08.05.2014

Indiens bunte Partei

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Indiens bunte Partei

von Naïké Desquesnes

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Die Ökoaktivistin Medha Patkar meint sarkastisch: „Manchmal sind die Strömungen unter Wasser stärker als die Wellen an der Oberfläche.“ Mit Letzterem meint sie die „Modi-Welle“, die gerade durch die indischen Medien schwappt.

In der letzten heißen Phase des Wahlkampfs um die 543 Sitze im indischen Unterhaus, der Lok Sabha, liegt Narendra Modi, Spitzenkandidat der ultranationalistischen Hindupartei BJP (Bharatiya Janata Party, Indische Volkspartei), nach den Umfragen in Führung. Die seit zehn Jahren regierende Kongresspartei (Indian Congress Party, INC) ist dagegen weit abgeschlagen.

Und das hat hauptsächlich zwei Gründe: Rückgang des Wirtschaftswachstums und Korruption. 2013 lag die Wachstumsrate bei 4,4 Prozent, gegenüber knapp 10 Prozent vor fünf Jahren. Und die Korruptionsfälle reichen von Betrügereien bei der Vergabe von Telefonlizenzen bis zu gesetzeswidrigen Lizenzen für Kohlebergwerke. Zudem hat INC-Spitzenkandidat Rahul Gandhi mangels Charisma wenig Chancen, die Wähler zu überzeugen.

Gibt es Alternativen jenseits der beiden großen Volksparteien? Davon ist Medha Patka fest überzeugt. Für ihren Einstieg in die Politik hat sie sich eine neue, erstmals landesweit kandidierende Partei ausgesucht: die „Partei des einfachen Mannes“ (Aam Admi Party, AAP). Patka ist eine von 400 Kandidaten, die für die aufstrebende AAP antreten.

Die Ursprünge der Partei gehen auf das Frühjahr 2011 zurück. Damals waren mehrere Minister in Finanzskandale verwickelt, in deren Folge eine große Antikorruptionsbewegung entstand. Ihr Anführer war der heute 77-jährige Anna Hazare, der früher als Chauffeur in der indischen Armee diente. Hazare inszeniert sich bevorzugt im Gandhi-Look: Er trägt eine Topi, die weiße Gandhi-Kappe, und tritt im Zentrum der Hauptstadt öffentlichkeitswirksam in den Hungerstreik. Überraschenderweise gewann er schnell viele Fans, auch in der politisch eher trägen städtischen Mittelschicht. Offensichtlich hatten die Inder massenweise die Nase voll von ihren allzu geschäftstüchtigen Politikern und den Bestechungsgeldern, die Beamte für jede kleinste Amtshandlung verlangen.

Der Kandidat mit dem Besen

Nicht einmal Hazares reaktionäre Forderung nach der Todesstrafe für schwere Korruptionsvergehen konnte die Leute abschrecken. Im Rahmen seiner Kampagne wurde schließlich von Bürgern und Regierungsmitgliedern ein gemeinsamer Entwurf für ein Antikorruptionsgesetz erarbeitet, das die Einrichtung einer Überwachungsbehörde namens „Lokpal“ („Ombudsbehörde der Republik“) vorsieht. Doch knapp drei Jahre später ist das Gesetz – entgegen den Ankündigungen der Kongresspartei – immer noch nicht verabschiedet worden.

Im November 2012 ergriff Arvind Kejriwal, einer der engsten Mitarbeiter Hazares, erneut die Initiative und machte aus der Bewegung eine Partei: die AAP. Der 45-jährige Ingenieur Kejriwal, vormals Beamter in der Steuerverwaltung, verkörpert in seinem ganzen Habitus den „Mann von der Straße“. Und wie Hazare trägt auch er die weiße Gandhi-Kappe. Für den Wahlkampf seiner Partei hat er bewusst das Symbol des Besens (jhaadu) gewählt, das für die Balmiki steht, eine Gruppe innerhalb der Kaste der Unberührbaren (Dalit), deren Mitglieder als Straßenkehrer und Reinigungspersonal beschäftigt werden (siehe den Artikel auf Seite 21).

