10.11.2006

Spätes Erwachen im Treibhaus China

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Spätes Erwachen im Treibhaus China

von Agnès Sinai

Jedes Frühjahr fegen heftige Winde über die Wüsten der Inneren Mongolei und treiben Sandwälle vor sich her, hunderte von Kilometern weit bis nach Peking. Immer wieder wird die chinesische Hauptstadt von einer stickigen Wolke überlagert, die sie selbst zur Mittagszeit in trübem Dunkel versinken lässt. In den Einfallsschneisen dieser alles austrocknenden Stürme wurden Hecken gepflanzt, endlose grüne Mauern, die aber die Gewalt der Winde und das Vordringen der Dünen nicht aufhalten können. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es 2008 bei den Olympischen Spielen in Peking durch diese plötzlichen Sandstürme zu Unterbrechungen kommt.

Der Rest der Welt sollte sich allerdings nicht nur wegen der nächsten Olympischen Spiele Sorgen machen. Wie das US-amerikanische Forschungsinstitut Earth Policy Institute hochgerechnet hat, würde unser Globus für den Fall, dass die Chinesen innerhalb der nächsten 25 Jahre den US-amerikanischen Lebensstil übernehmen, im Jahr 2031 einen wahren Umweltalbtraum erleben.1

Um es an einem Beispiel zu veranschaulichen: Würde China in 25 Jahren ebenso viel Erdöl pro Kopf verbrauchen wie heute die USA, würde sein Tagesbedarf 2031 bei 99 Millionen Barrel Rohöl liegen – die heutige Weltförderung beträgt 79 Millionen Barrel. Und wenn 2031 jeder Chinese genauso viel Kohle verbrennen würde wie heute im Durchschnitt jeder US-Amerikaner, nämlich 2 Tonnen pro Jahr, würde das Land jährlich 2,8 Millionen Tonnen verbrauchen. Auch dieses Volumen übersteigt die heutige Weltproduktion von 2,5 Millionen Tonnen.

Wenn das geschilderte Szenario zur Realität wird, warnt das Earth Policy Institute, wäre der Klimawandel natürlich überhaupt nicht mehr beherrschbar – mit den bekannten und viel diskutierten Folgen für die ganze Welt. Doch für das heutige China ist die fortschreitende Klimaerwärmung nicht nur ein Zukunftsalbtraum, sondern ein überaus gegenwärtiges Phänomen, das für den Alltag der Menschen wie für die Volkswirtschaft ständig neue Probleme hervorbringt.

Sinkendes Grundwasser, steigender Meeresspiegel

In den großen Lössebenen des Nordens sind die Wirkungen des Klimawandels stärker zu spüren als im Süden des Landes. Nach den Modellrechnungen, die der Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaänderung (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) für das 21. Jahrhundert vorgelegt hat, werden im Süden die Regenmengen weiterhin ansteigen, im Norden jedoch abnehmen. Die Wasserknappheit wird sich so zuspitzen, dass die wirtschaftliche Entwicklung dieser Zonen gefährdet ist. Die Landwirtschaft ist unmittelbar bedroht, schon jetzt werden sinkende Ernteerträge registriert.

Die chinesischen Gletscher sind im Lauf des 20. Jahrhunderts um 21 Prozent geschrumpft. Sollte sich der CO2-Gehalt der Atmosphäre verdoppeln, wären die Ernten der wichtigsten Agrarprodukte beeinträchtigt. Als Folge des Klimawandels und der dadurch verursachten Witterungsextreme würde die Lebensmittelproduktion um 10 Prozent abnehmen.2 Nach dem offiziellen chinesischen Bericht zum Klimawandel ist an der chinesischen Küste seit den 1950er-Jahren ein langsamer Anstieg des Meeresspiegels zu beobachten, wobei sich diese Tendenz in den letzten Jahren signifikant verstärkt hat.3 Der Anstieg beträgt zwischen 1,4 bis 2,6 Millimeter pro Jahr. Der Meeresspiegel an den Küsten des Landes wird nach der Prognose der chinesischen Wissenschaftler im Jahr 2100 um 31 bis 65 Zentimeter höher liegen. Das wiederum wird die Küstenerosion beschleunigen und dazu führen, dass immer mehr Salzwasser in die Grundwasserschichten einsickert. Diese Entwicklungen könnten selbst für die Megalopole Schanghai bedrohlich sein.

Die steigenden Temperaturen im gebirgigen Westen lassen die Quellen des Huanghes (Gelber Fluss) und des Jangtses (Langer Fluss), der beiden wichtigsten Ströme des Landes, in alarmierendem Tempo versiegen. Im Bezirk Qumolai, in der Nähe der Jangtse-Quellen, müssen sich die Menschen darauf einrichten, dass sie künftig das zum Überleben nötige Wasser kaufen müssen. Von den 136 öffentlichen Brunnen haben seit 2000 nur noch 8 ständig Wasser, 80 Prozent der Bevölkerung müssen deshalb mit Zisternenwagen versorgt werden. In derselben Region sind 18 Bäche, die früher in den Jangtse flossen, nur noch am ausgetrockneten Bett zu erkennen.

Noch schlimmer ist die Lage am Huanghe. Nach einer neueren Untersuchung sind im Bezirk Maduo, am Oberlauf des Gelben Flusses, 3 000 von 4 077 Seen verschwunden. Dadurch haben rund 600 Familien mit 3 000 Personen und 11 9000 Tieren einen direkten Zugang zu Wasser verloren.

Der Huanghe wie der Jangtse entspringen im tibetischen Hochland von Qinghai, im Westen Chinas. Die Gegend ist auch unter dem Namen Sanjiangyuan bekannt, was „Quellen der drei Flüsse“ bedeutet. Dort liegen darüber hinaus die Quellen des Mekong, des riesigen Stroms, der Südostasien bewässert. Der Jangtse bezieht sein Wasser fast zu einem Viertel, der Huanghe sogar zur Hälfte aus dieser Region, die das Wasserreservoir Chinas darstellt.

Im Verlauf der letzten Jahre wurde in der Region Sanjiangyuan eine ungewöhnliche Erwärmung registriert, die Experten mit dem globalen Klimawandel erklären. Laut Greenpeace ist die mittlere Temperatur in dieser Gletscherlandschaft während der vergangenen 50 Jahre um 0,88 Grad Celsius gestiegen.4 Dies hat das Abschmelzen der Gletscher und das Auftauen von Permafrostböden bewirkt5 , sodann die Störung des Regenhaushalts und eine Beschleunigung der Verdampfungsprozesse. Die Umweltschäden wurden verstärkt, weil die örtliche Bevölkerung sich seit 1949 mehr als vervierfacht hat. Weil 2003 schon 610 000 Menschen ernährt werden mussten, war Überweidung die Folge. Sie vernichtet große Grünflächen und beeinträchtigt die Wasserrückhaltefunktion des Ökosystems, das bereits durch Bergbau zerstört wird, aber auch durch die Plünderung von Heilpflanzen, die in der chinesischen Medizin verwendet werden.

Um dem Austrocknen dieses Wasserreservoirs Chinas zu begegnen, schuf die Regierung im Jahre 2000 den Sanjiangyuan-Park. Im Herzen des Qinghai-Tibet-Plateau und durchschnittlich 4 000 Meter über dem Meer gelegen, gehört das Territorium mit einer Fläche von 363 000 Quadratkilometern zu den größten Naturreservaten der Erde. Die nationalen und lokalen Behörden haben sich verpflichtet, für den Bau des Naturparks von 2004 bis 2010 die Summe von 782 Millionen Euro (7,5 Milliarden Yuan) aufzuwenden. Bis heute wurden 84 709 Hektar aufgeforstet und 2,73 Millionen Hektar Weideland zurückgewonnen. Auch hat man 1,3 Millionen Hektar für den Weidebetrieb gesperrt, um die Erosion zu mindern.

Chinas Regierung ist sich des Problems bewusst

Diese gewaltigen Anstrengungen werden wenig nützen, wenn nicht eine globale Klimaschutzpolitik die Erwärmung verlangsamt, die für die Region fatale Folgen hat. Anja Köhne, die beim World Wide Fund For Nature (WWF) internationale Partnerschaften im Kampf gegen die Klimaveränderung koordiniert, geht davon aus, dass die chinesische Regierung den Klimawandel durchaus als ein ernstes Problem erkannt hat. Es bedroht die Nahrungsmittelsicherheit und die Stabilität des Landes. Denn China hat heute eine Armutsbevölkerung von 200 Millionen, deren Lebensbedingungen sich durch die Klimaerwärmung noch weiter verschlechtern würden.

Die Umweltprobleme könnten zu einer politischen Destabilisierung führen, was auch die chinesische Obrigkeit aufgeweckt hat. Vor allem aber hat sich in der chinesischen Zivilgesellschaft in den letzten Jahren eine Umweltbewegung herausgebildet. Heute gibt es in ganz China bereits an die 100 Umwelt-NGOs. Von der Regierung werden sie toleriert, ja sogar als ein Überdruckventil betrachtet, das für eine im Wandel befindliche Gesellschaft durchaus nützlich ist.

Noch vor fünf Jahren hat es Greenpeace in China nicht gegeben, erklärt Yu Jie, die Sprecherin der Organisation in Peking. Die Toleranz hat allerdings Grenzen. Im Dezember 2005 wurden im Dorf Dongzhou in der Provinz Guangdong 20 Bauern von der paramilitärischen Polizei erschossen, als sie sich dagegen wehrten, ihr Land zu miserablen Bedingungen für den Bau eines Windkraftwerks abzugeben.

Immerhin zeichnet sich ein Gesinnungswandel ab, der durch die Umstände erzwungen ist. Erst kürzlich hat die Regierung beschlossen, rund 200 Milliarden Dollar in nichtfossile Energien zu investieren, deren Anteil an der Deckung des Energiebedarfs bis 2020 von heute 7 auf 15 Prozent steigen soll.6 Zuvor schon hat man Mindeststandards für die Energieeffizienz bei Autos eingeführt. Anja Köhne befürchtet allerdings, die Lobby der europäischer Interessenten könnte noch versuchen, die neuen chinesischen Umweltstandards aus den Angeln zu heben.

Anfang 2004 hat die chinesische Regierung sogar die Einführung eines neuen volkswirtschaftlichen Indikators angekündigt, in den – abweichend vom üblichen Bruttoinlandsprodukt (BIP) – auch Umweltfaktoren eingehen. Dieses „grüne“ BIP zieht vom üblichen BIP die Kosten ab, die durch Umweltverschmutzung und Verknappung der natürlichen Ressourcen verursacht werden. Würden diese neue Maßstäbe bereits gelten, wäre nach einer Studie der chinesischen Akademie der Wissenschaften die Wachstumsrate des BIP, die 1985 noch 8,7 Prozent betrug, bis 2000 auf 6,5 Prozent zurückgegangen. Nach derselben Quelle verbraucht China gegenwärtig pro Produktionseinheit dreimal mehr Grundstoffe und Energie als weltweit üblich.7

Wegen des hohen Energieeinsatz nimmt auch der Ausstoß von Treibhausgasen in China schneller zu als irgendwo sonst auf der Welt. Er wuchs 2002/2003 um 16 Prozent (der Mehrausstoß von CO2 in diesem Zeitraum lag bei 512 Millionen Tonnen gegenüber einem Plus von 64 Millionen Tonnen in den USA)8 . Obwohl China damit zum zweitgrößten Verursacher für den Klimawandel auf der Welt (nach den USA) aufgestiegen ist, fühlt es sich nicht zur Reduzierung der Treibhausgase verpflichtet. Pro Einwohner berechnet, liegt der Ausstoß freilich immer noch siebenmal unter dem der USA. Genau darauf beruft sich China, wie übrigens seine in der Gruppe der 77 zusammengeschlossenen Bundesgenossen aus den Ländern des Südens. Sie fordern ausgleichende Gerechtigkeit im internationalen Klimamanagement. Das Kioto-Protokoll statuiert in der Tat eine differenzierte Verantwortlichkeit: Um ihr Recht auf Entwicklung wahrzunehmen, sollen die Länder des Südens ihre Treibhausgas-Emissionen erhöhen dürfen.

Kioto liefert China Anreize für Umweltschutz

China befindet sich in der Zwickmühle: Einerseits soll es die Energieversorgung sicherstellen, andererseits muss es die fortschreitende Klimaerwärmung bremsen, deren Auswirkungen es bereits zu spüren bekommt. Der chinesischen Regierung ist deshalb sehr am Kioto-Protokoll gelegen. Denn dieses beinhaltet einen flexiblen Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung (Clean Development Mechanism, CDM).

Dieser Mechanismus schafft für die Industrieländer des Nordens den Anreiz, in den Entwicklungsländern in Luftreinhaltungsmaßnahmen zu investieren: Sie bekommen dafür Emissionsrechte gutgeschrieben, die sie auf dem künftigen internationalen CO2-Markt verkaufen können. Gegenwärtig ist China das größte Gastgeberland von Projekten, die auf dem CDM beruhen. Es war auch eines der ersten Länder der Welt, das die dafür vorgesehene nationale Genehmigungsbehörde (Designated National Authority, DNA) eingerichtet hat: eine Arbeitsgruppe, die Vorschläge prüft und die Anwerbung ausländischer Investoren für Projekte im Energiebereich unterstützt.

Von den acht CDM-Vorhaben, die von der chinesischen Regierung bisher genehmigt wurden, betreffen drei die Nutzung von Kohlegruben-Methangas, hinzu kommen drei Windparkprojekte und zwei Staudammprojekte für Wasserkraftwerke9 . Etwa 100 Projekte sind in Prüfung.

Laut dem Institute for Global Environmental Strategies, einem Forschungsinstitut für Wissenschaftler der sieben großen asiatischen Staaten,10 verhalten sich die Investoren eher abwartend. Sie wollen mehr Sicherheit bei der längerfristigen Wertentwicklung der Carbon Credits, die sie für ihre Investitionen in Entwicklungsprojekte beziehen sollen. Der CO2-Handel steckt noch in den Kinderschuhen, dürfte sich aber durch die Fortschreibung der Kioto-Mechanismen durch die Konferenz von Montreal vom Dezember 2005 konsolidieren.

Freilich wird dieser Handel die chinesische Wirtschaft nur dann klimaschonender gestalten, wenn er in ein anerkanntes Regelwerk integriert wird und mit Anreizen für einschlägige internationale Programme einhergeht, die auch von den internationalen Finanzinstituten mitgetragen werden. Der Energieberater Pierre Radanne betont: „Das Engagement der Länder des Südens erscheint umso dringlicher, als der Bau der großen Infrastrukturprojekte zumeist noch vor ihnen liegt. Die Entscheidung für bestimmte Stromquellen und für eine bestimmte Bauweise von Häusern bedeutet eine Festlegung für die nächsten 50 Jahre.“

Die Chinesen fordern am lautesten einen verstärkten Technologietransfer. Das setzt allerdings voraus, das geistige Eigentum an den klimaschonenden Verfahren zugunsten des gemeinsamen Wohls der Menschheit zu relativieren. Das meint auch Yu Jie als Sprecherin von Greenpeace-China: „Die sauberen Techniken etwa zur Gewinnung von Windenergie sind in den Händen der Unternehmen des Nordens, wir kaufen sie in Europa zu einem hohen Preis. Seit Jahren verspricht man uns den Technologietransfer, aber es kommt nichts.“

Doch die Europäer haben die Botschaft offenbar vernommen: Am 5. September 2005 gründeten sie eine europäisch-chinesische Partnerschaft für den Klimawandel, die mit einem Anfangsbudget von 3,5 Millionen Pfund (5,5 Millionen Euro) ausgestattet ist. Als Erstes soll die Machbarkeit der Sequestrierung von Kohlendioxyd in der Umgebung von Kohlekraftwerken erforscht werden.11

Fußnoten:

1 Vgl. Lester R. Brown, „Learning from China : Why the western economic model will not work for the world“, Eco-Economy Update, 9. März 2005, www.earth-policy.org/Updates/2005/Update46.htm. 2 Vgl. Intergovernmental Panel on Climate Change, „Climate change 2001 : Impacts, adaptation and vulnerability“, Kapitel 11, www.ipcc.ch. 3 „The People‘s Republic of China Initial National Communication on Climate Change – unfccc.int/resource/docs/natc/chnnc1exsum.pdf. 4 Alle Daten bei: Greenpeace, „Yellow River at risk“, 2005, http://www.greenpeace.org.br/clima/pdf/impactos_yellow.pdf. 5 Permafrostböden sind felsige oder andere Untergründe, deren Temperatur über lange Zeit hinweg bei oder unter dem Gefrierpunkt liegt. 6 Eingerechnet ist dabei die Wasserkraft, was die Frage des Drei-Schluchten-Staudamms am Jangtse und anderer riesiger Staudämme offen lässt. 7 Vgl. Worldwatch Institute, „L’Etat de la planète. Redéfinir la sécurité mondiale“, Genf 2005. 8 Aus Kohle gewinnt China 67 Prozent seiner Energie. 9 Nach Angaben der nationalen Koordinationskommission für den Klimawandel, 25. Oktober 2005. 10 Institute for Global Environmental Strategies, „Asian Perspectives on Climate Regime Beyond 2012“, Hayama, Japan, 2005, S. 16. 11 Bei dieser Technik wird das CO2 aus den Rauchgasen abgetrennt, über Pipelines abgeleitet und in geologische Schichten gepumpt, aus denen Erdöl- oder Erdgas gefördert wird. Zurzeit ist diese noch nicht beherrschte Technik kostspielig, Auswirkungen auf die Umwelt sind nicht gesichert. Über das europäisch-chinesische Projekt siehe www.europa.eu.int/comm/environment/climat/montreal _05.htm. Aus dem Französischen von Josef Winiger Agnès Sinai ist Mitautorin von „Sauver la Terre“, Paris (Fayard) 2003.

Le Monde diplomatique vom 10.11.2006, von Agnès Sinai