Arme Schlucker
Klinische Studien sind ein Riesengeschäft im Interesse der Pharmaindustrie von Carl Elliott
Das Business mit der medizinischen Forschung hat schwierige Jahre hinter sich. In Kalifornien wurde ein Wissenschaftler des Pharmakonzerns Sanofi-Aventis verhaftet, weil er mit einer geladenen Pistole herumgefuchtelt hatte – in seiner Unterhose fand sich dann ein Päckchen Kokain. Einem Forscher in der Psychiatrie von Oklahoma City wurde die ärztliche Zulassung entzogen, nachdem er zwei Patientinnen mit Genitalherpes infiziert hatte. Anschließend musste die staatliche Arzneimittelkontrollbehörde FDA (Food and Drugs Administration) gegen den Mann ermitteln, weil er eine Versuchsperson in seinen Laborräumen eingesperrt hatte. In Miami deckten Reporter der Zeitschrift Bloomberg Markets auf, dass SFBC International, eine Firma, die ihr Geld mit Auftragsforschung verdient, Arzneimitteltests mit nicht registrierten Migranten durchführte. Die Versuchskaninchen waren in einem heruntergekommenen Motel untergebracht, das nach der Bloomberg-Reportage wegen des Verstoßes gegen Brandschutz- und Sicherheitsvorschriften abgerissen wurde.
Gravierender waren die Selbstmordfälle, wegen derer gegen mehrere Pharmaunternehmen ermittelt wurde. 2004 brachte sich der 27-jährige Dan Markingson mit einem Messer tödliche Verletzungen bei, während er im Rahmen einer Arzneimittelstudie für AstraZeneca an der University of Minnesota das Psychopharmakum Seroquel (Wirkstoff: Quetiapin) einnahm. Im selben Jahr erhängte sich die 19-jährige Traci Johnson, die im klinischen Forschungszentrum des Pharmakonzerns Eli Lilly in Indianapolis an einer Testreihe mit dem Antidepressivum Cymbalta (Wirkstoff: Duloxetin)1 teilnahm. Und im Mai 2006 entgingen im Londoner Northwick Park Hospital sechs gesunde junge Männer, an denen man erstmals monoklonale Antikörper (TGN 1412) erprobt hatte, nur knapp dem Tod.
Noch bekannter wurde der Fall, dessen Folgen den Pharmariesen Pfizer mehr als 13 Jahre beschäftigt haben. 1996 waren im nigerianischen Kano bei einer Versuchsreihe mit an Meningitis erkrankten Kindern elf der hundert Probanden gestorben. Angeblich wollte der Konzern damals nur beweisen, dass sein Antibiotikum Trovan den Konkurrenzprodukten überlegen sei. Der Fall ging über Jahre durch alle gerichtlichen Instanzen und endete 2009 damit, dass Pfizer insgesamt 75 Millionen Dollar Entschädigung zahlen und einen anhaltenden Imageverlust hinnehmen musste.2
Höchste Zeit für eine groß angelegte Imagekampagne, befand man beim Center for Information and Study on Clinical Research Participation (CISCRP). Das Zentrum sammelt Daten über klinische Studien und informiert darüber, was die Teilnahme an solchen Studien bedeutet. Finanziert wird es aus Geldern von Pharmafirmen, akademischen Forschungszentren und Organisationen, die Auftragsforschung betreiben.
Wie das CISCRP feststellen musste, ist das Ansehen der Pharmaindustrie ähnlich schlecht wie das von Zigarettenfirmen und Gebrauchtwagenhändlern, und die Pharmaforschung wird in den Medien oft als „betrügerisch und böse“ dargestellt. Um dem entgegenzutreten, startete das Institut die PR-Initiative „Medical heroes can be found in everyday places“. Die vom US-Pharmakonzern Eli Lilly finanzierte Kampagne soll Menschen, die freiwillig an klinischen Tests teilnehmen, in ein besseres Licht stellen: Aus „Versuchskaninchen“ sollen „Helden der Medizin“ werden.
Zu diesem Zweck organisiert das CSCRP überall in den USA „Aufklärungstage über klinische Forschung“ und teilt DVDs, bunte Poster und glitzernde „Medical Hero“-Anstecker aus. Das Kalkül scheint aufzugehen: Wo die Kampagne gelaufen ist, wuchs die Zahl der rekrutierten Helden. Selbst Bioethiker sind mit von der Partie. Vor kurzem verstieg sich im Journal of the American Medical Association ein Autorenteam vom Klinischen Zentrum des National Institute of Health zu der These, im Grunde sei die Teilnahme an klinischen Tests für jeden Staatsbürger eine moralische Pflicht.
