10.11.2006

Eine gute Story

zurück

Eine gute Story

Die Macht ist mit dem, der die beste Geschichte erzählt von Christian Salmon

A good story“ – das war es, was dem Kandidaten John Kerry nach Ansicht der Wahlstrategen der der Demokratischen Partei bei den Präsidentschaftswahlen 2004 gefehlt hat.l James Carville zum Beispiel, der am Sieg von Bill Clinton 1992 wesentlich beteiligt war, sagte: „Ich bin überzeugt, dass die Amerikaner jeden beliebigen Hollywoodschauspieler wählen würden. Die einzige Voraussetzung ist, dass er eine Geschichte zu erzählen hat: eine Geschichte, die den Leuten vermittelt, was für ein Land Amerika ist und wie der Kandidat persönlich es sieht.“

Und in der NBC-Sendung „Meet the Press“ einige Tage nach der Wahl von George W. Bush legte er noch einmal nach: „Die Republikaner sagen: ‚Wir bewahren euch vor den Terroristen in Teheran und vor den Homos in Hollywood.‘ Und wir sagen: ,Wir sind für saubere Luft, für bessere Schulen und eine bessere Gesundheitsversorgung.‘ Die Republikaner erzählen eine Geschichte, und wir beten eine Litanei herunter.“

Laut Evan Cornog, Professor für Publizistik an der Columbia-Universität, „ist die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen (storytelling), heute eine wesentliche Voraussetzung für eine Führungsposition in Amerika“. Der Trend entstand in den 1980er-Jahren während der Regierungszeit Ronald Reagans, der anstelle rationaler Argumente und Statistiken in öffentlichen Verlautbarungen zunehmend seine „stories“ einsetzte. In seiner Rede zur Lage der Nation im Februar 1985 sprach der Präsident vor den beiden Kammern des Kongresses: „Aus 200 Jahren amerikanischer Geschichte sollten wir inzwischen gelernt haben, dass nichts unmöglich ist. Ein junges Mädchen verließ vor zehn Jahren mit ihren Eltern Vietnam. Sie war eine von vielen, die nach dem Fall Saigons fliehen mussten. Als die Familie in den Vereinigten Staaten ankam, war sie mittellos und sprach kein Wort Englisch. Das Mädchen lernte eifrig Englisch, war eine fleißige Schülerin und hatte am Ende das beste Abitur ihrer Klasse. Der kommende 22. Mai wird ein großer Tag für sie sein. Genau zehn Jahre, nachdem sie Vietnam verlassen hat, wird sie an der amerikanischen Militärakademie in West Point ihren Abschluss machen. Ich würde Ihnen gern eine amerikanische Heldin namens Jean Nguyen vorstellen.“ Die amerikanische Heldin erhob sich und wurde von den versammelten Parlamentariern mit Ovationen gefeiert. Daraufhin präsentierte der Präsident noch eine zweite, nicht weniger erbauliche Geschichte, bevor er die Moral der beiden Geschichten offenbarte: „Ihr Leben zeigt uns, dass das älteste aller amerikanischen Sprichwörter wieder aktuell ist: Alles ist möglich in Amerika, so lange wir den Glauben, den Willen und den Mut dazu haben. Denn die Geschichte fordert wieder einmal von uns, eine Kraft des Guten in der Welt zu sein.“2

Gelegentlich ersetzte dieser Präsident die Wirklichkeit durch seine Fiktionen. Der alte Filmschauspieler war überzeugt von der „Macht der Geschichten“ über das Denken seiner Landsleute. Ab und zu erzählte er eine Episode aus einem alten Kriegsfilm, als handle es sich um ein reales Ereignis aus der Geschichte der Vereinigten Staaten.3

Doch erst unter Bill Clinton hat das Storytelling in der Politik systematisch Einzug ins Weiße Haus gehalten. Dieser Präsident beschäftigte eine ganze Kohorte von Beratern, Drehbuchschreibern aus Hollywood und Werbefachleuten. „Mein Onkel Buddy hat mir beigebracht, dass jeder von uns eine Geschichte hat“, schreibt er am Anfang seiner Memoiren.4 Und obwohl er sich am Ende der fast tausend Seiten fragt, ob er wohl ein großes Buch geschrieben habe, steht eines fest: „Eine gute Geschichte ist es auf jeden Fall geworden.“ Mit Clinton entwickelte sich Storytelling von der spontanen Kommunikationsform zu einem methodischen Vorgehen, denn: „Die Politik soll vor allem den Menschen die Möglichkeit geben, ihre Lebensgeschichte zu verbessern.“

