? Ich werde nicht für eine Regierung kämpfen, die sich aus der Krim verpisst hat. Warum soll ich kämpfen, wenn die nicht kämpfen wollen? Und wenn Putin hierherkommt, sag ich nur: na und?“
Für Sergei ist eine russische Invasion offenbar ziemlich wahrscheinlich, schon weil die Russen die Krim derzeit nur über ukrainisches Territorium erreichen können. Die Regierung in Moskau hat bereits angekündigt, dass man über die Meerenge von Kertsch, die Russland vom Ostteil der Krim trennt, eine Brücke bauen will. Aber Sergei behauptete, wegen der rauen See könnte man dort keine Brücke bauen, weshalb das zu Sowjetzeiten auch nie geschehen sei. „Was tut man also stattdessen?“ „Man baut eine Brücke durch die Ukraine?“, schlug ich vor. „Richtig“, sagte Sergei. „Und warum nicht Donezk und Charkiw und Odessa einsacken, wenn man schon dabei ist? Damit hat man die Verbindung bis nach Moldawien. Das ergibt Sinn.“
Wenn sich die Armee auf der Krim verteidigt hätte, meinte Sergei, wenn Menschen umkämen, dann gäbe es etwas zu besprechen. Dann würde sich Putin die Sache zweimal überlegen. Die Ukrainer mögen keine Armee haben, die der Rede wert wäre, aber sie verstehen sich auf den Guerillakrieg; darin haben sie es im Zweiten Weltkrieg zur Perfektion gebracht. „Leute wie du werden sich den Partisanen anschließen“, sagte Sergei zu Lika. „Tagsüber wirst du eine nette und ganz normale Person sein, aber nachts wirst du dann anfangen, sie abzuschießen.“ Sergei imitierte eine Lika, die nachts auf Russen schießt. „Und dann werden die ersten Särge zurückkommen.“ Lika war optimistischer. Sie erzählte von einer Frau vom Maidan, die sie beeindruckt hat, für das Bürgermeisteramt von Kiew kandidiert und drei Sprachen beherrscht. „Drei Sprachen?“, meinte Sergei, „dann wird sie nie Bürgermeisterin.“ Lika hoffte, dass Putin nicht nach Odessa kommt, das wäre absolut furchtbar. Und dann meinte sie: „Warum kann Odessa nicht einfach unabhängig existieren?“ „Aber Lika, du musst die Geschichte studieren“, sagte Sergei und zog seine sehr schicke Lederjacke an. „Niemand lebt unabhängig. Und Putin – Putin Schmutin. Er wird früh genug sterben.“
Als Sergei weg war, fragte ich Lika, wovon er eigentlich lebt. „Das weiß niemand“, sagte sie. Aber offenbar geht es ihm ziemlich gut. Lika selbst lebt von Englischprivatstunden für die Kinder der Reichen von Odessa, die ihre Sprösslinge auf Privatschulen in England schicken wollen. Während wir im Restaurant saßen, musste sie zahlreiche SMS-Botschaften von Eltern beantworten, die Englischstunden arrangieren wollten. Als ich meinen Borschtsch ausgelöffelt hatte, gingen wir in die Nacht hinaus. Überall im Park hingen Lichter von den Bäumen. „Wie wunderschön Odessa ist!“, sagte Lika, und wie recht sie hatte.
Ich brachte sie nach Hause. An der Fassade ihres Wohnblocks zeigte sie mir Brandspuren, direkt unter einem Plakat der Partei von Julia Timoschenko, die in Kiew an der Interimsregierung beteiligt ist. Das örtliche Parteibüro war hier im ersten Stock, und tags zuvor, während des Marschs der Russlandfreunde, hatte ein Demonstrant die Portiersfrau gewarnt, wenn das Timoschenko-Plakat nicht verschwände, würden sie das nächste Mal das ganze Gebäude abfackeln.