Die klinische Forschung ist im Lauf der letzten 20 Jahre weitgehend unbemerkt auf einen marktliberalen Kurs eingeschwenkt. Noch Anfang der 1990er Jahre wurde die pharmazeutische Forschung an lebenden Menschen größtenteils von Ärzten durchgeführt, die an Universitäten oder Lehrkrankenhäusern angestellt waren.3 Da die Pharmaindustrie aber immer auf der Suche nach billigeren und effizienteren Verfahren ist, werden inzwischen 70 Prozent aller klinischen Tests von privaten Firmen durchgeführt, also meist in ärztlichen Privatpraxen oder in eigens zu diesem Zweck geschaffenen Einrichtungen.
Die klinische Forschung ist heute eine milliardenschwere Branche mit vielen Geschäftsfeldern, die es vor 25 Jahren so noch nicht gab: Firmen, die geeignete Patienten und Probanden für bestimmte Testreihen ausfindig machen, weltweit operierende PR-Agenturen, die sich auf Medizin und Gesundheitsthemen spezialisiert haben, oder Organisationen, die für das Ausstellen von „forschungsethischen Gutachten“ bezahlt werden.
Die wichtigste neue Teilbranche ist die kommerzielle Auftragsforschung (contract research). Die sogenannten Contract Research Organisations (CROs) verdienen ihr Geld mit der Durchführung klinischer Versuchsreihen. Die bekanntesten CROs wie Parexel, Quintiles, PPD und Covance sind inzwischen riesige Weltkonzerne. Aus einer Forschung, die für viele von uns mit dem „Dienst am Menschen“ verbunden war, mit selbstlosen Wissenschaftlern, Spendenkampagnen und Benefizveranstaltungen, ist eine durchtaylorisierte Branche geworden, die systematisches Outsourcing betreibt und maximale Kosteneffizienz anstrebt.
Die Öffentlichkeit weiß erstaunlich wenig über diesen jungen Industriezweig. Das liegt unter anderem wohl daran, dass er so zersplittert und unübersichtlich ist. In der guten alten Zeit fand die klinische Forschung an den medizinischen Fakultäten oder Lehrkrankenhäusern statt. Wer hier arbeitete, merkte schon beim Gang über die Flure, dass ein klinischer Test durchgeführt wurde.
Wollte man sich heute über eine in den USA laufende Studie informieren, müsste man mehrere tausend Meilen fahren – vielleicht sogar bis nach Indien oder Usbekistan – um alle Stationen zu besuchen, die das Projekt durchläuft. Die eigentlichen Tests können an 15 verschiedenen Orten stattfinden: vom Lehrkrankenhaus einer Eliteuniversität bis zu einem Industriegebiet am Flughafen von Toronto. Die Genehmigung durch das Ethikkomitee kommt wahrscheinlich aus Olympia, Washington. Die Rekrutierung der Versuchsteilnehmer erledigt eine Firma in Dallas. Und die abschließende Auswertung wird an der Princeton University in New Jersey verfasst.
Kein Wunder, dass da nur noch Insider den Überblick behalten. Kurz bevor die Reporter von Bloomberg Markets herausfanden, dass SFBC International für seine „klinischen“ Tests in Miami illegale Immigranten anheuerte und sie in einem heruntergekommen Holiday Inn unterbrachte, hatte das Wirtschaftsmagazin Forbes die Firma als eines der besten Kleinunternehmen der USA ausgezeichnet. Die Anlage im Holiday Inn war die größte ihrer Art in ganz Nordamerika und seit knapp zehn Jahren in Betrieb – bis jemandem auffiel, dass es hier nicht mit rechten Dingen zuging.
Der Phantomforscher kommt mal kurz vorbei
Heimlichtuerei und Skandale entdecken neuerdings auch die empirischen Sozialforscher, die das Business mit den klinischen Tests untersuchen. Sie beschäftigen sich freilich weniger mit den Schweinereien, die der eine oder andere findige Reporter aufdeckt, auch nicht mit den Vorschriften, die für solche Tests gelten. Ihr Interesse gilt eher dem Druck und den schwierigen Entscheidungen, mit denen die in der Branche Beschäftigten tagtäglich zu kämpfen haben. Das sind in erster Linie die freiberuflichen Ärzte, die Testreihen durchführen, die Koordinatoren, die diese Ärzte beaufsichtigen, und natürlich die Versuchspersonen, die die Medikamente einnehmen und dafür meist ein Honorar oder medizinische Gratisbehandlung bekommen.