Damit verweist Kejriwal auch indirekt auf seine Kernforderungen: Er will die Korruption hinwegfegen und allen den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen ermöglichen. Solche Wahlversprechen kommen bei den Armen ebenso gut an wie bei der Mittelschicht. Im Dezember 2013 feierte die AAP ihren ersten sensationellen Wahlerfolg im Unionsterritorium Delhi, wo sie 28 von 70 Sitzen im Regionalparlament erringen konnte.1

Zum Chief Minister von Delhi gewählt, verzichtete Kejrival darauf, den offiziellen Regierungsbungalow zu beziehen, um sein Image des integren Politikers zu unterstreichen. Eine seiner sozialpolitischen Maßnahmen bestand darin, allen Haushalten kostenlos eine Mindestmenge Wasser bereitzustellen. Doch dann trat der Regierungschef von Delhi am 14. Februar nach nur 49 Tagen im Amt mit großem Tamtam zurück. Er wollte damit die Blockade des Antikorruptionsgesetzes durch die anderen Parteien anprangern.

Angesichts der laufenden Parlamentswahlen diente dieser Schritt ganz offensichtlich dazu, das Profil der AAP zu schärfen. „Wir sind nicht wie die anderen. Wir gehen nur in die Politik, um das System zu säubern“, sagen die AAP-Aktivisten, die aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten stammen. Die Skandale, in welche die Mitglieder der politischen und wirtschaftlichen Eliten verstrickt sind, liefern ihrer scharfen Kritik an den großen Parteien regelmäßig neue Nahrung.

So deckte die AAP zum Beispiel die Tricksereien mit dem Gaspreis auf, die auf das Konto der Kongresspartei und des Großkonzerns Reliance gehen. Sie nahm auch Narendra Modi aufs Korn, der es zugelassen hat, dass Ländereien in Gujarat zum Vorzugspreis an die Adani Group, eines der bekanntesten indischen Familienunternehmen verkauft wurden.

Die Partei des einfachen Mannes verspricht, gegen die drei „C“ anzukämpfen: corruption, communalism (gemeint ist der Konflikt zwischen Hindus und Muslimen) und crony capitalism, also Vetternwirtschaft. Sie fordert die Einführung des swaraj. Dieses Wort aus dem Vokabular Gandhis bedeutet sowohl politische Unabhängigkeit als auch Dezentralisierung. In diesem Sinne will man für jeden Wahlkreis ein eigenes Programm erarbeiten. Das erklärte Ziel besteht darin, der Bevölkerung auf lokaler Ebene die Macht zu übertragen, damit sie die Politik selbst in die Hand nehmen können.

Für dieses Ziel steht zum Beispiel die Kandidatur von Medha Patkar in Mumbai. Anfang 2014 beschloss die Aktivistin der Bewegung Ghar Bachao Ghar Banao („Retten wir unsere Häuser, bauen wir unsere Häuser“), für die AAP zu kandidieren. Sie erhoffte sich dadurch mehr Unterstützung für ihr Engagement in den Slums gegen den Abriss von Häusern und die Vertreibung der Bewohner. Schon 1985 hatte sie den Kampf gegen die Staudämme am Fluss Narmada angeführt, die wichtigste Anti-Industrie-Bewegung seit der Unabhängigkeit Indiens. 1995 gründete Patkar das landesweite Bündnis der Volksbewegungen (National Alliance of People’s Movements, NAPM), dem etwa 250 Organisationen angehören.

Als die Kandidatur von Medha Patkar offiziell verkündet wurde, erklärte ein Aktivist der Ghar-Bachao-Bewegung: „Nicht sie stellt sich zur Wahl – wir stellen sie zur Wahl. Und wir tun das, weil sie im Dienste unserer Sache steht!“ Santosh Thorat ist Dalit und über die Befreiungsbewegungen, die auf die Erben des Dalit-Führers Bhimrao Ramji Ambedkar (1891 bis 1965) zurückgehen, in die Politik gekommen. Noch vor einem Jahr hat er geschworen, seinen politischen Kampf niemals in den Dienst einer Partei zu stellen. Doch dann hat er sich doch auf dieses strategische Bündnis eingelassen – obwohl die Frage der Gleichheit oder des repressiven Kastensystems für die AAP keine zentralen Wahlkampfthemen waren.

Zudem gibt es bei der AAP einen unübersehbaren ideologischen Widerspruch zwischen dem Ruf nach radikaler Befreiung und einem problematischen Patriotismus: Zum Auftakt des AAP-Wahlkampfs am 14. März trug der lokale Barde des Mumbaier Stadtviertels, Rafiq Nagar, ein revolutionäres Lied vor, in dem er Kastensystem und Korruption verspottete, und gleichzeitig posaunte auf derselben Veranstaltung ein AAP-Mitglied den hindu-nationalistischen Slogan „Bharat Mata Ki Jai“ („Es lebe das Mutterland“).