Narratologen und Politeraten

Einige Wochen nach den Präsidentenwahlen 2004 machte sich der konservative Kolumnist William Safire über die Erklärungsversuche der demokratischen Wahlkampfleiter lustig. In einem Artikel mit der Überschrift „The New Story of ‚Story‘, and Make Sure It’s Coherent“5 nannte er sie hämisch „Narratologen“ und „Politeraten“ und malte sich aus, wie bei einem anderen Wahlausgang dieselben findigen Berater einander gegenseitig zur „guten Story“ des Kerry-Wahlkampfs gratuliert hätten. Da Kerry nun aber verloren habe, spottete Safire, beschränke sich die „Story“ auf die Feststellung, dass es John Kerry an genau einer solchen „stimmigen Story“ fehle.

Als nach dem Hurrikan „Katrina“ im August 2005 die Beliebtheitskurve von George W. Bush steil nach unten zeigte, war derselbe William Safire um eine Erklärung verlegen und verfiel nun seinerseits der Narratologie: „Ich glaube, wir sind im Bann einer Geschichte, die uns sagen will, dieser Präsident und seine Amtszeit sind am Ende. Die Umfragewerte sind im Keller, er hat ‚Katrina‘ vermasselt, und der Krieg ist immer noch nicht vorbei. Was auch immer Bush jetzt tut, steht im Schatten dieser Geschichte.“

Als versierter Journalist zweifelte Safire nicht, dass sich das Blatt schon bald zugunsten von Bush wenden werde. „Das Schöne an der Aufmerksamkeit der Amerikaner und an der Berichterstattung der Medien ist, dass die Geschichte sich dauernd ändern muss. Sie kann nicht gleich bleiben, weil sie dann keinen Neuigkeitswert mehr hat. Unsere nächste Story heißt mit Sicherheit: Das Comeback von Bush.“

Beim Einzug ins Weiße Haus stellte George W. Bush den Medien sein Kabinett unter anderem mit folgenden Worten vor: „Jede dieser Personen hat ihre eigene und einzigartige Geschichte, und alle Geschichten zusammen erzählen von dem, was Amerika sein kann und sein soll.“ Als er den neuen Außenminister Colin Powell präsentierte, sagte er: „A great American story …“, und über den designierten Transportminister: „I love his story …“. Am Ende verkündete er: „Wir alle haben unseren Platz in dieser langen Geschichte. Und diese Geschichte geht immer weiter.“ In einer Rede von nur wenigen Minuten verwendete der Präsident das Wort „story“ mehr als zehnmal.

Im Februar 2006 stellte er sich bei einem Blitzbesuch in Afghanistan an der Seite von Präsident Hamid Karsai den Fragen der Journalisten. Innerhalb kurzer Zeit wiederholte er zweimal wortwörtlich dieselbe Formel: „Wir mögen Geschichten, und wir hoffen auf Geschichten von jungen Mädchen, die in Afghanistan zur Schule gehen.“ Die häufige Verwendung des Begriffs weist darauf hin, dass sich das Storytelling als eine Methode politischer Kommunikation in wenigen Jahren fest etabliert hat. Und sie ist ein Beleg für den Einfluss neuer Managementlehren auf den Business-School-Absolventen Bush.

Tatsächlich entstand das Storytelling als Methode nicht in der Politik, sondern als eine neue Schule der Unternehmensführung in der Betriebswirtschaft. Seit 2001 hat es sich in Firmen wie Disney, McDonald’s, Coca-Cola, Adobe, IBM oder Microsoft durchgesetzt. „Auch die Nasa, Verizon, Nike und Lands End haben das Potenzial des Geschichtenerzählens inzwischen erkannt“, schreibt Lori Silverman, die Leiterin einer großen Betriebsberatungsfirma.6