Wie sieht klinische Forschung aus, wenn es den Beteiligten vor allem ums Geld geht? „Ich mache keine richtige Forschung, ich mache Auftragsforschung“, erklärt ein Mediziner, der in einer privaten Forschungseinrichtung arbeitet.4 Auftragsforscher entwickeln keine neuen Ideen, denken sich keine Versuchsanordnungen aus, analysieren nicht ihre Ergebnisse und publizieren sie in einer wissenschaftlichen Zeitschrift. Das machen alles die Pharmaunternehmen oder die von ihnen angeheuerten Spezialisten. Ein Auftragsforscher beschränkt sich darauf, Versuchspersonen zu rekrutieren, ihren Klinikaufenthalt zu beaufsichtigen und die Testprotokolle abzuzeichnen. An wissenschaftlicher oder medizinischer Arbeit fällt da nicht viel an, manche arbeiten überhaupt sehr wenig. Spötter behaupten, Ärzte würden sich als klinische Tester verdingen, um ihr Golfspiel zu verbessern.
Die Branche bezeichnet solche Mediziner auch als „Phantomforscher“. Nach Auskunft eines Projektleiters, „kommen sie jeden Tag oder fast jeden Tag vorbei und zeichnen alles ab, was es abzuzeichnen gibt, sehen sich – wenn nötig – ein paar Patienten an und verschwinden wieder“.5 Meist sind sie nicht mehr als ein oder zwei Stunden am Tag im Krankenhaus.
Dafür, dass es mit ihrer intellektuellen Leistung nicht weit her ist, werden Auftragsforscher allerdings ziemlich gut bezahlt. Ein Teilzeitforscher, der pro Jahr nebenher vier oder fünf klinische Testreihen betreut, kann mit einem Zusatzeinkommen von durchschnittlich 300 000 Dollar rechnen. Im Jahr 2000 kamen Testkliniken auf durchschnittlich 1,6 Millionen Dollar Einnahmen. Ärzte verdienen mit medizinischen Dienstleistungen, die auf Rechnung von Pharmafirmen gehen, das Zwei- bis Fünffache von dem, was ihnen eine private oder öffentliche Krankenversicherung zahlen würde. Selbst für einen normalen Praxistermin bekommt ein Arzt das Doppelte, wenn ihn der Patient im Rahmen einer Forschungsstudie besucht. Für diese Art der Auftragsforschung spricht – wie für den Handel mit Nahrungsergänzungsmitteln, Schönheitsoperationen oder Botoxspritzen – nur ein Grund: Geld.
Dabei ist das wertvollste Element in diesem Business gar nicht der Arzt, sondern der Patient, idealerweise der „rekrutierungsreife“ Patient, wie er in der Branchensprache genannt wird. Rekrutierungsreif sind Kranke, die sich ohne Weiteres zur Teilnahme an klinischen Tests bewegen lassen, zum Beispiel, weil sie so arm sind, dass ihnen keine andere Wahl bleibt. Wenn man einen Patienten auch noch schnell zur Teilnahme überreden kann, umso besser. Patente auf Arzneimittel gelten zwanzig Jahre, und die Patentuhr tickt während der Testphase weiter. Bei vier von fünf klinischen Erprobungen muss sie verlängert werden, weil man die passenden Probanden nicht schnell genug findet.
Die Nachfrage nach Testpatienten nimmt seit Jahren zu, nicht zuletzt wegen der schieren Anzahl klinischer Testreihen, die auf die verzweifelte Suche nach neuen pharmazeutischen Verkaufsschlagern zurückgehen. Wie viele Tests in der Pharmabranche derzeit laufen, weiß kein Mensch, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass jedes Jahr rund 20 000 begonnen werden.
Dabei werden die Tests immer umfassender und komplexer. Das liegt zum Teil an den strengen Sicherheitsvorschriften, vor allem aber auch daran, dass die getesteten Medikamente den bereits eingeführten Wirkstoffen oft sehr ähnlich sind. Wenn ein neues Mittel nur minimal besser ist als das verwendete Kontrollmittel oder gar ein Plazebo, braucht man viel mehr Probanden, um eine „statistische Differenz“ nachzuweisen.
