Der Feind meines Feindes
Neue Bündnisse zwischen Iran und Südamerika von Nikolas Kozloff
Das Handelsvolumen zwischen dem Iran und den Ländern Lateinamerikas hat sich von 2007 bis 2008 verdreifacht: Mittlerweile beläuft es sich auf insgesamt 2,9 Milliarden Dollar.1 Diese Entwicklung fand in den Medien bislang kaum Beachtung. Die Steigerung ist um so bemerkenswerter, weil Handelsbeziehungen vor dem Amtsantritt von Präsident Mahmud Ahmadinedschad im August 2005 praktisch nicht existierten.
Der bilaterale Handel zwischen dem Iran und Venezuela machte 2004 kaum mehr als eine Million Dollar aus. Zwei Jahre später waren es bereits mehr als 50 Millionen. Seither hat der Iran in dem südamerikanischen Partnerland etliche Produktionsanlagen errichtet, in denen unter anderem Fahrräder, Traktoren, Autos oder Beton hergestellt werden. Venezuela leidet unter einem chronischen Mangel an Fachwissen und technischer Ausrüstung. Bei seinen Industrialisierungsbemühungen bekommt es nun Unterstützung aus Teheran, insbesondere in den Bereichen der Milchverarbeitung und der petrochemischen Produktion. 2009 ist der Handel zwischen den beiden Ländern infolge der weltweiten Finanzkrise zwar wieder um 33,8 Prozent geschrumpft, doch beide Regierungen einigten sich im selben Jahr auf die Gründung einer gemeinsamen Entwicklungsbank und unterzeichneten fast 70 neue Kooperationsabkommen (insgesamt sind es inzwischen rund 300). Zudem setzen sich Venezuela und der Iran innerhalb der Opec gemeinsam für eine Steigerung des Ölpreises ein – beide bestreiten ihre staatlichen Einnahmen zu großen Teilen aus dem Ölverkauf. Zeichen der zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtung ist seit 2007 ein wöchentlicher Direktflug zwischen Caracas und Teheran.
Der Iran nutzt Venezuela darüber hinaus als Ausgangsbasis für seine Aktivitäten in anderen lateinamerikanischen Ländern. Zwischen 2007 und 2008 ist Ecuador auf der Rangliste iranischer Handelspartner in der Region vom siebten auf den dritten Platz vorgerückt, hinter Brasilien und Argentinien. Das ecuadorianisch-iranische Handelsvolumen stieg in dieser Zeit von 6 auf 168 Millionen Dollar. Der Iran exportiert nicht nur Güter nach Ecuador, sondern versprach auch umfangreiche Investitionen im Bereich der Wasserkraft und der petrochemischen Industrie. Bei seinem Besuch in Teheran Ende Dezember 2008 unterzeichnete der ecuadorianische Präsident Correa mehr als 25 bilaterale Verträge. Nachdem der Handel im Jahr 2009 – ebenfalls krisenbedingt – um 91,7 Prozent eingebrochen ist, ist das kleine Ecuador – hinter Venezuela – heute nur noch der viertgrößte iranische Handelspartner in Lateinamerika.