Steve Denning war einmal Direktor der Weltbank. Heute gehört er zu den Gurus des Geschichtenerzählens in der Unternehmensführung. Er gibt Seminare und hat mehrere Bücher veröffentlicht, in denen er sich unter anderem auf die Narratologie von Roland Barthes bezieht. Die Bücher heißen „A Fable of Leadership Through Storytelling“ (2004) oder auch „How Narrative and Storytelling Are Transforming 21st Century Management“. Gegen die „napoleonische“, allzu rationale Leitung von Betrieben plädiert er für eine „tolstoianische“ Vorgehensweise, die allein dem Reichtum des Lebens gerecht werde und die Dinge in der ganzen Komplexität ihrer Zusammenhänge darstellen könne. „Als mir klar wurde, wie eingängig wirklich gute Geschichten sind, fragte ich mich, ob unsere Gehirne nicht in erster Linie zur Verarbeitung von Erzählungen konstruiert sind.“7

Der bekannte Drehbuchautor Robert McKee ist in den letzten zehn Jahren ebenfalls zu einer Größe des Storytelling avanciert: „Die wichtigste Aufgaben eines Unternehmensleiters ist es, die Mitarbeiter zu motivieren. Dazu muss man ihre Gefühle ansprechen. Und der Schlüssel zu den Herzen der Menschen ist die gute Geschichte.“

Viele Firmen werben heute für ihre Produkte, indem sie der Öffentlichkeit die Geschichte des Unternehmens erzählen. Die Marktforschung nutzt das Instrument des Storytelling analytisch, um aus den Aussagen von Verbrauchern Rückschlüsse auf ihr Konsumverhalten und ihr Interesse an bestimmten Dienstleistungen zu ziehen. Don Valentine ist Gründer der Firma Sequoia Capital und ein bekannter Investor mit Anteilen von Firmen wie Apple, Oracle, Cisco, Yahoo! und Google im Portfolio. Er erklärte vor kurzem, dass von den tausenden von Unternehmen, die ihm in den vergangenen 30 Jahren auf der Suche nach Kapital ihre Exposés vorgelegt hätten, die meisten an ihrer Unfähigkeit zu kommunizieren gescheitert seien. „Kaum einer ist in der Lage, eine gute Geschichte zu erzählen.“

„Wollen Sie erfahren, wie Sie Ihre ernsthaften Kundenanfragen vervierfachen und Ihre Verkaufszahlen verdoppeln“, fragt der Vorsitzende des Story Theater International, Doug Stevenson. „Es ist viel einfacher, ein Produkt oder eine Dienstleistung zu verkaufen, indem man eine Erfolgsgeschichte erzählt, statt das Produkt und seine Vorzüge zu beschreiben. Die Leute hören nun mal gern Geschichten.“8

Gute Waffe gegen textuelle Belästigung

Storytelling hat sich nicht nur in Wirtschaft und Politik durchgesetzt, sondern während der letzten zehn Jahre so viele andere Bereiche der Gesellschaft durchdrungen, dass man bereits vom Paradigma einer Kulturrevolution des Kapitalismus sprechen kann. Nach Ansicht der Soziologin Francesca Polletta taucht das Storytelling in den unerwartetsten Zusammenhängen auf. „Manager werden angehalten, ihre Mitarbeiter mit Geschichten zu motivieren, und Ärzte lernen, den Geschichten ihrer Patienten Aufmerksamkeit zu schenken. Die Reporter betreiben jetzt narrativen Journalismus, und Psychologen arbeiten mit narrativen Therapien. Jedes Jahr fahren Zehntausende zum Storytelling Center in Jonesborough im Staat Tennessee, treten dem National Storytelling Network bei oder beteiligen sich an den mehr als 200 Geschichtenerzähler-Festivals, die Jahr für Jahr in den Vereinigten Staaten stattfinden. Ein Blick auf die Sachbuch-Bestsellerlisten offenbart, welche Verkaufszahlen Bücher erreichen können, die von der Kunst des Geschichtenerzählens als spirituellem Weg, als Strategie für erfolgreiche Bewerbungen, eine Form der Konfliktlösung oder Rezept zum Abnehmen handeln.“9