Die möglichen Testpersonen werden auch deshalb immer weniger, weil viele Menschen in Nordamerika und Europa bereits irgendwelche Medikamente einnehmen, womit sie dann für bestimmte Tests nicht infrage kommen. Die Pharmaindustrie braucht also „naive“ Versuchspersonen, die sie eher in den Schwellenländern findet. 1991 liefen 10 Prozent aller weltweiten klinischen Tests in diesen Länden, 2005 waren es bereits 40 Prozent.
Bevorzugte Testregion ist inzwischen Mittel- und Osteuropa, aber auch in Asien und im pazifischen Raum sind etliche neue Testkliniken entstanden.6 Zwischen 1995 und 2006 stieg die Zahl der klinischen Auftragsforscher in Russland, Argentinien, Indien, Polen, China und Brasilien besonders stark an. Diese Länder sind für die Pharmakonzerne oft die letzte Rettung, wenn sie schnelle Ergebnisse brauchen, weil sie beispielsweise mit Versuchsreihen in westlichen Ländern die Wirksamkeit ihrer Mittel nicht belegen konnten oder weil sie es nicht geschafft haben, genug Probanden zu rekrutieren.
Polen ist heute das Land der Wahl für Tests mit urologischen und Asthma-Medikamenten. Tschechien ist gut für Antibiotika und Mittel gegen Arthritis. Ein tschechischer Arzt hat eine Erklärung für die hohen Rekrutierungsraten, die die Pharmafirmen in diesen Ländern erzielen: „Die Leute hier waren gegenüber Steroiden oder Statinen völlig naiv, in den USA oder Westeuropa waren solche Probanden kaum noch zu finden.“7
Die Verlagerung des Testbetriebs nach Osteuropa begann in den ersten postsowjetischen Jahren, als klinische Versuche dort problemlos zu lancieren waren. Der Vorstoß in diese Länder bescherte der Auftragsforschungsbranche einen wahren Goldrausch. Der oben zitierte tschechische Arzt sagt über diese Phase: „Damals wollte niemand wissen, worum es bei diesen Studien ging. Die Bestätigung der ‚ethischen‘ Unbedenklichkeit war reine Formsache.“ Danach folgte eine Phase der Normalisierung, in der die Testerei zu einem routinemäßigen, akzeptierten Teil des Gesundheitssystems wurde. Die Patienten empfanden sie irgendwann gar nicht mehr als Experimente, sondern als Teil ihrer gewohnten medizinischen Behandlung.
Schließlich kam die „Erschöpfungsphase“: Da zu viele Unternehmen dieselben Versuchspersonen umwarben, wurden diese zunehmend wählerisch. Und auch die Regelungen wurden strenger. Das ließ die ganze Branche noch weiter nach Osten wandern, nach Russland, in die Ukraine, nach Usbekistan und Kasachstan.
Mit der Verlagerung in ärmere Länder stellt sich das ethische Problem, das ein marktwirtschaftlich organisiertes Testsystem mit sich bringt, in verschärfter Form. Die Patienten haben noch weniger Zugang zu medizinischer Grundversorgung als in den USA, und als Teilnehmer an klinischen Versuchsreihen kommen sie an Medikamente, die sie sich sonst nicht leisten könnten (wobei sie darüber hinwegsehen, dass die verabreichten Stoffe erst getestet werden oder womöglich nur Placebos sind). Und die Ärzte, die gut dafür bezahlt werden, dass sie ihre Patienten überreden, an den Tests teilzunehmen, können dem angebotenen Geld selten widerstehen, weil sie in ihrer normalen ärztlichen Tätigkeit so wenig verdienen. Ein russischer Arzt, der um die 200 Dollar im Monat verdient, bekommt 5 000 Dollar für jeden Alzheimer-Patienten, den er an die Auftragsforscher vermittelt.
Unliebsame Ergebnisse mit starken Nebenwirkungen
Manchmal finden die Auftragsforscher sehr schnell heraus, dass ihre Auftraggeber ungünstige Ergebnisse nicht schätzen. Wenn in einem Bericht beispielsweise steht, dass bei den Testpersonen „serious adverse events“ auftreten – so der Branchen-Code für schwere Nebenwirkungen –, kann der testende Subunternehmer durchaus den Auftrag verlieren. Eine Ärztin berichtet von einem klinischen Test, bei dem sich das Medikament als gefährlich herausstellte. Sie schrieb ihre Beobachtungen und Empfehlungen auf, die der Auftraggeber jedoch ignorierte. Er schaffte es trotzdem, die Zulassung für das Medikament zu bekommen, das später wieder vom Markt genommen werden musste. Von diesem Unternehmen, erzählt die Ärztin, bekamen sie nie wieder einen Auftrag.