Auch in Nicaragua soll investiert werden: Ein dringend benötigter Tiefseehafen soll gebaut und der Bau eines Wasserkraftwerks finanziert werden. Den Bolivianern wiederum hat Teheran angeboten, bei der Verbesserung der Erdgasförderung zu helfen. Zudem wäre Teheran in der Lage, den Andenstaat bei der Exploration seiner riesigen Lithiumlagerstätten zu unterstützen.2
Zuvor konzentrierten sich die iranischen Aktivitäten in Lateinamerika vor allem auf Argentinien und Brasilien; auf die beiden Länder entfallen 94 Prozent des iranischen Handels mit der Region.3 Vielversprechendster Partner ist Brasilien mit seinen 200 Millionen Einwohnern, sein Bruttoinlandsprodukt macht allein ein Drittel des gesamten südamerikanischen BIP aus. Brasilien ist auch eines der wenigen Länder, dessen bilateraler Handel mit dem Iran trotz Krise im Jahr 2009 um 4 Prozent auf rund 1,3 Milliarden Dollar angewachsen ist. Im Vergleich zum iranisch-chinesischen Handelsvolumen von 36 Milliarden Dollar (im Jahr 2009) ist das zwar immer noch wenig, doch beim Staatsbesuch Ahmadinedschads in Brasília im November 2009 bekundeten beide Präsidenten ihre Absicht, das Handelsvolumen bis 2014 „mit Hilfe der Unternehmer beider Ländern“ auf 10 Milliarden Dollar auszuweiten.4
Boliviens Botschaft zieht um: von Kairo nach Teheran
Inzwischen geben sich südamerikanische Staats- und Regierungschefs in Teheran die Klinke in die Hand: Außer Rafael Correa und Lula da Silva besuchte auch Evo Morales die iranische Hauptstadt; Venezuelas Präsident Hugo Chávez war schon neunmal dort. Zudem hat der Iran zusätzlich zu den Botschaften in Argentinien, Brasilien, Kuba, Mexiko und Venezuela auch welche in Bolivien, Chile, Kolumbien, Nicaragua und Uruguay eröffnet. Bolivien verlegte seine einzige Botschaft im Nahen Osten unterdessen von Kairo nach Teheran.
Washington ist durch diese Entwicklung gelinde gesagt beunruhigt. Außenministerin Hillary Clinton sagte im Dezember 2009 auf einer Veranstaltung zu Lateinamerika im State Department, jegliche Annäherung an den Iran sei „eine sehr schlechte Idee“, denn Teheran „unterstützt, fördert und exportiert den Terrorismus“ und warnte: „Wer sich auf eine Romanze mit dem Iran einlassen will, sollte sich gut überlegen, welche Folgen das haben kann. Die Vereinigten Staaten hoffen sehr, dass sich jeder einen solchen Schritt zweimal überlegt.“ Dagegen sieht der iranische Präsident in der größeren Nähe zu Lateinamerika das Resultat einer natürlichen Verbrüderung: „Den Beziehungen zu unseren Freunden sind keinerlei Grenzen gesetzt“, gab er am 24. September 2009 zu Protokoll.
Brasilien kann mit allen: den USA und ihren Gegnern
Das Wesen dieser „Freundschaft“ lässt sich im Kern wohl am besten mit der Formel „die Feinde meiner Feinde sind meine Freunde“ beschreiben. Im Jahr 2002 überstand Hugo Chávez mit einiger Mühe einen Putschversuch, bei dem Washington die Finger im Spiel hatte. Rafael Correa zog sich erst im vergangenen Jahr den Zorn des Weißen Hauses zu, weil er sich weigerte, die am 18. September 2009 abgelaufene Konzession des US-Militärstützpunkts im ecuadorianischen Manta zu verlängern. Boliviens Präsident Evo Morales sagte am 5. August 2010, die Vereinigten Staaten suchten „Vorwände wie den Terrorismus oder den Drogenhandel“, um sich in die Angelegenheiten lateinamerikanischer Länder einzumischen. Wichtigstes Ziel dieser Interventionen sei es, „sich unserer natürlichen Ressourcen zu bemächtigen“.5 Die linken Regierungen Lateinamerikas wollen den wirtschaftlichen Einfluss internationaler Konzerne beschränken, wobei sie nicht davor zurückschrecken, diese Firmen aus dem Land zu werfen. Und sie verteidigen die Souveränität ihrer Länder, wenn es um Bodenschätze und natürliche Ressourcen geht.
