10.12.2010

Die klamme Insel

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Die klamme Insel

Öffentliches Händeringen in Irland von Tom Rowe

Mit den Ereignissen in Irland mitzuhalten, ist mittlerweile zu einer Vollzeitbeschäftigung geworden. An einem Nachmittag Ende November überstürzten sich die Ereignisse. Die Regierung brach auseinander, weil die Grünen die Koalition aufkündigten und die unabhängigen Abgeordneten, die die Regierung unterstützt hatten, Neuwahlen forderten. Demonstranten, darunter eine Abgeordneter von Sinn Féin, lieferten sich eine Schlacht mit der Polizei und wären beinahe in die Sicherheitszone des Dáil (Parlaments) eingedrungen, derweil die Rettungspläne von IWF, EZB und Europäischer Kommission erste Konturen annahmen.

Die Rettungsleine sollte Irland davor bewahren, im selbst verschuldeten finanziellen Chaos zu versinken und den Euro mit in die Tiefe zu ziehen. Später am selben Tag verkündete der Taoiseach (Premierminister) Brian Cowen inmitten der versteinerten Mienen seines Kabinetts, dass er mindestens so lange im Amt zu bleiben gedenke, bis am 7. Dezember der von der EU und dem IWF vorgeschriebene Sparhaushalt verabschiedet sei.1

Eine überstürzt einberufene Pressekonferenz führte zu Spekulationen über Cowens sofortigen Rücktritt. Dieser ist nicht erfolgt, aber vielleicht wird der Premier trotzdem nicht bis zum Beschluss des Sparpakets im Amt bleiben. Immer mehr Parteimitglieder verlassen das sinkende Schiff Fianna Fáil2 , das Cowen in so trübe Gewässer gelenkt hat. Kein anderer trägt im selben Maße Verantwortung für die aktuellen Probleme wie er, der vier Jahre lang Finanzminister und zwei Jahre Premierminister war.

Als seine Regierung in den Steuereinnahmen schwamm, die ihr die Immobilienblase bescherte, verzichtete er auf die Bändigung der Bauindustrie und die Regulierung der Banken. Er und der gegenwärtige Finanzminister Brian Lenihan beschlossen vielmehr eines Nachts im Jahre 2008 eine staatliche Garantie für die aufgeblähten Banken, ohne selbst vollen Einblick in die Finanzlage der Kreditinstitute zu haben. Sie wälzten damit die Milliardenschulden, welche die Banker aufgehäuft hatten, auf das irische Volk ab. Zu behaupten, dass Cowen unbeliebt ist, wäre eine glatte Untertreibung.

Zwei Tage später wurde der Vierjahresplan bekannt, mit dem die Sparauflagen des IWFs und der EU umgesetzt werden sollen. Er sieht Steuererhöhungen, Einschnitte bei den Sozialleistungen, die Streichung von tausenden von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst sowie die Kürzung von Renten, Steuervergünstigungen und öffentlichen Ausgaben besonders im den Bereichen Verkehr und Bildung vor. Die Opposition wirft der Regierung vor, das Land „in die Steinzeit“ zurückzukatapultieren.

Kaum eine Woche zuvor, zwischen dem 14. und 21. November, hatte die Regierung unter dem Druck der Märkte und der europäischen Partner endlich eingesehen, dass sie nicht umhinkonnte, den wahren Zustand der irischen Wirtschaft zu offenbaren und um Unterstützung von außen nachzusuchen. Die fiskalischen Nöte Irlands stehen schon seit einiger Zeit auf der Prioritätenliste der globalen Medien, die vor den Regierungsgebäuden ihre Zelte aufgeschlagen haben und das Kommen und Gehen von Bankexperten, Demonstranten und Regierungsmitgliedern beobachten.

Als sich die EU-Finanzminister per Konferenzschaltung zu einer Sitzung trafen, hatte diese nur einen Tagesordnungspunkt, und selbst die Mitglieder der G 7 – der reichsten Volkswirtschaften der Welt (USA, Kanada, Japan, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien) – beraumten eine Krisensitzung an, um über jene winzige Volkswirtschaft von viereinhalb Millionen Menschen auf einer klammen regnerischen Insel am Rande Europas zu beratschlagen. EU-Kommissar Olli Rehn sprach im Hinblick auf die Probleme beschwichtigend von „schwierigen und verwirrenden Zeiten, in denen es nur allzu leicht zu Falschmeldungen kommt“.

In Irland selbst herrschte indessen Wut, gepaart mit blankem Entsetzen. Wer immer dort von den Medien auf offener Straße angesprochen wird, lästert über die Regierung und die aussichtslose Wirtschaftslage und fordert sofortige Neuwahlen. Die Arbeitslosenquote liegt bei 14 Prozent. Fast eine halbe Million Menschen sind ohne Arbeit, für ein Land dieser Größe ist dies eine enorme Zahl. Einmal mehr heißt die Losung für junge Iren: auswandern; junge Akademiker setzen sich nach Australien oder Kanada ab.

Seit je hat der Mangel an Arbeit auf der Insel die Arbeiter außer Landes getrieben; dann kam es während der Boomjahre des keltischen Tigers kurzzeitig zur Zuwanderung fremder Arbeitskräfte und zur Rückkehr der eigenen Emigranten. Viele ehemalige Einwanderer sind mittlerweile nach Osteuropa, China oder Brasilien zurückgekehrt, und auf der Insel steht nun eine neue Generation von Iren vor der Entscheidung zwischen Emigration und Arbeitslosengeld.

Das Editorial der tonangebenden Irish Times beschwor prompt die Helden der irischen Revolution und ihren Kampf gegen das Britische Empire und fragte: „War es das wert?“ „Ein Hilfsprogramm der deutschen Kanzlerin, das von ein paar Solidaritätsschillingen von Seiten des britischen Schatzkanzlers aufgebessert wird“ – war es das, wofür die Helden von einst gestorben sind? Der Verrat, die Schande, der Verlust der Souveränität in wirtschaftlichen Angelegenheiten, die Angst vor der Zukunft – all dies lastet schwer auf den irischen Gemütern. Händeringen ist zu einem Nationalsport geworden.

Wenn es nun neben den wirtschaftlichen Problemen zu einer politischen Krise gekommen ist, dann weil beide eng miteinander verknüpft sind. Im Laufe des populären Fernsehprogramms „The Frontline“, das sich mit dem aktuellen Zeitgeschehen auseinandersetzt, fragte ein Zuschauer aus dem Publikum: „Kann nicht der IWF das Land in unserem Namen regieren, bis wir eine neue Regierung haben?“ Großer Applaus. Eine Meinungsumfrage im Rahmen der Sendung ergab, dass 47 Prozent der Befragten sich wünschten, die EU oder der IWF würden Irland regieren. Nur 53 Prozent wollten, dass die irische politische Klasse weiter am Ruder blieb.

Laut Analyse des Moderators Pat Kenny haben sich vor allem junge und ältere Teilnehmer für die EU und den IWF ausgesprochen, während die Zuschauer mittleren Alters den irischen Politikern die Treue hielten. Viele der Jungen gaben außerdem an, dass sie sich nicht an den kommenden Wahlen beteiligen wollten, weil sie kaum Unterschiede zwischen den Parteien erkennen könnten.

Der politische Analyst Noel Whelan glaubt, „unser politisches System befindet sich am Rande eines Nervenzusammenbruchs“. Die im Internet veröffentlichten Fantasien des Verschwörungstheoretikers Jim Corr, zugleich Gitarrist der Familienfolkband The Corrs, werden von einer wachsenden Anzahl von Leuten für bare Münze genommen. Eine Zeitung titelte mit der Schlagzeile „Oberklugscheißer“ und zeigte darunter die Konterfeis der Kabinettsmitglieder. Die um sich greifende Hysterie macht jede vernünftige politische Debatte unmöglich.

Schreiwettkämpfe im Radio, Schimpfworte als Schlagzeilen

Radiodiskussionen zwischen Vertretern unterschiedlicher politischen Parteien ähneln Schreiwettkämpfen. Die beispiellose Tirade des Labourpolitikers Pat Rabbitte gegen Pat Carey von Fianna Fáil wurde von 700 000 Zuschauern verfolgt, die sehen wollten, wie endlich ein Minister der Regierung zur Rechenschaft gezogen wird. Rabbitte donnerte seinen Kontrahenten an: „Sie sollten sich schämen, sich hier in diesem Studio zu zeigen, nachdem Sie unser Land ins Elend gestürzt haben. Sie haben die Existenzen der Leute ruiniert, die Jungen wandern wieder aus – Sie haben diese Wirtschaft zugrunde gerichtet. […] Es ist höchste Zeit, dass Sie den Hut nehmen, mehr Schaden kann man in diesem Land gar nicht anrichten. […] Es ist die Schuld der irischen Regierung, und Sie sollten sich dafür hier und heute schämen.“

Die Idee, den Schuldendienst zu verweigern, die anfangs noch zu unflätig erschien, um auch nur in Betracht gezogen zu werden, ist nun in aller Munde. Doch laut den Detailbestimmungen des Rettungspakets haben EU und IWF einen dicken Strich durch diese Rechnung gemacht, weil ein Aussetzen der Zahlungen das europäische Bankensystem gefährdet hätte. Stattdessen hat man sich auf das Paket von 85 Milliarden Euro geeinigt, zu dem Irland 17,5 Milliarden aus der nationalen Rentenkasse beisteuert.

Von dieser gewaltigen Summe gehen 10 Milliarden sofort an die Banken, während 25 Milliarden in Reserve gehalten werden. Die verbleibenden 50 Milliarden Euro sollen das tägliche Defizit der Republik Irland decken. Das Geld entstammt Töpfen des IWFs und der EU, während Schweden, Dänemark und Großbritannien die verbleibenden Fehlbeträge durch bilaterale Kredite decken. Der Zinssatz beträgt etwa 5,7 Prozent, und Irland bekommt bis 2015 Zeit, sein Haus entsprechend den EU-Richtlinien in Ordnung zu bringen.

Als das Paket angekündigt wurde, donnerte Eamon Gilmore, der Chef der Labour Party, vor dem Parlament: „Dies ist ein Ausverkauf unseres Landes. Die Regierung gibt die Souveränität des Landes auf, sie gibt das Recht auf, seine eigenen Entscheidungen zu treffen und seinen eigenen Haushalt zu beschließen. Wer immer an dieses Dokument gebunden sein will, die Labour Party ist es jedenfalls nicht.“ Trotz dieser publikumswirksamen politischen Rhetorik wird sich jede neue Regierung schwertun, die Dynamik der Entwicklung umzukehren.

Mit seiner auf die Wähler schielenden Erklärung ignoriert allerdings Gilmore die Tatsache, dass Irland das Geld nicht nur für seine Banken erhält, sondern auch für die Finanzierung seines diesjährigen Haushaltsdefizits von 32 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – das höchste innerhalb der Eurozone. Der Finanzminister verweist darauf, dass die Rettungsgelder auch den irischen Sozialstaat und die Gehälter des öffentlichen Dienstes finanzieren. Ohne diese Gelder könnte das Land nicht weiter funktionieren.

Die Iren gingen auf die Straße, wenn auch nicht auf die französische oder griechische Art. Die Demonstrationen sind organisiert: von Gewerkschaften, linken Gruppen und politischen Parteien. Und sie richten sich vornehmlich gegen die Sparmaßnahmen und die Übernahme der Bankschulden durch das irische Volk. Der dreißigjährige Kenny Hanlon hat sich erst einmal – anlässlich des Irakkriegs – an einer Demonstration beteiligt, aber an diesem eiskalten Novembersamstag ist er zusammen mit 50 000 anderen in Dublin auf die Straße gegangen, um der Regierung friedlich mitzuteilen, „dass es eine Alternative zum Rettungspaket gibt“.

Die meisten Demonstranten haben auch die Besitzer der irischen Bonds im Visier, also die französischen, deutschen und britischen Banken, die mit dem Kauf dieser Papiere die laxe Kreditpolitik der irischen Banken während des Immobilienbooms finanziert haben. Viele Iren sehen in dem Rettungsprogramm ein Instrument zur Rettung dieser Banken, wobei das irische Volk die Rechnung bezahlen muss.

Aber die Iren vertrauen noch immer der Macht der Urnen. Sie werden die heiß ersehnte Parlamentswahl dazu benutzen, „die Pfeifen rauszuschmeißen“.

Nach allen Meinungsumfragen und Kommentaren wird Fianna Fáil eine vernichtende Niederlage erleiden. Aber man darf Irlands größte Partei nicht zu früh abschreiben. Fianna Fáil ist aus dem irischen Bürgerkrieg in den 1920er Jahren hervorgegangen. Sie ist eher eine Religion als eine Partei; manche Familien stimmen seit je für den Kandidaten von Fianna Fáil und werden dies weiter tun, was auch immer kommen mag.

Dabei hat die Partei hat das Land in ein beispielloses Chaos gestürzt, das selbst die 1980er Jahre übertrifft, als Fianna Fáils inkompetente Wirtschaftspolitik den Economist zu der Bemerkung veranlasste, Irland sei „das ärmste Land unter den reichen“. Die Zeitungen sind voller Leserbriefe von eingefleischten Fianna-Fáil-Wählern, die beteuern, die „Soldaten des Schicksals“ nicht noch einmal wählen zu wollen.

Dem Koalitionspartner von Fianna Fáil könnte es allerdings noch übler ergehen. Die Grünen wurden 2007 zum ersten Mal als Alternative zu den geschichtsträchtigen, aber abgehalfterten Bürgerkriegsparteien und zur moderaten sozialistischen Labour Party ins Parlament gewählt. Ihre Entscheidung, sich mit Fianna Fáil zu verbünden, war unklug; die größere Partei setzte sich rücksichtslos über grüne Ziele hinweg und machte den Koalitionspartner zum Komplizen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Dass die Grünen die Regierungskoalition zum heikelsten Zeitpunkt aufgekündigt haben, werden die Wähler ihnen kaum danken. Diese Entscheidung wird als zynischer Schachzug angesehen, zu klein und zu spät, um das eigene Gesicht zu wahren.

Die Wahlen werden vermutlich im Februar stattfinden, und danach wird Irland wahrscheinlich von einer neuen Koalition aus Labour und der Mitterechts-Partei Fine Gael (dem Widersacher von Fianna Fáil im Bürgerkrieg) regiert werden. Die beiden Parteien sind in vielen Punkten unterschiedlicher Meinung. Zum Beispiel über die Höhe der Einsparungen, über die Steuergesetze, über die Zahl der öffentlichen Bediensteten und über die Frage, ob es für eine Veränderung der Auflagen, die mit dem Rettungsprogramms verbunden sind, überhaupt noch einen Spielraum gibt. Aber da keine der beiden Parteien in den letzten drei Legislaturperioden an der Macht war, werden sie ihre Differenzen beilegen.

Zunächst aber soll nach dem Willen der Opposition die Fianna Fáil an der Macht bleiben und noch im Dezember den brutalen Haushalt für 2011 verabschieden – unter der strengen Aufsicht des IWFs und der Europartner. Im Frühjahr wird sich dann die neu gewählte Regierung auf den Standpunkt stellen, dass ihr die Hände gebunden seien. Zum Leidwesen der Iren wird der neue Haushalt einen Großteil des sozialen Netzes vernichten, vom Wohngeldzuschuss bis hin zu den vergleichsweise hohen Mindestlöhnen. Aber vielleicht reichen selbst diese Opfer nicht aus, um die Finanzmarkthaie auf Distanz zu halten. Sie wollen die Anleiherenditen in die Höhe treiben und werfen ihren Blick bereits auf Portugal und Spanien. Es sind in der Tat, wie die Sprecherin von Labour sagte, „sonderbare und schwierige Zeiten“.

Fußnoten: 1 Siehe auch: Renaud Lambert, „Ireland, still a role model“, Le Monde diplomatique, London, mondediplo.com/2010/11/03ireland. 2 Die irisch-republikanische Partei Fianna Fáil wurde von Éamon de Valera und anderen Gegnern der anglo-irischen Verträge von 1921 gegründet und ist Irlands größte Partei. Obwohl sie historisch gesehen weiter links steht als die zweitgrößte Partei Fine Gael, die sie während des Bürgerkriegs befehdete, stehen beide Parteien heutzutage Mitte-rechts. Die Labour Party steht Mitte-links.

Aus dem Englischen von Robin Cackett

Tom Rowe arbeitet als Journalist zwischen Irland und Westafrika.

Le Monde diplomatique vom 10.12.2010, von Tom Rowe