Von einer eindeutig ausländerfeindlichen Gesinnung zeugte im Januar auch das Verhalten des AAP-Justizministers von Delhi, der nach einer nächtlichen Polizeirazzia in einem vor allem von afrikanischen Migranten bewohnten Viertel sagte: „Die Schwarzen sind nicht wie Sie und ich, sie verstoßen gegen die Gesetze.“

Die Partei stärkte dem Mann den Rücken. Doch „für viele progressive Anhänger war das die erste große Enttäuschung“, berichtet die Politologin Stéphanie Tawa Lama-Rewalman. Da wurde ihnen klar, „wie stark die rückwärtsgewandten Kräfte innerhalb der AAP noch sind“. Als zur selben Zeit eine dänische Touristin in Neu-Delhi vergewaltigt wurde, behauptete Kejriwal, da seien „Prostitution und Drogen“ im Spiel gewesen. Die gesellschaftlichen Ursachen sexueller Gewalt blendet er komplett aus.2

Noch ein Widerspruch: Der Parteiführer setzt großes Vertrauen in die Dorfversammlungen (panchayat), auf denen die Demokratie vor Ort basiere. Dagegen verweisen linke Intellektuelle darauf, dass es sich bei den panchayat um männlich dominierte, autoritäre Institutionen handelt, die von den mächtigsten Kasten kontrolliert werden.3

Obwohl die AAP die Korruption in der Wirtschaft kritisiert, vertritt sie neoliberale Positionen. Mehrere Mitglieder des Komitees, das die Industriepolitik der Partei ausarbeiten sollte, sind Unternehmer, die möglichst wenig staatliche Eingriffe wollen. Im Wahlkreis Mumbai-Süd präsentiert sich Meera Sanyal, ehemalige Generaldirektorin des indischen Zweigs der Royal Bank of Scotland und Mitglied des Thinktanks Liberals India, als stolze Kandidatin der AAP.

Den Einfluss der USA auf die neoliberale Entwicklungspolitik in Indien zu kritisieren, sei für die Partei undenkbar, schreibt die Schriftstellerin Arundhati Roy.4 Der AAP gehe es nicht um Antikapitalismus und Antiimperialismus, sondern um „gute Regierungsführung“. Und die Emanzipation der Arbeiter unterstützt sie nur, wenn die sich auf legale Formen der Mobilisierung beschränken, die in Indien begrenzt sind.

Die Popularität der AAP spiegelt nur die Schwäche der marxistischen Gruppierungen wider, die Mühe haben, eine tragfähige „linke Front“ aufzubauen. Deren Bündnis mit verschiedenen Regionalparteien mangelt es an einer konsistenten politischen Vision, die man der BJP oder der Kongresspartei entgegenhalten könnte. Die beiden kommunistischen Parteien CPI (Communist Party of India) und CPI-M (Communist Party of India-Marxist), deren Mitglieder zumeist den höheren Kasten angehören, laufen Gefahr, einen Großteil der Bevölkerung zu verprellen, weil sie sich um eine Kritik an der Kastengesellschaft drücken und stattdessen die klassenlose Gesellschaft predigen.

Diese Parteien sind kaum in der Lage, das subversive und emanzipatorische Potenzial der heutigen Kämpfe zu nutzen, die sich in den Städten um den Zugang zu Wohnraum und Wasser abspielen, während sie sich auf dem Land gegen den Aufkauf von Grund und Boden durch Unternehmen oder gegen Atomprojekte richten.

Rhetorik der Gewaltfreiheit, kein marxistisches Vokabular, Betonung der Legalität: Mit diesen drei Zutaten hat es die AAP offensichtlich geschafft, einen erheblichen Teil der intellektuellen und politisch aktiven Elite zu überzeugen. Diese Leute – von Ökoaktivisten über Bürgerrechtler bis hin zu linken Professoren – hegen die Hoffnung, die konservativen und rückwärtsgewandten Tendenzen innerhalb der AAP in Schach halten zu können. „Das Wahlprogramm ist viel fortschrittlicher, als man gedacht hätte“, meint die Politologin Tawa La-ma-Rewal, „es verspricht zum Beispiel eine allgemeine Krankenversicherung und Bildung für alle. Obwohl das Programm sich nur vage über Quoten für niedrige Kasten und Frauen äußert, tritt die Partei für beide Forderungen ein. Dasselbe gilt für die Entkriminalisierung der Homosexualität.“

Dass im Programm auch die Wiederaneignung von natürlichen Ressourcen gefordert wird, verweist auf den innerparteilichen Einfluss der Umweltaktivisten. Besonders betont wird dabei das Recht der örtlichen Gemeinden und Minderheiten, autonom zu entscheiden, was sie mit ihrem Land und ihren Ressourcen machen wollen.

