10.11.2006

Schule der Rechtlosigkeit

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Schule der Rechtlosigkeit

Zivile Gefängnisse in den USA von Avery F. Gordon

Am 19. Mai empfahl der UN-Ausschuss gegen Folter nach seiner Überprüfung von US-Militärgefängnissen, die Vereinigten Staaten sollten „ihr Gefängnis in Guantanamo Bay auf Kuba schließen, im Krieg gegen den Terror auf die Nutzung geheimer Gefangenenlager verzichten“. Zudem sollten sie keine Häftlinge in Länder verbringen, in denen Folter praktiziert wird.

Nun ist es zweifellos ein wesentlicher Fortschritt, wenn sich Medien und Menschenrechtsorganisationen für das weltweite Netz von geheimen militärischen Straflagern der USA und für deren Umgang mit Gefangenen interessieren. Doch die Vorkommnisse in den Lagern von Abu Ghraib und Guantánamo dürfen nicht als Einzelfälle gesehen werden, denn es gibt enge Querverbindungen zwischen den militärischen Gefängnissen im Ausland und den zivilen Haftanstalten in den USA. Und die Übergänge zwischen der Behandlung von im Krieg gemachten Gefangenen und von zivilen Häftlingen sind fließend und eine genauere Untersuchung wert.1

Den militärischen und zivilen Gefängnissen gemeinsam ist zunächst ihr Personal. Armee und Marineinfanterie der USA übernahmen die Verantwortung für eine große Zahl von Kriegsgefangenen, „feindlichen Kombattanten“ und Zivilpersonen, die als „Gefahr für die Sicherheit“ galten. Die Armee musste zur Deckung ihres kurzfristig hohen Personalbedarfs auf Reservisten zurückgreifen. Seit April 2003 hat sie mehr als 5 000 zivile Gefängniswärter zum Dienst eingezogen. Der Branchenverband American Correctional Association geht davon aus, dass sich diese Zahl auf 9 000 erhöhen könnte.2

Offizielle Auskünfte über die genauen Tätigkeiten dieses Personals im Militärdienst gibt es nicht. Doch nach Aussage von Mark S. Inch, Leiter des Bereichs Internierungen bei der US-Militärpolizei, sind fast ausschließlich Wärter der Heeresreserve und der dem Heer unterstehenden Nationalgarde mit der Behandlung von Kriegsgefangenen betraut: „Die Synergiewirkungen zwischen der zivilen Berufsausübung in den Haftanstalten und dem Umgang mit inhaftierten feindlichen Kombattanten in Afghanistan, Kuba und Irak liegen auf der Hand. Sie sind entscheidend für den Erfolg der Mission.“

Zu diesen „Synergiewirkungen“ gehört der Entwurf für die 2002 eröffneten Hafteinrichtungen („Camp Delta“) in Guantánamo: Er stammt von der 300. Militärpolizeibrigade, die dabei eng mit Gefängnispersonal aus Michigan kooperierte. Ein hoher Unteroffizier der Kompanie, John Vannatta, ist im zivilen Leben Direktor einer „Besserungsanstalt“ der Kleinstadt Miami in Indiana. Weitere 60 zivile Gefängnisbeamte arbeiten in Guantánamo „auf der Verwaltungs- und Leitungsebene“.

Die Gefangenenlager in Afghanistan betreibt das 327. US-Militärpolizeibataillon mit Hilfe von Gefängniswärtern und Polizisten aus Chicago. Die berüchtigte 800. Brigade der Militärpolizei war verantwortlich für den „Wiederaufbau des Gefängnissystems im Irak“ wie auch für die personelle Ausstattung und den Betrieb von Haftanstalten, in denen feindliche Kombattanten und Kriegsgefangene interniert wurden. Hauptmann Michael McIntyre und Oberfeldwebel Don Bowen, im zivilen Leben an der Strafanstalt Terre Haute in Indiana tätig, haben maßgeblich am Aufbau des neuen irakischen Gefängniswesens mitgearbeitet.3

Etliche zivile Gefängniswärter wurden wegen unterschiedlicher Verbrechen in Abu Ghraib angeklagt. Im Untersuchungsbericht von General Antonio Taguba vom Mai 2004 heißt es über Ivan L. „Chip“ Frederick II, er sei auf Grund seiner Erfahrung im Strafvollzug einer der „Anführer“ bei den Übergriffen gewesen. Diese Erfahrung erwarb er als Aufseher im Hochsicherheitsgefängnis Wallens Ridge in Virginia.4

Charles A. Graner Jr., der auf dem berüchtigten Foto gemeinsam mit Lynndie England lächelnd hinter einer Pyramide aus nackten irakischen Gefangenen steht, war als Aufseher an mehreren gewalttätigen Übergriffen gegen Häftlinge im Hochsicherheitstrakt des Staatsgefängnisses Greene in Pennsylvania beteiligt. Auch er wurde wegen einschlägiger Berufserfahrung zum Dienst in Abu Ghraib eingeteilt.5

John J. Armstrong wurde 2004 stellvertretender Leiter der US-geführten Gefängnisse im Irak. Als Leiter der Strafanstalten im Staat Connecticut war er entlassen worden, nachdem bei einer Überführung von 200 Häftlingen zwei Menschen gestorben waren. Die Klage der Angehörigen endete mit einem Vergleich.

Lane McCotter wurde vom früheren Justizminister John Ashcroft zum Leiter des irakischen Gefängniswesens berufen, der zugleich für die Ausbildung der einheimischen Wärter zuständig war. McCotter fand eine leitende Position bei der Management and Training Corporation, einer privaten Gefängnisbetreiberfirma, nachdem man ihm als Direktor der Gefängnisverwaltung im Staat Utah gekündigt hatte, weil ein Häftling verstorben war, den man 16 Stunden nackt mit Handschellen an einen Stuhl gefesselt hatte. Kurz vor McCotters Entsendung in den Irak kritisierte das US-Justizministerium nach dem Tod eines Häftlings die fehlende medizinische und psychologische Betreuung in einem Gefängnis der Management and Training Corporation.6

Obwohl die Beteiligten gerne die Ahnungslosen spielen, ist Gewaltanwendung in den Strafanstalten der USA weit verbreitet. Folter, Demütigung, Entwürdigung, sexuelle Übergriffe, Attacken mit Waffen und Hunden, Erpressung und grausame Spiele gehörten im Strafvollzug von Anfang an zum Alltag. Häftlinge, Anwälte, Menschenrechtsorganisationen, Wissenschafter und verschiedene staatliche Stellen haben immer wieder bestätigt, dass in den Gefängnissen der USA ein „rassistischer Sadismus“ praktiziert wird, dessen Geschichte so alt ist wie diese Knäste selbst.7

Im Taguba-Bericht ist von einer „problemlosen Zusammenarbeit“ der Reservisten und der Berufssoldaten bei der Militärpolizei die Rede. Die American Civil Liberties Union (ACLU) veröffentlichte Dokumente, aus denen hervorgeht, dass die Wärter in Abu Ghraib sehr wohl sahen, wie Gefangene mit über den Kopf gezogenen Plastiktüten an eine Wand gekettet waren, wie sich nackte Häftlinge in Isolationshaft mit gespreizten Armen und Beinen auf nassen Böden ausstrecken mussten, wie sie vom Schlafen abgehalten, in den Magen getreten, erschreckt und eingeschüchtert wurden, wie man ihnen Brandwunden zufügte und ihre Familienangehörigen bedrohte. Doch keine dieser Praktiken kam in den Augen des Personals einer Misshandlung gleich, da sie sich ja „ nicht von den Vorgehensweisen unterschieden, die wir auch in den zivilen Gefängnissen der USA beobachtet haben.“

Das FBI verhörte fast alle Leute, die mit der Bewachung der Gefangenen in Abu Ghraib zu tun hatten. Was sie sahen, hielten sie für annehmbares Verhalten und keineswegs für etwas, was nach internationalem Recht als Folter gilt.

Die Fotos von Abu Ghraib zeigen also nicht ein paar „faule Äpfel“, wie Rumsfeld meinte. Sie zeigen vielmehr, wie ein modernes Gefängnis in den USA funktioniert, das den gesetzlichen Bestimmungen und dem neuesten Standard entspricht. Nirgends wird die Normalität der Gewalt deutlicher als in der Zunahme der Hochsicherheitstrakte und -gefängnisse in den USA während der letzten 25 Jahre. Sie bilden das technologische Nonplusultra des Strafvollzugs, das beim Aufbau der militärischen Gefangenenlager im Irak und anderswo vermutlich als Vorbild diente.