Erzählen heißt immer auch: Informationen und Erfahrungen mitteilen, Praktiken und Kenntnisse etablieren, Inhalte, Redeweisen und Beziehungen formalisieren. Das Storytelling ist also mehr als die Summe der Geschichten. Es ist ein Diskursformat oder, um mit Michel Foucault zu sprechen, eine „Disziplin“. Der Starr-Bericht über die Affäre Monica Lewinsky fasste die wichtigsten Schlussfolgerungen in einem Kapitel mit der Überschrift „Erzählung“ zusammen.10 Der Bericht der Untersuchungskommission zu den Attentaten des 11. September wurde laut William Safire vor allem deshalb ein Bestseller, weil die Redakteure alle Adjektive gestrichen und die Kette der Ereignisse in Form einer Erzählung rekonstruiert haben.11

Egal, ob ein Verkäufer ein erfolgreiches Verkaufsgespräch führen oder ein Politiker zwei gegnerische Parteien zur Unterzeichnung eines Friedensvertrags bewegen will, ob ein Unternehmer ein neues Produkt auf den Markt werfen oder seinen Angestellten einschneidende Veränderungen bis hin zu ihrer eigenen Entlassung unterjubeln will, ob man ein Videospiel erfindet oder in einem Land der ehemaligen Sowjetunion die Demokratie unterstützt: Die Methoden, die Gesprächspartner, die Finanzierung und der Zeitplan des Vorgehens werden nach demselben Modus operandi ausgewählt. Storytelling ist das schematische Ausdrucksmittel einer Ideologie, die in Politik und Wirtschaft gelehrt wird.

Auch die Soziologie greift in ihrer Erforschung sozialer oder beruflicher Identitätsmuster auf Lebenserzählungen zurück. Richard Sennett, Soziologe und Professor an der London School of Economics, sagte vor kurzem: „Ich würde mir wünschen, dass sich unsere Disziplin mehr für das Erzählen und für Lebensgeschichten interessiert.“ Laut Sennett zersetzt der moderne Kapitalismus in seinen Institutionen „verständliche und vorhersehbare Langzeitstrukturen“ und beraubt die Arbeitenden der Sinnstiftung und Kontinuität. „Wir müssen verstehen, wie das Individuum mit dieser Sinnlehre umgehen und sie füllen kann.“ Eine Erzählung des eigenen Arbeitslebens kann unter anderem auch „ein Mittel der emotionalen Selbstverteidigung“ sein.

Denn der neue Kapitalismus, so Sennett, „ist ein wertneutraleres und in sozialer wie psychologischer Hinsicht weniger vielversprechendes System als der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts.“ In diesem Kontext der Deregulierung und wirtschaftlichen Unsicherheit „geht es für die Interpretation des eigenen Lebens immer darum, aus unzusammenhängenden Bruchstücken von Arbeitserfahrungen eine erzählerische Arbeitsbiografie zu entwickeln“12 .

Auch in den anderen Sozialwissenschaften hat der narrative Ansatz seit dem „linguistic turn“ der Neunzigerjahre einen geradezu hegemonialen Status erlangt.13 Die Wirtschaftswissenschaftlerin Deirdre N. McCloskey etwa ist überzeugt, dass Ökonomie im Wesentlichen eine narrative Disziplin ist: „Nicht zufällig sind die Wirtschaftswissenschaft und der Roman um dieselbe Zeit entstanden.“ Die Betriebswirtschaft stützt sich auf Erzählungen vom Mitarbeiten, um die symbolischen Dimensionen organisatorischer Strukturen zu verstehen. Aus der Pädagogik sind Lebenserzählungen von Auszubildenden aus der Erforschung bestimmter Bildungsphänomene nicht mehr wegzudenken. Und die Ethnologie betont schon seit langem die Bedeutung des Erzählens für die Weitergabe kultureller Traditionen.14

Die Rechtswissenschaft, zumal die US-amerikanische, ist ohnehin längst im Griff des Storytelling. Und glaubt man dem Physiker Steven Weinberg, so entscheiden sogar in den Naturwissenschaften und der Grundlagenforschung gute Geschichten über die Verteilung von Forschungsmillionen.

Francesca Polletta formuliert den Argwohn, den diese allgegenwärtige Faszination für das Erzählen von Geschichten weckt: die Gefahr der politischen oder ideologischen Manipulation. Wenn jeder seine Geschichte hat – nach welcher richten sich dann politische Entscheidungen?

