Kaukasischer Teufelskreis
Die russische Gazprom erhöht den Gaspreis für Georgien. Eine Strafe für die „Rosenrevolution“ in Tiflis? Die Ursachen des aktuellen Konflikts liegen tiefer von Florence Mardirossian
Georgien durchlebt die schwerste Krise in den Beziehungen zu Russland, seit das Land am 9. April 1991 seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion ausrief. Am 27. September 2006 gab Tiflis die Verhaftung von vier russischen Militärs bekannt, die unter Spionageverdacht stehen.
Fünf Tage später kam Moskaus Vergeltung, obwohl die Verdächtigten schon wieder auf freiem Fuß waren. Präsident Putin sprach von „Staatsterrorismus“ und „ausländischen Hintermännern“1 und verhängte Sanktionen: Alle Verbindungen zu Georgien auf dem Luft-, Land- und Seeweg wurden unterbrochen, der Postverkehr wurde eingestellt. Das bedeutete ein Einfuhrverbot für georgische Waren und gefährdete die Überweisungen von Georgiern aus Russland, die 15 Prozent des georgischen Bruttoinlandsprodukts ausmachen. Innerhalb von zehn Tagen wurden etwa 500 Bürger des Kaukasusstaats aus Russland ausgewiesen, weil sie keine Aufenthaltserlaubnis besaßen. Nach Schätzungen leben mehr als eine Million Georgier in den Staaten der Russischen Föderation. Die Führung in Tiflis sprach von „Georgierverfolgung“.
Die Krise begann Ende Juli 2006, als georgische Truppen in das Kodori-Hochtal einrückten, das einzige noch von Tiflis kontrollierte Gebiet auf dem Territorium der selbst ernannten Republik Abchasien. In Tiflis sprach man von einer „erfolgreichen Polizeiaktion“, die Recht und Ordnung wieder hergestellt und zur Stabilität in der Region beigetragen habe. So sah man es offenbar auch in Washington.2
Die Vereinten Nationen vertraten eine andere Position: Im jüngsten Abchasien-Bericht des UN-Generalsekretärs wurde vermutet, Georgien plane eine neue Runde im Abchasienkonflikt und habe die Offensive nur gestartet, um Militär ins Zentrum Abchasiens schicken zu können. Dies verstoße gegen den Vertrag von Moskau von 1994, der Georgien zum Abzug seiner Truppen aus Abchasien verpflichtet hat, und gefährde die regionale Stabilität.3
Noch verzwickter ist die Lage in Südossetien. Hier stehen sich georgische und ossetische Streitkräfte direkt gegenüber, und es kommt häufig zu Zwischenfällen. Wer beim Verlassen der südossetischen Hauptstadt Tschinwali die Verhöre in den ossetischen und georgischen Grenzposten am Stadtrand erlebt hat, weiß, wie viel Feindschaft und Misstrauen hier herrschen. Der kleinste Konflikt kann eine Katastrophe auslösen. Anfang September beschossen die Südosseten den Hubschrauber des georgischen Verteidigungsministers Irakli Okuaschwili, weil er angeblich ihren Luftraum verletzt hatte. Fünf Tage später starben drei südossetische Offiziere und ein georgischer Polizist bei einem Schusswechsel. Daher will der amtierende südossetische Präsident Eduard Kokoity am 12. November ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum abhalten lassen, um das Resultat von 1992 (98 Prozent Zustimmung) zu bestätigen.
Separatistische Bestrebungen gab es in Abchasien und Südossetien schon vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Obwohl die beiden autonomen Gebiete de facto seit 1991 unabhängig sind, blieb ihnen die staatliche Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft verwehrt. Vor allem der Westen unterstützt die Bestrebungen Georgiens, seine territoriale Integrität wiederherzustellen. In einem Gespräch Anfang September warnte der abchasische Außenminister Sergei Schamba vor einem Wiederaufflammen der alten, vermeintlich „ruhig gestellten“4 Konflikte. Die abchasischen Truppen müssten ständig mit Angriffen Georgiens rechnen, die wohl nur wegen des Wintereinbruchs im Hochgebirge auf das Frühjahr 2007 verschoben seien.
Die staatlichen Autoritäten in Abchasien und Südossetien sehen die militärischen Übergriffe Georgiens als Provokation und Destabilisierungsversuche. Im UN-Report heißt es dazu unter Berufung auf georgische Regierungsvertreter, der durch Waffenstillstandsabkommen von 1992 und 1994 fixierte Status quo werde „mit Blick auf die Wiedererlangung der Gebiete durch Georgien zunehmend in Frage gestellt“.