Und für den Ausbau der erneuerbaren Energien schlägt die Partei dezentrale Lösungen vor, als Alternative zum zentralistischen Sonnen- und Windenergieprogramm der Kongresspartei. Während der indische Staat den Anteil der Atomenergie bis 2050 von 3 Prozent auf 25 Prozent erhöhen möchte, um die Industrialisierung voranzutreiben und den Lebensstandard zu erhöhen, hat sich Kejriwal gegen die Atomkraft positioniert.

Ganz gleich, wie viele Sitze sie am Ende erringen mag – der AAP ist es schon jetzt gelungen, die Parteienlandschaft gehörig umzukrempeln.

Fußnoten: 1 Die BJP gewann 32, die Kongresspartei 8 Sitze im Regionalparlament. 2 Siehe Bénédicte Manier, „Indiens Empörte“, in: Le Monde diplomatique, Februar 2013. 3 Rohini Hensman, „2014 elections, a secular united front and the Aam Aadmi Party“, in: Economic and Political Weekly, 22. Februar 2014. 4 Arundhati Roy, „Those who’ve tried to change the system via elections have ended up being changed by it“, in: Outlook, Neu-Delhi, 26. November 2012 . Aus dem Französischen von Sabine Jainski Naïké Desquesnes ist Journalistin. Der Artikel entstand in Zusammenarbeit mit dem Journalisten Javed Iqbal, als Reporter vor Ort in Mumbai.

Das Wahlsystem

Die Republik Indien besteht aus 28 Bundesstaaten und 7 Unionsterritorien (wie Delhi und Puducherry). Das Parlament hat zwei Kammern: die Lok Sabha (Kammer des Volks) und die Rajya Sabha (Kammer der Bundesstaaten). In der Lok Sabha sitzen derzeit 545 Abgeordnete (543 gewählt, 2 ernannt, maximal sind 552 möglich), die alle fünf Jahre in einer allgemeinen Persönlichkeitswahl in einem Wahlgang und mit einfacher Stimmenmehrheit gewählt werden. Dieser Wahlprozess läuft seit dem 7. April. Von den 250 Mitgliedern der Rajya Sabha werden 238 von den Parlamenten der Bundesstaaten und Unionsterritorien sowie 12 vom Präsidenten der Republik bestimmt.

Von den 814 Millionen Wahlberechtigten sind 48,7 Millionen zwischen 18 und 23 Jahre alt; 46,7 Prozent sind Frauen. Es gibt 930 000 Wahllokale, da laut Wahlrecht kein Wähler für die Stimmabgabe mehr als 1,2 Kilometer zurücklegen soll.

Die Wahl läuft vom 7. April bis zum 12. Mai gestaffelt in neun Phasen ab: in kleineren Bundesstaaten in einer Phase, in größeren über mehrere Etappen. Das Endergebnis wird am 16. Mai bekanntgegeben.

11 Millionen Beamte von Regierung und Lokalbehörden sind an der Organisation der Wahl beteiligt. Überwachungskameras und reisende Kontrollteams sollen Fälschungen verhindern.

142 Parteien treten bei den diesjährigen Wahlen an, von ihnen sind 39 bereits im Parlament vertreten. Da viele Menschen nicht lesen können, gibt es für jede Partei ein Symbol, zum Beispiel eine Hand für die Kongresspartei und eine Lotosblume für die BJP (Bharatiya Janata Party, Indische Volkspartei).

557 der 3 355 Kandidaten sind vorbestraft, davon 328 wegen „schwerer Verbrechen“ (Mord oder Vergewaltigung). 34 Prozent von ihnen kandidieren für die BJP, 23 Prozent für die Kongresspartei.

Quellen: Website der indischen Regierung (www.india.gov.in) und Slate.fr, 16. April 2014.

Le Monde diplomatique vom 08.05.2014, von Naïké Desquesnes