10.12.2010

Birma wartet auf Veränderung

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Birma wartet auf Veränderung

Die Junta sorgt für Demokratie in ihrem Sinne von Renaud Egreteau

Für die birmesische Militärjunta sind die Wahlen vom 7. November 2010 ein weiterer Schritt in ihrer „Roadmap für den Übergang zu einer disziplinierten Demokratie“, deren Umsetzung sie unbeirrt betreibt. Eine Woche nach der Wahl wurde die Regimekritikerin Aung San Suu Kyi aus dem Hausarrest entlassen. Die Begeisterung darüber war groß, und vielleicht zeichnet sich hier tatsächlich ein tiefgreifender Wandel ab. Das ändert allerdings nichts daran, dass die politische Landschaft Birmas auch in Zukunft von den Streitkräften beherrscht sein wird.

Nach Ansicht vieler Experten diente die Wahlfarce im November und der Übergangsprozess, den das Regime 2003 eingeleitet hat1 , allein dem Zweck, die Macht einer anachronistischen Militärdiktatur zu zementieren. Diese schematische Wahrnehmung übersieht jedoch die einschneidenden Veränderungen, die sich auf nationaler und lokaler Ebene innerhalb der Armee wie bei der Opposition vollziehen.

Die einzige Struktur, die wirklich durchorganisiert ist, über klare Hierarchien verfügt und in alle Belange des politischen, wirtschaftlichen und sogar kulturellen Lebens eingreifen kann, ist die Armee. Sie beherrscht den birmesischen Staatsapparat seit mehr als einem halben Jahrhundert. Eine Opposition, die die Autorität der Militärs ernsthaft infrage stellen könnte, gibt es nicht, auch nicht in Gestalt der prominenten Parteivorsitzenden der NLD (National League for Democracy), Aung San Suu Kyi.

In dem Land, das wie ein Keil zwischen Indien und China liegt, hatte nach der Unabhängigkeitserklärung 1948 über Jahrzehnte Bürgerkrieg geherrscht. Seine militaristischen Traditionen sind aus dem Kampf gegen die Kolonisatoren und aus dem Vorbild des kaiserlichen Japan hervorgegangen. Das alles führte dazu, dass sich keine alternativen Strukturen oder Institutionen herausbilden konnten.

Birmas Problem ist also nicht die Frage, ob und wie schnell sich an Stelle der Militärdiktatur demokratische Strukturen entwickeln können. Vielmehr geht es darum, abzuschätzen, wie die Militärs reagieren werden, wenn sich ihr „prätorianisches“, das heißt: ein direktes und absolutes Machtsystem in eine indirektere Form von „Prätorianismus“ verwandelt, und ob sie es hinnehmen werden, dass sie ihre Allmacht nach und nach verlieren.

Mit der Anerkennung von Pluralität und dem Entstehen einer Zivilgesellschaft könnte tatsächlich ein allmählicher Demokratisierungsprozess in Gang kommen. Dieser wäre dringend nötig, um den Machenschaften mafiöser Geschäftsleute und lokaler Drogenbarone sowie den gewaltbereiten ethnischen Milizen Einhalt zu gebieten, die sich im Dunstkreis des allgegenwärtigen Militärs in finanziellen und machtpolitischen Interessenkonflikten zerfleischen.

Wunschdenken? Vielleicht. Doch die letzten Wahlen sprechen durchaus für eine solche Dynamik. Genauer gesagt, stellen sie die fünfte der insgesamt sieben Etappen2 der 2003 begonnenen Übergangsstrategie dar. Im Übrigen bestreitet auch die populäre Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi nicht die Notwendigkeit einer „Übergangsphase“: „Mein Wunsch ist nicht, dass die Militärs gestürzt werden. […] Mein Wunsch ist, dass sie jene Höhen erklimmen, die von der Würde der Professionalität und des wahren Patriotismus erfüllt sind.“3

Obwohl das Führungspersonal in der Militärhierarchie in den letzten zehn Jahren mehrmals ausgetauscht wurde – potenziell reformerische Elemente kamen dabei nicht zum Zuge –, steht die Junta heute vor einem tiefgreifenden Generationswechsel. Die beiden Anführer des letzten Staatsstreichs vom 18. September 1988, die Generäle Than Shwe und Maung Aye sind inzwischen über siebzig und werden bald von der Bühne verschwinden, und damit ihre Familienclans und zivilen und finanziellen Netzwerke. Unter den jüngeren Militärs hat sich bislang aber noch keine charismatische Führungspersönlichkeit durchgesetzt – und daran wird sich in den nächsten Jahren vermutlich nichts ändern, weil die Alten nicht zulassen werden, dass in einem neuen „gesichtslosen Regime“ das Spiel um den Einfluss in eine bestimmte Richtung entschieden wird.

Das neu geschaffene nationale Zwei-Kammer-Parlament und die vierzehn Lokalregierungen und -parlamente werden – unter Beibehaltung der dreizehn Militärregionen – in den nächsten Jahren mehr Komplexität auf das politisch-militärische Schachbrett Birmas bringen. Die gegenwärtigen Machthaber setzen darauf, dass so ein Kräftegleichgewicht entsteht, das interne Rivalitäten abfängt und dem Militär ermöglicht, sich nach und nach von der Macht zurückzuziehen. Gleichzeitig würde es einen Übergang zu einem immer noch autokratischen Regierungssystem geben. Darin würde die Armee ihren Einfluss jedoch als zivile Macht wahrnehmen, vermittelt über die neu gegründete USPD (Union Solidarity and Development Party) und über die Geschäftswelt, die mit den Interessen der Militärs verbunden ist. Damit will die Armee auch ihren Angehörigen und den Unternehmern, die ihnen bis jetzt die Treue gehalten haben, neue Möglichkeiten bieten.

Vom Offizier zum Industriellen

Seit Jahresbeginn gab es mehrere Umstrukturierungen innerhalb der politischen Führung, und weitere werden folgen. Gleichzeitig wird seit Februar 2010 wieder die Privatisierung von Staatsunternehmen vorangetrieben, vor allem im Energie- und Finanzsektor und der Hafenverwaltung. Hier finden die Offiziere außer Dienst neue Möglichkeiten, sich zu bereichern. Viele übernehmen Export-Import-Firmen, Kommunikationsunternehmen, erdölverarbeitende Betriebe oder Banken, die einst in den Händen der Armee waren, und versuchen, neue Mischkonzerne zu bilden – die sich eines Tages vielleicht zu Konkurrenten der bestehenden großen Wirtschaftsakteure wie der Htoo Group des Unternehmers Tay Za entwickeln werden.

Wie in Indonesien oder Thailand sorgen die zu Geschäftsleuten umgeschulten Exmilitärs dafür, dass die Regierenden einen gewissen Schutz genießen. Dieses Patronagesystem soll verhindern, dass aus ehemaligen Armeeangehörigen eine zivile Opposition heranwächst: Wenn sie sich nicht mehr um ihre politische Macht, dafür aber um ihr Vermögen kümmern müssen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als gute Beziehungen zu der monopolistischen Staatsführung zu pflegen, die nach wie vor die offizielle Wirtschaft beherrscht und die Reichtümer verteilt. Ob dieses Kalkül aufgeht, ist jedoch ungewiss: Schließlich wird der Versuch, die erstarkenden Wirtschaftskräfte innerhalb und außerhalb des Militärs zu steuern, neue Machtkämpfe auslösen.

Nach Einschätzung vieler Beobachter wollten sich die Generäle, als sie Wahlen – ohnehin nur unter strenger Kontrolle – zuließen, nur mit zivilen Tugenden schmücken: Man legt die Militäruniform ab und den traditionellen longyi an. Doch so einfach ist die Sache nicht. Die Umgestaltung des Staatsapparats geht nun mal nicht von selbst. Mit dem Übergang von einer Militärherrschaft zu einer Demokratie wird sich die politisch-militärische Landschaft Birmas verändern und dem Land wie seiner Regierung höchstwahrscheinlich neue Spannungen bringen.

Offen ist zum Beispiel, wie die Rollen und Aufgaben zwischen der bislang fast allmächtigen Militärhierarchie und ihrem neuen, hauptsächlich von der USPD verkörperten zivilen und parlamentarischen Apparat verteilt werden sollen. Die USPD ist vor einigen Monaten aus der Union Solidarity and Development Association (USDA) hervorgegangen. Diese konnte sich seit 1993 auf die Unterstützung von General Than Shwe verlassen. Dabei war sie – obwohl eine Zwangsmitgliedschaft für alle Soldaten besteht – innerhalb der Armee verachtet. Die heutige USPD zählt ehemalige Juntaoffiziere, aber auch namhafte Staatsbürger und Geschäftsleute zu ihren Mitgliedern.

Die USPD hat erwartungsgemäß die Wahlen vom 7. November haushoch gewonnen (laut offiziellem Wahlergebnis erhielt sie 76,5 Prozent der Stimmen).4 Wie sich ihr Verhältnis zur Armee in den kommenden Jahren gestalten wird, bleibt abzuwarten. Das Gleiche gilt für ihr Verhältnis zur Partei der Nationalen Einheit (National Unity Party, NUP), die offenbar ebenfalls den Militärs nahesteht und bei den Wahlen von 1990 als „Partei der Armee und des alten Regimes“ bezeichnet wurde.5 Ihr könnte in künftigen Parlamenten die wichtige Rolle des Schiedsrichters zufallen.

Dann werden weitere Probleme auftauchen: Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen den hochrangigen Offizieren der Tatmadaw (wie die herrschende Klasse der Militärs in der Landessprache heißt) und den Älteren? Wie wird sich die aufstrebende Generation der Generäle Myint Aung, Ko Ko, Min Aung Hlaing und Kyaw Swe, die alle in ihren Fünfzigern sind, mit den Exgenerälen Thein Sein, Thura Shwe Mann, (Thiha Thura) Tin Maung Myint Oo und Maung Oo arrangieren, die alle mehr oder weniger freiwillig ihren Abschied genommen haben, um sich auf das neue parlamentarische Spiel einzulassen, und die alle ins Parlament gewählt wurden? Wie lassen sich die Interessenkonflikte zwischen den verschiedenen Clans und vor allem zwischen den nach wie vor von der Zentralmacht ernannten Befehlshabern der dreizehn Militärregionen und den künftigen – gewählten – Chief Ministers der vierzehn föderierten Verwaltungseinheiten des Landes lösen, deren Territorien nicht den Militärregionen entsprechen?

Hinzu kommt, dass die jüngsten Wahlen die ohnehin zerstrittene demokratische Opposition weiter gespalten haben. Bei allem Charisma, das Aung San Suu Kyi besitzt, wird sie mit ihrer inzwischen verbotenen Partei NLD die Opposition doch nicht um sich scharen können. Inzwischen gibt es neue demokratische Kräfte, die der Linie von Aung San Suu Kyi nicht folgen wollen, sich gegen den Wahlboykott ausgesprochen haben und lieber das von der Junta vorgeschlagene Spiel mitspielen.

Die neue Opposition der Pragmatiker

Zu ihnen gehört die Nationale Demokratische Kraft (NDF). Ihr Parteichef ist Khin Maung Swe, ein ehemaliger politischer Gefangener, der 2008 freigelassen wurde und früher der NLD angehörte. Seiner Bewegung haben sich inzwischen einige ethnische Gruppierungen angeschlossen, so zum Beispiel die Shan Nationalities Democratic Party (SHDP) oder die Rakhine Nationalities Development Party (RNDP). Ein gemeinsames Programm haben sie allerdings noch nicht beschlossen.

Dass die ersten demokratischen Gehversuche seit zwanzig Jahren eine neue, legale Opposition in Birma hervorgebracht haben, deuten viele als Anzeichen für eine Spaltung zwischen Pragmatikern (den jetzt neu Gewählten) und Idealisten (NLD).

Über das Gewicht und die Rolle der neuen Parlamentarier wird also in der nächsten Zeit viel gestritten werden, auch innerhalb der demokratischen und ethnischen Milieus, die nach dieser Wahl – anders als die NLD – über ein „legales“ Forum verfügen. Diese neue Opposition mag schwach, zusammengewürfelt und uneins sein, aber sie wird vom Regime anerkannt. Die Aktivisten haben ein beschränktes, aber immerhin legales Betätigungsfeld. Es bleibt abzuwarten, ob die – gegenwärtige und künftige – Armeeführung sich entschließt, mit dieser neuen, „offiziellen“ und äußerst kritischen Opposition tatsächlich zusammenzuarbeiten.

Die Wahl vom 7. November ist alles in allem noch kein großer Fortschritt, aber auch keine Rückkehr zu früheren Verhältnissen. Die Opposition zeigt sich jetzt offen pluralistisch und weniger abhängig von ihrer Ikone Aung San Suu Kyi. Diese wird die Sympathien, die ihr bei ihrer dritten Freilassung entgegengeschlagen sind, nicht ohne Weiteres in eine so wirksame und einigende Strategie umwandeln können wie nach ihren Freilassungen 1995 und 2002. Vielleicht schafft sie es, die von ihr und dem lang verschmähten Birma faszinierte internationale Öffentlichkeit zu einer einheitlichen Haltung zu bewegen.

Dass die Demokratisierung in Birma nur im Schneckentempo vorankommt, passt zur jüngeren Geschichte des Landes. Die birmesischen Generäle entwickeln zunehmend strategisches Geschick und verstehen es, dabei die politische Kultur ihrer Gesellschaft im Auge zu behalten – sie sind eben nicht nur Militärs, sondern zuerst und vor allem, wie Aung San Suu Kyi, Birmesen.

Fußnoten: 1 Siehe André und Louis Boucaud, „Die Generäle machen auf Demokratie“, Le Monde diplomatique, November 2009. 2 Der Fahrplan sieht folgendermaßen aus: 1. Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung (2004–2007); 2. Ergreifung der Maßnahmen, die für die Einführung eines demokratischen Systems erforderlich sind (2007); 3. Ausarbeitung der Verfassung (2007/2008); 4. Durchführung einer Volksabstimmung über die Verfassung (10. Mai 2008); 5. Durchführung von Parlamentswahlen nach den Regeln der neuen Verfassung (7. November 2010); 6. Versammlung der neu gewählten nationalen und lokalen Abgeordneten; 7. Errichtung eines modernen demokratischen Staats mit einer vom Parlament gewählten Regierung. 3 AFP, 15. November 2010. 4 In vielen Gebieten, in denen ethnische Minderheiten wie die Karen, Kachin und Wa leben, hat die Bevölkerung nicht an der Wahl teilgenommen. 5 Bei den Wahlen am 27. Mai 1990 entfielen 59 Prozent der Stimmen und 82 Prozent der Sitze im Parlament auf die NLD – die Militärjunta erkannte diese Ergebnisse nie an.

Aus dem Französischen von Barbara Schaden

Renaud Egreteau ist Wissenschaftler an der Universität Hongkong und Autor von „Histoire de la Birmanie contemporaine. Le pays des prétoriens“, Paris (Fayard) 2010.

Le Monde diplomatique vom 10.12.2010, von Renaud Egreteau