In der gegenwärtigen Situation scheint die Wirkung der US-amerikanischen Drohungen auf die Außenpolitik der lateinamerikanischen Staaten eher begrenzt. Glaubt man Hugo Chávez, so sehen sich deren Regierungschefs gar als „Gladiatoren des Antiimperialismus“ und „Waffenbrüder in einem gemeinsamen Kampf“. Auf ironische Art und Weise bestätigte das auch Ahmadinedschad, als er im Juni 2009 das implizite Konzept seiner Außenpolitik erläuterte: „Während die westlichen Länder uns zu isolieren versuchen, haben wir im Hinterhof der USA Unterstützung gefunden.“6
Mittlerweile hat Washington die 4. Flotte der US-Marine reaktiviert, deren Schiffe vor der Atlantikküste Lateinamerikas kreuzen. Sowohl in Lateinamerika als auch an den Grenzen zum Iran verfügen die USA über zahlreiche Militärstützpunkte. Venezuela reagierte auf die verstärkte Präsenz der US-Marine, indem es die militärische Zusammenarbeit mit dem Iran im Bereich der Ausbildung und der Munitionsherstellung ausbaute. Im April 2009 kündigte der iranische Verteidigungsminister Mustafa Mohammed Nadschar an, sich „im Rahmen der wechselseitigen Verteidigungsabkommen mit aller Kraft für den Ausbau der venezolanischen Militärkapazitäten einzusetzen“.7
Sicher hat diese Zusammenarbeit vor allem damit zu tun, dass die USA Venezuela mit einem Waffenembargo belegt haben. Aber der Iran-Experte Bill Samii vom Center for Naval Analyses in Virginia sieht bei dieser Zusammenarbeit auch die iranischen Interessen: „Der Iran versucht, das geopolitische Ungleichgewicht gegenüber den USA zu seinen Gunsten zu verändern. Die Botschaft lautet: Auch wir sind in der Lage, in eurem Hinterhof Unruhe zu stiften.“8
Die „antiimperialistische“ Solidarität geht über eine rein militärische Kooperation hinaus. Zu ihr gehört auch, Maßnahmen zu verurteilen, die gegen die eigenen Verbünde gerichtet sind, und von denen man unter Umständen auch betroffen sein könnte. Das zeigte sich bei der umstrittenen iranischen Präsidentschaftswahl 2009: Brasilien, Nicaragua, Ecuador, Bolivien und Venezuela – Länder, deren Wahlen internationale Beobachter als transparent und korrekt bezeichneten – haben nach der scharfen Kritik vor allem durch die USA Ahmadinedschad ihre bedingungslose Unterstützung ausgesprochen. Hugo Chávez vermutete gar ein Komplott der CIA, auch wenn er die Beweise dafür schuldig blieb. Teheran versäumte nicht, diese Gefälligkeit zu erwidern: Angesichts des Säbelrasselns aus dem Weißen Haus und unter dem Druck konservativer, zumeist mit den USA verbündeter Oppositionsparteien, registrierte Rafael Correa im März 2009 auf der iranischen Seite „großes Verständnis und Mitgefühl“ für die lateinamerikanische Linke.9
Brasiliens weniger radikaler Präsident Lula da Silva zügelte während seiner Amtszeit die „Antiimperialisten“ in seiner Arbeiterpartei. Er war stolz darauf, mit George W. Bush ebenso gut auszukommen wie mit Hugo Chávez. Doch gleichzeitig verdrängte unter seiner Präsidentschaft China die USA als größten Handelspartner Brasiliens. Brasilien hat seine Position durch ein robustes Wirtschaftswachstums gestärkt und sucht nach einer neuen Rolle in der Weltpolitik. Da Silva brach mit den Traditionen der brasilianischen Diplomatie, die sich lange Zeit vor allem auf London, Paris und Washington konzentriert hatte. Er warb bei anderen Ländern des Südens für die Unterstützung des brasilianischen Anspruchs auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Um glaubwürdig zu sein, musste Brasilien unbedingt zeigen, dass es willens und in der Lage ist, sich gegenüber dem Norden zu behaupten.