„Im ersten Moment scheint das Wort ‚Storytelling‘ hier etwas fehl am Platz“, heißt es auf der Startseite der Mitre Corporation. Diese Firma wird zum Teil vom US-Verteidigungsministerium finanziert und ist auf die Erforschung und Entwicklung von Visualisierungs- und Informationstechniken spezialisiert. Bei Mitre sucht man nach neuen Möglichkeiten, mit der steigenden Informationsflut, mit „textueller Belästigung“ umzugehen. Wenn sich die Summe unseres Wissens alle sieben Jahre und die Rechenleistung unserer Prozessoren alle 18 Monate verdoppelt, ist unsere Fähigkeit zur Auswahl relevanter Informationen gefordert. Laut Mitre-Forscher Nahum Gershon „hat das menschliche Gehirn eine überwältigende Fähigkeit zur Synthese von Informationen unterschiedlicher Sinnesorgane, wenn diese Informationen in narrativer Form aufbereitet werden.“

„Jedes Mal, wenn eine neue Technik des Geschichtenerzählens erfunden wurde, hat das die Welt verändert“, meint Brian Ferren, Vorstandsvorsitzender der Firma Applied Minds Inc., „man denke nur an den Buchdruck, die Telegrafie oder das Telefon, an Presse, Rundfunk und Fernsehen – und neuerdings das Internet“.

Völkermord und Krieg als digitale Story

Storytelling ist das entscheidende dramaturgische Element in der rasant wachsenden digitalen Unterhaltungsindustrie. In Form von Videospielen ist es inzwischen sogar in den Bereich des humanitären und politischen Engagements vorgedrungen. So hat das UN-Aktionsprogramm zur Ausrottung von Hunger und Mangelernährung ein Onlinespiel ins Netz gestellt, bei dem es darum geht, auf einer Fantasieinsel tausende von Menschen zu ernähren.

Bei dem Videospiel „Darfur is Dying“ steht man als Spieler vor der Wahl, von Milizen der Dschandschawid „angegriffen und vielleicht getötet“ zu werden oder zu verdursten. „Sie müssen unbedingt Wasser für sich und ihre Gemeinschaft besorgen!“ Wären Sie lieber Poni, die kleine Sudanesin im rosa Kleid, oder Jaja, ihr zwölfjähriger Bruder? Rahman, der Vater? Oder die Mutter Sittina? Die Kinder müssen 5 384 Meter bis zum nächsten Brunnen laufen. Drückt man die Leertaste, so verstecken sie sich hinter einem Felsen oder verendeten Tier. Zu spät. Die bewaffneten Männer auf dem Jeep haben die Kinder entdeckt. „Sie wurden von den Milizen gefangen genommen. Wahrscheinlich enden Sie als eines der hunderttausend Todesopfer in dieser humanitären Katastrophe.“

Es kann nicht überraschen, dass sich auch die US-amerikanischen Streitkräfte für potenzielle militärische Anwendungen des Geschichtenerzählens interessieren. Schon 1999 wurde das „Institute for Creative Technologies“ gegründet. Hier werden Simulationstechniken zur Ausbildung von Soldaten erforscht und entwickelt. Ziel ist, die Techniken der Kulturindustrie, die Dramaturgie des Geschichtenerzählens und die neuesten Verfahren im Bereich der künstlichen Intelligenz und der virtuellen Realität zu verknüpfen.

Ein System der „Visualisierung“, mit dem die Armee in realistischen Simulationen ihre Soldaten gezielt auf Einsätze in Kriegsgebieten wie Irak oder Afghanistan vorbereitet, ist bereits in Betrieb. Was die Veranschaulichung von Schlachtfeldern betrifft, gelten diese virtuellen, interaktiven und multisensorischen Umgebungen als unübertroffen. Sie stützen sich auf computergenerierte Dramaturgien, und die künstlichen Figuren imitieren nahezu perfekt das Reaktionsverhalten eines Menschen in einer bestimmten Situation. Neben dem Hören und Sehen kommen dabei auch Tast- und Geruchssinn der Probanden zum Einsatz.

Eine Forschungsabteilung des US-Außenministeriums benutzt Elemente des Storytelling für die Weitergabe von Einsatzbefehlen an Armeeeinheiten – ebenso wie eine nachrichtendienstliche Forschungseinrichtung namens Advanced Research and Development Activity, die auf dieser Grundlage ein neues Programm zur Visualisierung von Information und zur Nachrichtenbeschaffung im Weltraum erarbeitet hat.

In den Studios des Reality-TV, an den Konsolen der Videospiele, auf den Sichtfeldern von Mobiltelefonen und auf Computerbildschirmen, in unseren Schlafzimmern und Autos könnte das tägliche Leben bald in einen erzählerischen Kokon eingesponnen sein, der unsere Wahrnehmungen filtert, unsere Affekte stimuliert, unsere sensorischen Reaktionen strukturiert und nur noch das zulässt, was als „narrativ hergeleitete Erfahrung“ gelten kann.

Laut „CyberJournalist.net“ ist dies eine Tendenz, die in den USA nach dem 11. September rasch zugenommen hat. Zeugenberichte in der ersten Person Singular überschwemmten das Internet mit einem Strom von Behauptungen, Anekdoten und persönlichen Eindrücken, die der Schriftsteller Don DeLillo als „Gegenerzählung“ bezeichnet: eine chaotische und vielstimmige Erzählung aus Gerüchten, Fantasien und mystischen Echos, „eine Phantomgeschichte aus gefälschten Erinnerungen und imaginierten Verlusten“.

Nicht zuletzt die rasante Verbreitung der Blogs belegt die Begeisterung für das Geschichtenerzählen. Das Pew Center für Medienforschung stellt in seiner Studie „Internet and American Life“ fest, dass zur Zeit jede Sekunde ein neuer Blog entsteht. 11 Millionen Amerikaner haben bereits ihren eigenen Blog, und 32 Millionen lesen die Blogs von anderen. Die meisten – 77 Prozent – bloggen nicht, um sich an wichtigen öffentlichen Debatten zu beteiligen oder ihre Meinung kundzutun, sondern um „ihre Geschichte zu erzählen“.

Folgerichtig nennt sich ein im Auftrag des Pew Center erstellter Bericht vom Juli 2006: „Die Blogger: ein Porträt der neuen Interneterzähler“. Mit Standardformaten für Internetseiten, zu denen Fotos und das Hochladen von Tonaufnahmen gehören, stimulieren Providerfirmen gezielt das Verlangen nach dem Erzählen. Es reicht nicht mehr, man selbst zu sein. Man muss zu seiner eigenen Geschichte werden. Du bist deine Story.

Fußnoten:

1 Francesca Polletta, „It Was Like a Fever. Storytelling in Protest and Politics“, Chicago (The University of Chicago Press) 2006. 2 www.infoplease.com/t/hist/state-of-the-union/198.html. 3 Vgl. Michael Rogin, „Ronald Reagan, the Movie and Other Episodes in Political Demonology“, Berkeley (University of California Press), 1987. 4 Bill Clinton, „Mein Leben“, Berlin (Econ) 2004. 5 William Safire, „The new story of ‚story‘ “, The New York Times, 5. Dezember 2004. 6 www.partnersforprogress.com. 7 Stephen Denning, „The Springboard. How Storytelling Ignites Action in Knowledge-Era Organizations“, Boston (Butterworth, Heinemann) 2000. www.stevedenning.com. 8 Doug Stevenson, „Never Be Boring Again – Make Your Business Presentations Capture Attention, Inspire Action and Produce Result“, Colorado Springs (Cornelia Press) 2003. 9 Francesca Polletta, a. a. O. Über das organisierte Geschichtenerzählen auf Festivals und in Vereinen siehe Jill Jordan Sieder, „Time For Once Upon a Time“, U.S. News & World Report, 27. Oktober 2003. 10 Peter Brooks, „Stories abounding“, Chronicle on Higher Education, Washington, 23. März 2001. 11 William Safire, a. a. O. 12 Richard Sennett, „Récits au temps de la précarité“, Le Monde, 5. Mai 2006. 13 Martin Kreiswirth, „Tell me a story, The narrative turn in the human sciences university“, Toronto (University of Toronto Press) 1995. 14 Eddie Soulier (Hg.), „Le storytelling concepts, outils et applications“, Hermes-Lavoisier (Paris) 2006. Aus dem Französischen von Herwig Engelmann Christian Salmon ist Schriftsteller. Der vorliegende Text ist ein Auszug aus einem Buch über die neue narrative Ordnung, das im September 2007 erscheinen wird.

Le Monde diplomatique vom 10.11.2006, von Christian Salmon