In den USA leben heute 6,9 Millionen Menschen (darunter überproportional viele Schwarze und Latinos) entweder dauerhaft im Gefängnis oder zumindest – weil auf Bewährung oder auf die Berufungsinstanz wartend – mit einem Bein. Von ihnen wurde mehr als die Hälfte wegen Drogendelikten oder finanzieller Bagatellvergehen verurteilt. Und zwei Prozent befinden sich in „administrativer Absonderung“, das heißt in hoch befestigten Sicherheitsarealen, die so etwas wie Gefängnisse innerhalb von Gefängnissen darstellen. Hier werden die Insassen ständig elektronisch überwacht und 23 bis 24 Stunden pro Tag gefesselt in kleinen fensterlosen Zellen gehalten. Ab und zu holt man sie heraus, damit sie duschen oder in Ketten unter den Augen bewaffneter Wärter in einem Käfig gymnastische Übungen machen können.

Auch außerhalb der Hochsicherheitstrakte sind Gefängnisse in den USA militärisch durchstrukturiert. Es herrschen Drill und paranoide Feindbilder, die sich in nichts von den Verhaltensregeln in den Streitkräften unterscheiden. Seit die Anwendung tödlicher Waffen und hoch entwickelter Überwachungstechniken in den Gefängnissen nur minimalen Beschränkungen unterliegt, gehören zur Grundausstattung einer Haftanstalt folgende Instrumente: „Metalldetektoren, Röntgenapparate, Fußeisen, Hüftketten, Dunkelzellen, Käfige, Fesselstühle, Taser, Schockpistolen, Pfeffersprays, Tränengas, Gasgranaten sowie Schusswaffen unterschiedlichen Kalibers“.8

Vor allem in den Hochsicherheitstrakten ist „unverhältnismäßige“ Gewalt nicht nur erlaubt, sondern alltägliche Praxis: gewaltsames Entfernen aus der Zelle, Beschuss mit Tasern, chemischen Sprays und Schockpistolen, medikamentöse Beruhigung, totale Isolation oder Lärm- und Lichtfolter.

In den vergangenen zehn Jahren wurden die politischen und zivilen Rechte von Häftlingen radikal beschnitten. Gefangene erhalten keinen Zugang zu einer unabhängigen Rechtsberatung. Sie werden von der Außenwelt abgeschnitten und geheim an öffentlich unzugänglichen Orten verwahrt, wo sie bei Verletzung willkürlicher interner Regeln strengen Strafen unterliegen.

Der Gefangene ist der Feind

Wenn es zu einer Gerichtsverhandlung kommt, dann unter dem Vorsitz derselben Behörde, die auch die Haftbedingungen zu verantworten hat. In allen diesen Punkten unterscheiden sich die Haftanstalten innerhalb der USA nicht von deren Gefangenenlagern in Übersee. Isoliert und unter menschenunwürdigen Bedingungen sterben die Häftlinge einen sozialen Tod. Ihre Angst wird bewusst geschürt, um gemeinsame Aktionen oder die Ausübung politischer Rechte schon im Keim zu ersticken. Aus einem Häftling, der immer noch einen gewissen sozialen Status und Rechte hat, wird eine Figur, die wir aus dem Krieg kennen: ein Feind.

Die Sprache der Sicherheit legitimiert das Hochsicherheitsgefängnis, indem dieses nicht als eine Strafanstalt gilt, sondern als ein Verfahren zum Umgang mit dem Teil der Bevölkerung, der ein Sicherheitsrisiko darstellt.

Dabei waren Praktiken, die heute rechtlich als „normal“ gelten, noch vor nicht allzu langer Zeit von der US-Verfassung als „grausame und unverhältnismäßige Bestrafung“ verboten. Doch ausgerechnet die Auslegung dieses 8. Amendments durch den Obersten Gerichtshof der USA bildet inzwischen eine rechtliche und sprachliche Grundlage für die Memoranden zu „Verhören“ von Gefangenen, die unter Bush im Weißen Haus verfasst wurden. Darin wird genau festgelegt, was „Folter“ ist und was nur einen „Missbrauch“ darstellt, wobei Folter noch nicht bei „längerfristiger Beeinträchtigung“, sondern erst bei „dauerhaften“ oder „irreparablen Schaden“ vorliege.

Wenn in diesen Memos behauptet wird, das 8. Amendment verlange den Nachweis einer vorsätzlichen Absicht grausamer Behandlung oder unverhältnismäßiger Bestrafung, die Aktion als solche reiche also nicht aus, so entspricht dies nur der bereits etablierten sozialen Realität, die in den normalen Gefängnissen herrscht. Denn dort ist die staatliche Macht längst zum Souverän über Leben und Tod geworden, der rechtliche Konsequenzen nicht befürchten muss.

Der Krieg gegen den Terror ist ein endloser Krieg, der gegen ein ständig changierendes Spektrum von Feinden geführt und ideologisch im Namen der Ordnung und der Aufstandsbekämpfung legitimiert wird, ergänzt durch eine politische Strategie mit dem Ziel, die Folgen globaler Armut zu bekämpfen und einzudämmen.

In diesem neuen permanenten Sicherheitskrieg findet der gefangene, gefolterte, rituell gedemütigte, auf unbestimmte Zeit und klandestin eingesperrte fremde Feind seine tragische Entsprechung im inneren Feind des zivilen Straftäters. Beide werden zum Opfer des systematischen Wegsperrens im Dienst einer parasitären Kriegswirtschaft. Beide sind einem korrupten und gummiartigen Gesetz unterworfen, das Anklagen erlaubt, bei denen die Angeklagten ohne echten Rechtsbeistand bleiben. Feind und Häftling werden einer zermürbenden Bestrafung unterworfen, die „sozialen Tod“ und Verlust jeder persönlichen Würde bedeuten. Und das Ganze wird präsentiert als der unvermeidliche Preis für „unsere“ Sicherheit.

Fußnoten:

1 Avery F. Gordon, „Abu Ghraib: Imprisonment and the War on Terror“, Race & Class, Bd. 48, Nr. 1, 2006. 2 Mark S. Inch, „Twice the Citizens“, Corrections Today, Dezember 2003, S. 79; Dave Moniz and Peter Eisler, „U.S. Missed Need for Prison Personnel in War Plans“, USA Today, 24. Juni 2004. 3 Donald J. Ryder, „Military and Civilian Corrections: The Professional Bond“, Corrections Today, Dezember 2003. 4 Article 15-6 Investigation of the 800th Military Police Brigade (The Taguba Report), in: Mark Danner, „Torture and Truth: America, Abu Ghraib, and the War on Terror“, New York Review Books, 2004. 5 vgl. Paul Pierce, „Fayette Reservist Implicated in Scandal“, Pittsburgh Tribune Review, 5. Mai 2004; Internetseite der Pennsylvania Abolitionists vom 6. Mai 2004, www.pa-abolitionists.org; Sasha Abramsky, „Seeds of Abu Ghraib“, The Nation, 26. Dezember 2005. 6 Fox Butterfield, „Mistreatment of Prisoners is Called Routine in U.S.“, New York Times, 8. Mai 2004; Fox Butterfield and Eric Lichtblau, „Screening of Prison Officials Is Faulted by Lawmaker“, New York Times, 21. Mai 2004. 7 William F. Pinar, „Cultures of Torture“, unveröffentlichtes Manuskript; web.amnesty.org/library/index/engamr510612006; Deborah Davies, „Torture: America’s Brutal Prisons“, globalresearch.ca/articles/DAV505A.html; Angela Y. Davis, „Abolition Democracy: Beyond Prisons, Torture and Empire“, Seven Stories Press 2004; Mark Dow, „American Gulag: Inside U.S. Immigration Prisons“, UC Press 2004; Commission on Safety and Abuse in America’s Prisons, www.prisoncommission.org/index.asp; Kristian Williams, „American Methods: Torture and the Logic of Domination“, South End Press 2006. 8 Craig Haney, „Prison Overcrowding: Harmful Consequences and Dysfunctional Reactions“, www.prisoncommission.org/public_hearing_2.asp. 9 Joan Dayan, „Cruel and Unusual: The End of the Eighth Amendment“, Boston Review, Oktober/November 2004; Working Group Report on Detainee Interrogations in the Global War on Terrorism, „Assessment of Legal, Historical, Policy and Operational Considerations“, 6. März 2003. Aus dem Englischen von Herwig Engelmann Avery F. Gordon ist Professor für Soziologie, University of California, Santa Barbara.

Le Monde diplomatique vom 10.11.2006, von Avery F. Gordon