Auch deshalb schlug Lula zusammen mit dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan im Mai 2010 vor, als Alternative zu den UN-Sanktionen gegen den Iran nukleares Brennmaterial auszutauschen.10 Zwar scheiterte dieser brasilianisch-türkische Vorstoß, und Brasilien ratifizierte am 10. August 2010 die vom Sicherheitsrat beschlossenen Sanktionen gegen den Iran; doch Kommentatoren erkannten durchaus den Impuls einer Außenpolitik, die sich von Washington emanzipiere und das Recht jedes Staats auf ein ziviles Atomprogramm bekräftige, wie es Brasilien und Venezuela fordern.
Im Iran selbst gibt es auch kritische Stimmen zum Engagement des Landes in Übersee; wie die von Mir Hossein Mussawi, dem Kandidaten der Reformkräfte bei der Wahl 2009: „Anstatt in den eigenen Nachbarstaaten zu investieren, überweist die Regierung andauernd Geld nach Lateinamerika.“11 Doch die iranischen Investitionen in Lateinamerika nützen auch der heimischen Wirtschaft. Das gilt besonders für die Industriesektoren, die der Iran, trotz Sanktionen, im eigenen Land aufgebaut hat, wie Flugzeugbau, Erdöl- und Erdgasförderung oder die Autoproduktion. Für die iranischen Autos hat Ahmadinedschad in Chávez einen wohl einzigartigen Werbeträger gefunden: Der venezolanische Präsident lobte den iranischen „Centauro“, der in Venezuela gebaut und verkauft wird: „Das ist ein sehr gutes und preiswertes Auto. Es kostet knapp 76 000 Bolivar (etwa 13.500 Euro). Ein vergleichbares Modell, zum Beispiel ein Toyota Corolla, kostet mehr als das Doppelte!“12 Auch die National Iranian Petrochemical Company (NIPC) hat zwei potenzielle Neukunden gewonnen: Brasilien und Argentinien. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der Iran bei der Bolivarischen Allianz für die Völker unseres Amerika (Alba), in der unter anderem Bolivien, Ecuador und Venezuela vertreten sind, einen Beobachterstatus besitzt.13
Differenzen vor allem bei den Menschenrechten
Die Alba ist ein Bündnis, das sich nicht auf die Durchsetzung gemeinsamer außenpolitischer und wirtschaftlicher Interessen beschränken will. Gegründet wurde sie als Gegenmodell zur panamerikanischen Freihandelszone FTAA (Free Trade Area of the Americas), die auf Spanisch Alca heißt. Alba war gedacht als ein Projekt der politischen wie sozialen Emanzipation. Hier treten offensichtliche Widersprüche der Partnerschaft mit dem Iran zutage – eine Steilvorlage für die Kampagnen der rechten Opposition in Lateinamerika. Als Ahmadinedschad im November 2009 Caracas besuchte, organisierte sie eine Demonstration und forderte „die Achtung der Rechte der iranischen Frauen, genauso wie der venezolanischen Frauen und aller Menschen“. „Hier in Venezuela glauben wir an die Demokratie und an gleiche Rechte für Männer und Frauen.“14
In Brasilien, das der Alba nicht angehört, gab es in den letzten Jahren ebenfalls bedeutende Fortschritte bei den Frauenrechten. Zwar machte der letzte Präsidentschaftswahlkampf deutlich, dass die Gesellschaft wie die politische Klasse des Landes nach wie vor überwiegend gegen eine Legalisierung der Abtreibung sind. Doch in Brasilien gilt seit 2004 ein Gesetz, das politischen Parteien für ihre Wahllisten eine Frauenquote von 30 Prozent vorschreibt. Überhaupt kennt das brasilianische Recht, im Gegensatz zum iranischen, keine grundsätzliche Unterscheidung zwischen den Rechten von Männern und Frauen.
Ganz anders als Lateinamerika macht der Iran auf diesem Gebiet eher Rückschritte: Teheran versucht zurzeit, die Polygamie wieder einzuführen; von gleichen Rechten für Frauen kann selbstverständlich keine Rede sein. Die Sittenwächter des iranischen Regimes verhaften und misshandeln junge Frauen, deren einziges Vergehen darin besteht, sich in der Öffentlichkeit mit ihrem Freund zu zeigen. Als sich am 8. März 2006 ein paar hundert Menschen in Teheran versammelten, um den Internationalen Frauentag zu begehen, ging die Polizei mit Schlagstöcken auf sie los.
Entgegen dem Klischee des von Machismo und Schwulenverachtung geprägten Lateinamerika hat es dort auch bei der Emanzipation der Homosexuellen in den letzten Jahren Fortschritte gegeben. Brasilien gehört in dieser Hinsicht zu den tolerantesten Ländern des Südkontinents. In São Paulo wird jedes Jahr die weltgrößte Schwulenparade mit Millionen Teilnehmern veranstaltet. Einige Bundesstaaten erlauben gleichgeschlechtliche Ehen, was sowohl Brasiliens neue Präsidentin Dilma Rousseff als auch ihr wichtigster Gegenkandidat im Wahlkampf, José Serra, ausdrücklich begrüßten. Uruguay und Ecuador haben Lebensgemeinschaften zwischen Homosexuellen bereits 2008 legalisiert, und Argentinien führte im Juli dieses Jahres als erstes lateinamerikanisches Land trotz des Widerstands der katholischen Kirche die gleichgeschlechtliche Ehe ein. Irans Präsident Ahmadinedschad hat unterdessen verkündet, im Iran gebe es keine Homosexualität, denn diese sei „gegen die menschliche Natur“.
Auch beim Umgang mit ethnischen Minderheiten könnten die Unterschiede kaum größer sein. So stärkt Boliviens Präsident Evo Morales, der selbst seine Aymara-Zugehörigkeit betont, die Minderheitenrechte in seinem Land. Ahmadinedschad dagegen verstärkt den Druck auf ethnische Randgruppen in den Außenprovinzen seines Landes, indem er ihnen vorwirft, den Iran zu destabilisieren. Dabei stellen Kurden, Araber, Turkmenen, Aserbaidschaner, Balutschen und andere nichtpersische Minderheiten fast die Hälfte der Bevölkerung im Iran.
Was die Rechte der Arbeitnehmer betrifft, zeigt sich eine ähnliche Kluft. Die linken Regierungen Lateinamerikas haben in unterschiedlichem Maß den Ausbau der Arbeitnehmerrechte und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen vorangetrieben. Lula da Silva und Evo Morales kommen aus der Gewerkschaftsbewegung. Im Iran geht die Regierung dagegen auf Konfrontationskurs zu Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Als etwa die Teheraner Busfahrer streikten, um gegen die schlechten Arbeitsbedingungen zu protestieren, wurden einige von den Sicherheitskräften verhaftet. Daraufhin kam es am 23. März 2009 in São Paolo zu Protesten vor der brasilianisch-iranischen Handelskammer.
Auch mit seinen Äußerungen zum Holocaust sorgte Ahmadinedschad jenseits des Atlantik für Irritation. Als er am 22. November 2009 Brasilien besuchte, protestierten schwule Aktivisten, Vertreter der jüdischen Gemeinde und Holocaust-Überlebende aus Europa gemeinsam am Strand von Ipanema. Venezuelas Opposition nahm die Aussagen des iranischen Präsidenten zum Anlass, Chávez erneut vorzuwerfen, er sei Antisemit.
Doch trotz der zahlreichen innenpolitischen Gegensätze scheint das außenpolitische „Bündnis“ zwischen dem Iran und den südamerikanischen Staaten strategisch sinnvoll. Darüber hinaus ist es wohl verfehlt, an die Außenpolitik linker Regierungen allzu hohe moralische Ansprüche zu stellen. In der Außenpolitik war Pragmatismus schon immer das Maß der Dinge. Das galt einst für die Sowjetunion und ihre Verbindungen zu arabischen Staaten, die Kommunisten verfolgten. Es galt für die Zusammenarbeit des maoistischen Chinas mit Chile unter Pinochet. Und es gilt noch heute für die engen Verbindungen zwischen den USA und Saudi-Arabien. Der berühmte Ausspruch von Lord Palmerston, britischer Premier in der Mitte des 19. Jahrhunderts, beschreibt bis heute ziemlich treffend das Wesen jeder Außenpolitik: „Nationen haben keine ständigen Freunde und keine ständigen Feinde. Nur ständige Interessen.“
Aus dem Französischen von Herwig Engelmann
Nikolas Kozloff ist Journalist und lebt in New York. Er ist Autor von „Hugo Chavez: Oil, Politics and the Challenge to the U.S.“, New York (Palgrave-Macmillan) 2006, sowie von „South America and the Rise of the New Left“, Palgrave Macmillan, 2008.
Geschäft und Moral
„Nachdem ich 1973 beim Staatsstreich Pinochets in Chile verhaftet wurde, habe ich nur überlebt, weil sich Menschenrechtsaktivisten für mich eingesetzt haben. […] Sie können sicher sein, dass ich niemals Hochachtung für einen Diktator äußern oder um seine Freundschaft werben werde.“1 – Dieses Versprechen gab José Serra, Kandidat der Sozialdemokraten (PSDB), im brasilianischen Präsidentschaftswahlkampf von 2010. Mit dem „Diktator“ meinte er die Castros in Kuba – und den iranischen Präsidenten Ahmadinedschad.
Unmittelbar vor dem zweiten Wahlgang war Serra in den Meinungsumfragen weit abgeschlagen. Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) genoss die volle Unterstützung des scheidenden Präsidenten Lula da Silva und profitierte von dessen überwältigender Popularität. Die Brasilianer machten deutlich, dass sie sich nichts anderes wünschten als eine getreue Fortsetzung von Lulas Politik. Da war die Annäherung Brasiliens an den Iran eines der wenigen Themen, mit denen Serra sich von seiner Rivalin abgrenzen konnte. Es handle sich dabei, so die Opposition, um „die Achillesferse des Präsidenten Lula da Silva“.2
Auch „bei aller Wahrung der Verhältnismäßigkeit“, so Serra, sei ein Abkommen mit dem Iran bezüglich dessen Programms zur Uranaufbereitung ungefähr „wie ein Bündnis mit Hitler in München“. In der Folge attackierte Serra die Regierung da Silva immer wieder wegen ihres Bündnisses mit „einem gewalttätigen und erbarmungslosen Regime“ und machte sich zum Anwalt von dessen offenkundigsten Opfern, den Frauen. Im vergangenen August unterbreitete die brasilianische Opposition eine Petition, mit der sie den Präsidenten aufforderte, sich zur bevorstehenden Steinigung von Sakineh Aschtiani wegen Ehebruchs zu äußern. Sie sammelte dafür 100 000 Unterschriften.
Erstaunlich ist das eigentlich nicht. Brasilien hat bei den Frauenrechten große Fortschritte gemacht, darüber täuscht auch der Widerstand gegen die Liberalisierung des Abtreibungsrechts nicht hinweg. In ihrer Siegesrede versprach die neue Präsidentin Dilma Roussef als Erstes, „den Frauen Gerechtigkeit“ widerfahren zu lassen. Und zugleich versicherte sie, Brasilien wolle seine Beziehungen zum Iran weiter pflegen.
Ähnliches geschah in Venezuela: Anlässlich eines Staatsbesuchs von Ahmadinedschad in Caracas am 25. November 2009 griff die Opposition Chávez wegen seiner Unterstützung eines frauenfeindlichen und repressiven Regimes an. Es nutzte Chávez wenig, dass Venezuelas Verfassung von 1999 zu den fortschrittlichsten der Region gehört, die viele Frauenrechte festschreibt.