Ein weiteres ethisches Problem sind finanzielle Anreize für die Mitwirkung an einer Phase-1-Studie, in der es um die Frage geht, ob ein Medikament sicher ist. Die meisten Phase-1-Tests werden mit gesunden Probanden durchgeführt. Bis Mitte der 1970er Jahre waren das in der Regel Gefängnisinsassen. Heute sind es vor allem Arme, die sich für Geld zur Verfügung stellen. Aber natürlich eignet sich dafür nicht jeder x-beliebige Arme. Idealerweise sollten die Probanden zwischen 18 und 45 Jahre alt und bei guter Gesundheit sein, zumindest so gesund, dass sie den Auswahltest überstehen. Sodann sollten sie keine anderen Medikamente außer den zu testenden Wirkstoffen einnehmen. Vor allem aber müssen sie mehrere Wochen in einer Testklinik verbringen, wo sie essen und schlafen und sich natürlich der täglichen Routine von Blutabnahmen, Urintests und invasiven medizinischen Prozeduren zu unterziehen haben.
Die große Masse der Probanden bei Phase-1-Studien sind, wie man sich unschwer vorstellen kann, Arbeitslose, Migranten, Teilzeitarbeitskräfte, Studenten, Haftentlassene und andere Menschen, die aus irgendwelchen Gründen keiner regelmäßigen Arbeit nachgehen. Manche Leute schaffen es sogar, als professionelle Versuchskaninchen ihren Lebensunterhalt zu verdienen, indem sie jahrelang von einer klinischen Studieneinrichtung zur anderen reisen. Ein solcher Berufsproband hat die Sache als „mild torture economy“ bezeichnet: „milde Folter“ als Lebensunterhalt.
Aufsichtsbehörden und Ethikräte warnen immer wieder davor, dass hohe Honorare die Probanden dazu verleiten, ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Dennoch sind die gebotenen Summen langsam aber stetig angestiegen. Ganz unten auf der Honorarskala stehen die sogenannten „Bioäquivalenzstudien“, von professionellen Versuchskaninchen auch „bleed and feeds“ genannt. Mit solchen „Blut und Futter“-Studien werden zugelassene Medikamente, deren Patentschutz ausläuft, mit den entsprechenden Generika verglichen. Hier verdienen die Probanden am wenigsten, weil das Risiko am niedrigsten eingeschätzt wird. Die lukrativsten Studien sind dagegen ausführliche Testreihen, bei denen es um die Sicherheit neuer Arzneimittel geht. Weil die Probanden dabei viel Zeit in der Testklinik verbringen und viele unangenehme medizinische Untersuchungen über sich ergehen lassen müssen, können sie damit 6 000 Dollar und mehr verdienen.8
Deutlich vergrößert hat sich auch der Kreis von Testpersonen, die ein Honorar beanspruchen können. Noch vor einigen Jahren wurde bei den meisten Studien nur für gesunde Erwachsene gezahlt. Heute honorieren einige Unternehmen auch Eltern für die Teilnahme ihrer Kinder.
Viele Testfirmen bezahlen inzwischen auch kranke Probanden, vor allem solche mit leichten Formen chronischer Erkrankungen wie Asthma oder mit reduzierter Nieren- oder Leberfunktion. In St. Paul, Minnesota wird gerade für eine Studie geworben, die ein Medikament an Dialyse-Patienten testet, deren Nierenfunktion also stark beeinträchtigt ist. Das beauftragende Unternehmen bietet jedem Patienten 2 525 Dollar, wenn er bereit ist, vier Nächte in der Klinik zu verbringen und danach achtmal zu einem Termin zu erscheinen.