Der georgische Präsident Michail Saakaschwili setzte im Vorfeld der Kommunalwahlen am 5. Oktober auf die nationalistische Karte. Seine Bemühungen zur Rückgewinnung der abtrünnigen Gebiete richteten sich auch gegen Russland, das in Abchasien und Südossetien Friedenstruppen unterhält und dem Georgien vorwirft, die Separatisten zu unterstützen.
Am 13. Jahrestag der Eroberung Suchumis durch abchasische Truppen reiste Saakaschwili höchstpersönlich ins Kodori-Tal, begleitet von Verteidigungsminister Okruaschwili und dem Patriarchen der Georgischen Orthodoxen Kirche. Am selben Tag ließ er die russischen Offiziere als Spione verhaften. Die Kommunalwahlen gewann dann tatsächlich die Regierungspartei.
Der Präsident baute auch auf die Rückendeckung aus Washington. Die Bush-Regierung ist seit langem bemüht, Russland aus dem nördlichen Rand des Südkaukasus zu verdrängen. Auf dem OSZE-Gipfeltreffen von 1999 in Istanbul gab Russland dem Druck des Westens nach und vereinbarte Abzugspläne. Russlands Verteidigungsminister Sergei Iwanow bestätigte im Oktober 20065 , dass bis 2008 auch der Rückzug russischer Verbände (2 500 Mann) aus Batumi in der autonomen georgischen Region Adscharien und aus Achalkalaki in der Region Dschawachetien abgeschlossen sein soll.
Voller Zuversicht hat das georgische Parlament in diesem Jahr bereits zweimal die sofortige Ablösung der russischen Einheiten in Abchasien und Südossetien durch internationale Friedenstruppen gefordert. Und Präsident Saakaschwili forderte auf der UN-Vollversammlung im September nachdrücklich neue Rahmenbedingungen für Verhandlungen und Friedenssicherung – vor allem die Ablösung Russlands als Vermittler durch die internationale Gemeinschaft.
Die Entwicklung ähnelt zunehmend der auf dem Balkan. Wie in Belgrad hat auch in Tiflis, im November 2003, eine friedliche Revolution stattgefunden. Und auch hier unterstützten regierungsnahe Organisationen aus den USA und aus Europa, etwa das „National Endowment for Democracy“ und die Soros-Stiftung, die treibenden Kräften dieser „Rosenrevolution“.6
Wie im Kosovo könnten auch in den abtrünnigen georgischen Provinzen demnächst internationale Friedenstruppen Dienst tun. Unter dem Mandat von UNO und Nato wacht im Kosovo die KFOR über Sicherheitszonen am Boden und in der Luft. Sie soll unter anderem serbische Kräfte am Eindringen in das Kosovo hindern. Dieselbe Aufgabe haben die Waffenstillstandsabkommen zwischen Georgien, Abchasien und Südossetien den russischen Friedenstruppen übertragen: Sie haben bislang die Einhaltung der Vertragsbestimmungen zu sichern.
Warum jetzt also neue Regelungen treffen? Die Frage stellt nicht nur Russland, sondern auch die Führung in Abchasien und Ossetien. Dort wirf man der internationalen Gemeinschaft und vor allem den USA vor, mit zweierlei Maß zu messen. Was soll es bringen, eine internationale zivile Polizei unter UN-Mandat nach Abchasien zu schicken und die OSZE-Beobachtermission auf ganz Südossetien auszudehnen? Erfüllen die russischen Verbände ihre Aufgabe nicht ebenso gut wie die KFOR im Kosovo, indem sie den Waffenstillstand garantieren und die Gebiete vor dem Eindringen gegnerischer Truppen schützen?
Das verstärkte Engagement des Westens erklärt sich nur im Rahmen einer allgemeinen Strategie für den Kaukasus. Diese ehemaligen Sowjetgebiete, in denen die USA „bunte Revolutionen“ unterstützen oder gar erst wachküssen7 , gehören wie der Nahe Osten zu der Großregion zwischen Mauretanien und Kasachstan, die es nach der „Bush-Doktrin“ zu demokratisieren gilt. Neben den 22 Staaten der Arabischen Liga und 5 nichtarabischen Staaten spielen gerade die „Außenposten“ in Zentralasien und im Kaukasus eine wichtige Rolle: Sie bilden eine politisch instabile Zone, in der die Interessen Russlands, Europas und Chinas aufeinandertreffen – schon weil all diese Länder reich an Erdöl- und Erdgasvorkommen sind.
Die USA möchten hier Veränderungen im Sinne ihrer wirtschaftlichen und politischen Interessen bewirken und vor allem militärische Stützpunkte installieren. Kein Wunder, dass sich Russland wegen solcher Entwicklungen im benachbarten Ausland Sorgen macht.
Auf dem Höhepunkt der georgisch-russischen Krise erläuterte Präsident Saakaschwili seine Position im Wall Street Journal: „Gestern noch war Georgien das typische Beispiel für ein von Gangstern in den politischen und wirtschaftlichen Ruin getriebenes Land. Doch wir haben nur drei Jahre gebraucht, um eine hoffnungsvolle Demokratie mit einer der höchsten Wachstumsraten der Welt zu schaffen. Die Weltbank hat Georgien kürzlich als Musterbeispiel für demokratische Reformen gelobt und als die weltweit am wenigsten korrupte junge Demokratie bezeichnet. Letzten Monat wurde Georgien von der Nato in die Liste potenzieller Beitrittskandidaten aufgenommen … Und gerade vor einer Woche haben wir mit der Europäischen Union ein gemeinsames Vorgehen vereinbart, das keinen Zweifel lässt: Unsere Zukunft liegt im Westen.“8
In Moskau sieht man die beschleunigten Verhandlungen über einen Beitritt zur Nato als ernste Bedrohung. Man will seinen Einfluss in den Nachbarstaaten nicht verlieren, wo man auch nach dem Ende der UdSSR präsent blieb, um dem „Grand Game“ der USA und der Ausrichtung der Region nach Europa entgegenzutreten.
In den Krisenregionen Abchasien und Südossetien kann sich die russische Führung nicht nur auf ihre dort stationierten Truppen verlassen: Die Mehrheit der Bevölkerung soll mittlerweile die russische Staatsangehörigkeit angenommen haben. Im Fall neuer Kämpfe würde Georgien damit indirekt auch Russland zum Gegner haben. Der russische Verteidigungsminister erklärte vor kurzem, man werde alle russischen Staatsbürger zu schützen wissen.9
Aber die Führung Georgiens macht sich nicht nur über Russland Sorgen. Zunehmend wird Präsident Saakaschwili auch im eigenen Land kritisiert. Die Opposition macht gegen seine autoritären Übergriffe mobil. Im September protestierte sie gegen die Verhaftung von 29 Oppositionspolitikern, denen Hochverrat vorgeworfen wird, und gegen die Vorverlegung der Kommunalwahlen um zwei Monate.
Manche Stimmen beschwören bereits eine Wiederkehr der „Ära Gamsachurdia“.10 Das offensiv nationalistische Regime dieses Präsidenten – der die Parole „Georgien den Georgiern“ ausgegeben hatte – hatte zu schweren Unruhen in Tiflis geführt und dem Separatismus in den Grenzprovinzen Auftrieb gegeben. Die Separatistenführer Sergei Bagapsch und Eduard Kokoity äußerten kürzlich, denselben Kurs hätten eigentlich alle georgischen Regierungen verfolgt, weshalb mit einer weiteren Verschlechterung der Beziehungen zu Tiflis zu rechnen sei.
Präsident Putin hat seit Beginn der aktuellen Krise wiederholt gegenüber Washington gewarnt, wenn andere Länder Georgien ermutigten, seine „destruktive Politik“ fortzusetzen, könnte dies zu einer Destabilisierung führen.11 Die Botschaft fand Gehör. Am 13. Oktober beschloss der UN-Sicherheitsrat einstimmig einen russischen Plan zur Lösung des georgisch-abchasischen Konflikts, gegen den sich die USA zuvor gesperrt hatten.12 In der Resolution wird der Vormarsch der georgischen Truppen verurteilt und ihr Rückzug aus dem Kodori-Tal gefordert. Die „bedeutende Rolle der (russischen) Friedenstruppen“ in Abchasien wird in dem Beschluss eindeutig anerkannt. Für Moskau war dabei sicher hilfreich, dass es den jüngsten Atomwaffentest Nordkorea verurteilt hat.
Präsident Saakaschwili rief inzwischen alle in Russland lebenden Georgier auf, in die Heimat zurückzukehren, um der Regierung bei der Rückgewinnung der territorialen Integrität des Landes beizustehen.13 Das ist eine verdeckte Aufforderung, gegen Abchasien in den Krieg zu ziehen. Und eine verzweifelte Reaktion darauf, dass sich der Westen, und selbst die USA, ersichtlich von Tiflis abkehren.
Fußnoten: