10.11.2006

Stimmenfischen in den USA

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Stimmenfischen in den USA

von Serge Halimi

Senator Sam Brownback hatte offenbar große Sorgen: „Alles was wir in den letzten sechs Jahren erreicht haben, können wir an einem Tag verlieren“, warnte er seine Anhänger in Kansas in einem Rundschreiben. Die Demokraten wollten die Steuern erhöhen, den Antiterrorkrieg schwächen und ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten einleiten. Im zweiten Wahlbezirk von Indiana wurden potenzielle Wähler mit computergenerierten Telefonanrufen traktiert, im Auftrag von Lobbygruppen, die für republikanische Kandidaten bei der Wahl am 7. November eintreten.

Mitunter kam die Ansprache persönlicher daher. In einer Mail an einen vermeintlichen Wähler (in diesem Fall ein Franzose mit ziemlich anders gestrickter Meinung) schrieb George W. Bush am 17. Oktober: „Lieber Serge, 2004 haben Sie mich in meinem erfolgreichen Wahlkampf unterstützt … Auch dieses Jahr möchte ich Sie um Ihre Hilfe bitten … Ohne republikanische Mehrheit im Kongress werden unsere politischen Gegner den Patriot Act ändern, Ihre Steuerbelastung erhöhen und mich hindern, an den Bundesgerichten konservative Richter einzusetzen.“

Der aktivistische Ton der E-Mail verrät die Handschrift von Karl Rove, der im Weißen Haus als Stratege und Spezialist für Meinungsumfragen wirkt. Da die Wahlbeteiligung bei „Midterm“-Wahlen im Allgemeinen gering ist – 2002 lag sie bei 39 Prozent –, sei es wichtiger, die Basis zu mobilisieren, als Unentschlossene zu überzeugen. Angesichts der tödlich verfahrenen Lage im Irak, des Skandals um die sexuelle Belästigung eines minderjährigen Kongressboten durch den auf „moralischen Anstand“ pochenden Republikaner Mark Foley und des allgemein verbreiteten Eindrucks, das Leben werde immer härter, standen die Wahlkämpfer des Präsidenten wahrlich vor keiner leichten Aufgabe.

An den nötigen technischen und finanziellen Mitteln fehlte es ihnen indes nicht. In jedem Wahlbezirk, in dem der Ausgang noch offen war, konnten die Kandidaten aus einer Fülle von Datensammlungen über Alter, Art der Wohnung, Religionszugehörigkeit und Konsumgewohnheiten potenzielle Wähler herausfiltern, deren Ansprache den meisten Erfolg erspricht. Neu ist dieses Verfahren nicht: Schon Bill Clinton verzichtete in den Sommerferien 1995 auf einen Jachtausflug, nachdem ihn sein Meinungsforscher überzeugt hatte, dass er vor allem Amerikaner ansprechen müsse, die gern wandern, campen und Golf spielen.

Seither wurde das System weiter perfektioniert. Mithilfe von „Microtargeting“ kann nun jede Partei differenzierte Wählerprofile erstellen lassen. 42 solcher Profile haben die Republikaner allein für den Bundesstaat Michigan herausgefiltert. Als Grundlage des kostspieligen Dataminings dienten etwa Angaben über Zeitungsabonnements, wohltätige Spenden, der Besuch von Privatschulen oder der Besitz eines Schneemobils. Republikanische Wahlkämpfer machten sich daran, allen Schneemobilnutzern via Briefpost, E-Mail oder Klingelputzen mitzuteilen, dass die „radikalökologischen“ Demokraten danach trachten, neue Pisten im Gebirge oder in Nationalparks zu verbieten. Weißen praktizierenden Christinnen, die auf dem Lande leben, schickte man hingegen Botschaften, die noch einmal die Hydra der Homosexuellen-Ehe reanimierte.1 Eine halbe Milliarde Dollar gaben die beiden großen Parteien bei den letzten Midterms für solches Microtargeting aus – nicht mitgerechnet, was die Kandidaten aus eigener Tasche bezahlten.

Aber auch weniger raffinierte Methoden kommen zum Einsatz, zum Beispiel beim Thema Antiterrorkrieg. „Wählen Sie, als würde Ihr Leben davon abhängen. Denn genau das ist der Fall“, knurrt eine republikanische Werbung. Al-Qaida „wird uns noch einmal treffen, weil die Politik George Bushs gescheitert ist“, erwidern die Demokraten. Die demagogisch aufgeheizte Atmosphäre und das weit verbreitete Sicherheitsbedürfnis erklären, dass eine Reihe demokratischer Parlamentarier die Einschränkungen politischer Freiheitsrechte durch das Weiße Haus befürworten, die Legalisierung von Folter inbegriffen.2 Das seit 2001 um 40 Prozent gestiegene Budget des Pentagon – von insgesamt 448 Milliarden Dollar sind 70 Milliarden Dollar zusätzlich für den Krieg im Irak und in Afghanistan vorgesehen – wurde vom Senat einstimmig verabschiedet.

80 Prozent glauben, dass Tellerwäscher Millionäre werden

Obwohl der Irakkrieg eines der zentralen Wahlkampfthemen ist, fällt es mitunter schwer, grundsätzliche Unterschiede zwischen den Kontrahenten auszumachen. Die meisten republikanischen Volksvertreter wollen „am jetzigen Kurs festhalten“, bis die irakische Regierung das Land übernehmen kann; die meisten demokratischen Volksvertreter wollen die Richtung ändern, sich aber nicht auf einen Zeitplan für den Truppenrückzug festlegen.

Der Chefredakteur der Zeitschrift The National Interest meint zu den Wahlaussagen der beiden Kandidaten, die als Favoriten für 2008 gelten, zwischen der demokratischen Senatorin Hillary Clinton und dem republikanischen Senator John McCain gebe es „in internationalen Angelegenheiten eine fast vollständige Übereinstimmung“3 . Im Übrigen kommt Kritik an Bushs imperialem Abenteurertum häufig gerade von rechts.4 Wirtschaftspolitisch wird nicht recht deutlich, was die Demokraten außer der versprochenen Anhebung des bundesgesetzlich garantierten Mindestlohns, der seit 1997 unverändert bei 5,15 Dollar liegt, und von einigem Wirbel um das Sozialdumping bei Wal-Mart abgesehen, anders machen würden.

Es sei denn, die Rezession kommt früher als vorhergesehen. Das könnte dann passieren, wenn die Immobilienblase platzen sollte, denn die Sparquote liegt unter null, die Zinssätze steigen, und Millionen US-Bürger haben Kredite in Höhe des (inzwischen zu hoch angesetzten) Werts ihrer Wohnung oder ihres Hauses aufgenommen. Das Gesamtbild der US-Ökonomie ist aber nicht durchgehend finster. Zwar wird das Handelsbilanzdefizit gegen Ende des Jahres bei 800 Milliarden Dollar liegen (6 Prozent des BIP), aber die Inflation bleibt mit 2,1 Prozent moderat, die offizielle Arbeitslosenquote bei 4,6 Prozent stabil, das Wachstum recht kräftig. Und das Haushaltsdefizit in Höhe von 260 Milliarden Dollar (2 Prozent des BSP) ist für ein Land, das sich im Krieg befindet, durchaus erträglich.

1983 glaubten 57 Prozent der befragten Amerikaner, man könne sein Leben „arm beginnen und reich beenden“, derzeit sind es 80 Prozent. Im gleichen Zeitraum hat sich der Teil des Volkseinkommens, den das reichste Hundertstel der US-Bürger besitzt, von 9 auf 16 Prozent erhöht.5

Auch auf längere Sicht hellt sich das Bild nicht auf. Die Lohnquote war seit Bestehen der Einkommensstatistik noch nie so gering wie heute. Der Anteil der Gewinne hingegen liegt so hoch wie seit 50 Jahren nicht mehr. Das erklärt zum Teil die steigenden Staatseinnahmen (plus 27 Prozent bei den Unternehmenssteuern) und das vergleichsweise moderate Budgetdefizit.

Die Rechte sieht darin eine Bestätigung für ihre „Angebotspolitik“: Nur weil US-Präsident Bush die Steuerbelastung seit 2001 gesenkt habe, fließe nun mehr Geld in die Staatskassen. Die Steuermehreinnahmen kommen laut Wall Street Journal „weitgehend aus den Taschen der Reichen, die von höheren Gehältern, Extrazahlungen und Börsengewinnen profitiert haben“6 . Will heißen: Die Reichen zahlen ein bisschen mehr Steuern, weil sie viel mehr verdienen.

Dass die Reichen einen wachsenden Teil der Früchte des Wirtschaftswachstums kassieren, ist inzwischen ein wesentliches Merkmal der US-Gesellschaft. Ian Dew-Becker und Robert Gordon von der Northwestern University liefern dafür erstaunliches Zahlenmaterial, obwohl sie die Kapitalgewinne gar nicht berücksichtigen. Das Medianeinkommen stieg zwischen 1966 und 2001 inflationsbereinigt nur um 11 Prozent.7 Die 10 Prozent Spitzenverdiener durften sich hingegen über ein Plus von 58 Prozent freuen. Beim obersten einen Prozent betrug die Steigerung 121 Prozent, beim obersten Promille 256 Prozent und beim obersten Zehntelpromille 617 Prozent.8

In den Bush-Jahren verschärfte sich eine Tendenz, die bereits unter der Clinton-Administration zu beobachten war, als der Lohn gering qualifizierter Arbeitnehmer immer stärker unter Druck geriet. Derzeit sind Vermögen in den USA so sehr begünstigt, dass viele Werkzeuge gegen die Einkommensschere überhaupt nicht mehr greifen. 1993 wurde den börsennotierten Unternehmen die Auflage gemacht, Gehalt und Zusatzleistungen ihrer Spitzenmanager zu veröffentlichen. Seit der Begrenzung von Steuerabzugsmöglichkeiten auf Einkommen unter einer Million Dollar gilt dies als eine Art „Chef-Mindestlohn“. Das Ergebnis: 2005 verdiente der Chef eines Großunternehmens durchschnittlich 10,5 Millionen Dollar im Jahr, 369-mal so viel wie der Durchschnitt seiner Arbeitnehmer, 1993 war es noch 131- und 1976 nur 36-mal so viel. Die ärmere Hälfte der US-Bürger besitzt heute nur 2,5 Prozent des Volksvermögens, das reichste Zehntel 70 Prozent.9 Zu diesem Zehntel gehören auch zahlreiche Parlamentarier, die nur mit einer gut gefüllten Wahlkampfkasse eine Chance auf Erfolg haben. Es ist deshalb kaum erstaunlich, dass die alle zwei Jahre zur Wahl gestellten Politiker das Verdikt des „Markts“ kaum korrigieren werden.

Der neue Kongress wird für die soziale Wirklichkeit der USA genauso wenig repräsentativ sein wie der alte, bei dem 40 Prozent der Senatoren und 28 Prozent der Abgeordneten des Repräsentantenhauses Dollarmillionäre sind. Im Übrigen verlassen die Volksvertreter das Capitol zumeist wohlhabender, als sie gekommen sind. Eine Untersuchung hat gezeigt, dass die Investitionen in ihre politischen Karrieren selbst im Vergleich zu Wallstreet-Profis die höchsten Renditen erzielen.10

Das gilt natürlich auch für die Gegner von Bush, die bei diesen Wahlen davon profitierten, dass Konzerne wie Boeing, Wal-Mart und General Electric in weiser Voraussicht ihre politischen „Investitionen“ auf die Demokraten umgeschichtet haben.

Fußnoten:

1 Dazu Dan Gilgoff, „Everyone is A Special Interest“, U.S. News and World Report, New York, 25. September 2006; Caroline Daniel, „Party Arsenals Feature Duelling Databases“, Financial Times, London, 13. Oktober 2006. 2 12 demokratische Senatoren und 39 demokratische Abgeordnete stimmten am 17. Oktober für das von Bush unterzeichnete Gesetz, das Inhaftierung und Verhör von Terrorverdächtigen erlaubt. 3 Nikolas K. Gvosdev, „In foreign policy, don’t hold your Breath“, International Herald Tribune, 18. Oktober 2006. 4 Dazu Jeremy Brecher und Brendan Smith, „USA: Von rechts gegen den Krieg“, Le Monde diplomatique, Oktober 2006. 5 Harper’s, New York, September 2006. 6 Deborah Solomon, „Budget Deficit Shrinks On Strong Tax Receipts“, The Wall Street Journal, 12. Oktober 2006. 7 Das Medianeinkommen bezeichnet die Einkommenshöhe, wo eine Hälfte der Bevölkerung unter, die andere darüber liegt. Diese und die folgenden Daten nach Clive Crook, „The Height of Inequality“, The Atlantic Monthly, New York, September 2006. 8 Siehe Robert Frank und Philip Cook, „The Winner-Take-All Society“, New York (Free Press) 1995. 9 David Wessel, „U.S. rich are still getting richer, but not as fast as you’d think“, The Wall Street Journal, 2. März 2006. 10 William K. Tabb, „The Power of the Rich“, Monthly Review, Juli/August 2006. Aus dem Französischen von Bodo Schulze

Le Monde diplomatique vom 10.11.2006, von Serge Halimi