Eine der vielleicht fruchtbarsten Gegenden für die Aufzucht von Versuchskaninchen ist das Umland von Philadelphia in den USA. Hier sind eine Reihe medizinischer Fakultäten, Pharmafirmen und Testkliniken konzentriert, deren Verflechtung Roberto Abadie in einem vor kurzem erschienenen Buch9 untersucht hat. Der Autor zog dafür in eine anarchistische Kommune in West Philadelphia, deren Mitglieder sich oft bei klinischen Testreihen anmelden, um ihre künstlerischen und politischen Aktivitäten zu finanzieren. Diese Leute machen sich wenig Illusionen darüber, was sie tun und warum. Ein altgedienter Proband formuliert es so: „Sie bezahlen dich dafür, dass du dich zu einem Tier degradieren lässt.“
Ein Latino mit dem Pseudonym King LabRat erzählt von seinen Anfängen als „Laborratte“. Er war Mitte der 1980er Jahre aus der Armee entlassen worden, weil er angeblich seinen Vorgesetzten verprügelt hatte. Zwischen den klinischen Studien verkauft er Arzneimittel und jobbt in einem Leichenschauhaus. Seine Rolle beschreibt er mit dem knappen Satz: „Sie zahlen dir eine Miete für die Nutzung deines Körpers und seiner Flüssigkeiten.“ Die Einstichnarben, mit denen seine Arme übersät sind, sieht King LabRat als Ehrenmale.
Auch wenn Versuchskaninchensein zu einem richtigen Job werden kann, viel Geld verdient man damit nicht. Probanden haben keinen Anspruch auf Mindestlohn oder Krankenversicherung. Die Gesetze für geregelte Arbeitsverhältnisse gelten für Testkliniken nicht. Wenn ein Proband durch die eingenommenen Medikamente geschädigt wird, steht im keine Entschädigung zu. Im Gegenteil: Wenn er Pech hat, muss er die notwendige Behandlung selbst bezahlen.
Der Fachzeitschrift New England Journal of Medicine zufolge bieten nur 16 Prozent der medizinischen Forschungseinrichtungen in den USA einen Versicherungsschutz für die kostenlose Behandlung von Gesundheitsschäden, die durch ihre klinischen Studien verursacht sind. Und eine zivilrechtliche Klage ist für die meisten Versuchskaninchen keine realistische Alternative – jedenfalls dann nicht, wenn sie sich jemals wieder anwerben lassen wollen.
Robert Helmes hat mehr als 80 Versuchsreihen auf dem Buckel. Vor 15 Jahren gründete er die Zeitschrift Guinea Pig Zero, die über die Arbeitsbedingungen der freiwilligen Testpersonen aufklärt. Er vergleicht ihre Situation mit Prostitution: „Sie dringen in deinen Körper ein. Du vermietest deinen Körper, und was du dabei empfindest, ist ihnen völlig egal.“
Viele der Versuchskaninchen von West Philadelphia sind antikapitalistische Aktivisten, die das leicht verdiente Geld von der Pharmaindustrie einem geregelten Arbeitsverhältnis vorziehen. Die „Helden der Medizin“-Propaganda verfängt bei ihnen nicht, sie sehen keine Veranlassung, ihren Job ernst zu nehmen. Manch einer ist auch ziemlich zynisch und versucht gelegentlich sogar, die Ergebnisse zu sabotieren. Sie geben sich als Versuchskaninchen her, weil sie sich damit ein Stück weit aus dem normalen Unternehmerkapitalismus heraushalten können. Aber nur weil sie mitmachen, funktioniert das System.
Dadurch, dass wir die klinische Forschung dem Markt überlassen, haben wir ein System geschaffen, in dem manche Ärzte mehr Geld verdienen, wenn sie ihre Patienten überreden, an Forschungsstudien mitzuwirken, statt nur ihre Krankheit behandeln zu lassen. Ein System, in dem Patienten sich verpflichten, neue Medikamente zu testen, weil sie das Geld brauchen oder keine andere Möglichkeit haben, ihre Gesundheitsversorgung zu sichern. Ein System, in dem die Forscher finanzielle Nachteile haben, wenn sie ihren Auftraggebern erklären, dass deren Mittel riskant oder gar gefährlich sind, und in dem noch die ethische Kontrolle als profitables Gewerbe ausgeübt wird.
Eines kommt in diesem Geschäftsmodell nicht vor: der menschliche Faktor, die Testperson. Der Manager eines in Osteuropa tätigen Unternehmens für klinische Studien sagt: „Wir sehen keine Patienten, wir sehen Daten.“ Er meint das nicht ironisch.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Carl Elliott lehrt an der Fakultät für Kinderheilkunde und Philosophie an der Universität von Minnesota. Zuletzt erschien von ihm: „White Coat, Black Hat. Adventures on the Dark Side of Medicine“, Boston (Beacon Press) 2010.
© London Review of Books, für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin