Der Gefällt-mir-Klick
Wie Facebook seine Nutzer nutzt von Philippe Rivière
Vor ein paar Tagen bat mich Facebook, meinen Namen zu wechseln. Nein, ich hatte mir kein unanständiges oder rassistisches Pseudonym zugelegt, weder den Nicknamen von Facebook-Gründer, Chef und Hauptaktionär Mark Zuckerberg übernommen noch vage auf einen Markennamen angespielt. Aber mein Name war aus schönen Braille-Blindenschrift-Zeichen zusammengesetzt, und die Ingenieure der kalifornischen Website hatten auf einmal beschlossen, dass dies nicht länger den typografischen Vorschriften entspricht.
Bei der Registrierung hatte Facebook meinen richtigen Namen verlangt. Dann bestätigten sie meine Existenz, indem sie mir einen geheimen Code übers Telefon schickten, den ich anschließend eingeben musste. Die Website hatte auch darauf bestanden, mein E-Mail-Passwort zu erfahren, um Zugang zu meinem Adressbuch zu erhalten und so meine Kontakte – Freunde, wie es dort heißt – leichter ausfindig machen zu können.
Im Hintergrund wird sie ständig von Algorithmen überwacht und unterliegt Geschäftsbedingungen, die nie jemand liest. Doch die blaue Facebook-Seite bietet ihren Mitgliedern eine gemütliche Kuschelecke, in der sie sich treffen können, ohne von Nachrichten unbekannter oder lästiger Absender überflutet zu werden. Die Werbebanner sind relativ diskret platziert, und man kann stundenlang Fotos seiner Freunde betrachten, sich über dieselben Dinge freuen oder ärgern wie sie, dieselben Spiele spielen und ihren alltäglichen Verrichtungen ebenso beiwohnen wie den wichtigsten Ereignissen in ihrem Leben. Die Nachrichten decken das gesamte menschliche Spektrum ab: vom unvermeidlichen „Ich geh jetzt duschen“ über Geburtsanzeigen bis hin zu den ausgefeiltesten Anmerkungen über zeitgenössische Kunst.1
Die vorgegebenen Interaktionsmuster auf Facebook sind ausschließlich positiv: Man kann spontan auf den „Gefällt mir“-Knopf klicken, aber nichts ablehnen, man wird benachrichtigt, wenn man einen neuen Freund gefunden hat, aber nicht, wenn jemand seine Freundschaft aufkündigt. Gleichzeitig wird der Nutzer durch verschiedene Kontrollroutinen geschützt. Wenn er sich von einem unbekannten Ort aus einloggt, präsentiert man ihm zunächst ein fotobasiertes Fragespiel, um seine Identität zu überprüfen. Das geht nicht ohne Willkür ab: Bisweilen werden brisante Seiten ohne Erklärung gesperrt und erst ein paar Tage später – ebenfalls ohne Erklärung – wieder zugänglich gemacht, wie etwa die Seite der Unterstützergruppe für den Soldaten Bradley Manning, der beschuldigt wird, geheime Informationen über den Irakkrieg an die Internetplattform Wikileaks weitergegeben zu haben.
Um Junkmails zu vermeiden, sind die Mitglieder aufgefordert, schadhafte Nachrichten per Mausklick zu melden, woraufhin Facebook den Zugang der Verdächtigen sperrt. Diese Methode nutzen inzwischen Aktivisten aller Couleur, um ihre jeweiligen politischen Gegner zu blockieren.2 Facebook verbietet seinen Nutzern, Links auf gefährliche Seiten zu setzen (die etwa versuchen könnten, Viren zu installieren oder Bankdaten auszuspähen); doch der gute Big Brother neigt gelegentlich zu Zensur und blockiert Links zu Seiten, auf denen Daten frei zur Verfügung gestellt oder künstlerische und politische Performances geboten werden, wie etwa seppukoo.com, einen Dienst, mit dem Nutzer ihre persönlichen Daten löschen und Facebook verlassen können.
700 Milliarden Minuten online
Diese kluge Mischung aus Privatleben und Voyeurismus, dieses liebenswürdige Regime maßvoller Grenzüberschreitung und überwachter Freiheit bildet das erfolgreiche Geschäftsmodell von Facebook-Gründer Mark Zuckerberg. So gelang ihm das Kunststück, 500 Millionen registrierte Nutzer anzuwerben, von denen sich 50 Prozent jeden Tag einloggen und jeden Monat 700 Milliarden Minuten auf der Seite verbringen. Mittlerweile loggen sich 200 Millionen Menschen mobil über ihr Telefon ein. Fast aus dem Nichts – das Gütesiegel der Harvard-Universität trug einiges zum rasanten Start der Seite im Februar 2004 bei – ist Facebook heute mit nur 1 700 Angestellten die größte Internetseite der Welt.
Die von den Nutzern so freigiebig zur Verfügung gestellten persönlichen Daten wecken Begehrlichkeiten aller Art. Marketingagenturen können ihr Zielpublikum nach Geschlecht, Alter, Geburtsdatum, Sprache, Land, Stadt, Bildungsniveau, Interessen und so weiter wesentlich genauer auswählen als bei herkömmlichen Erhebungen. Zudem entspricht die Reichweite der Facebook-Seite nahezu der des Fernsehens. So konnte die Luxusmarke Louis Vuitton am 15. November ohne Umweg über ein anderes Medium gezielt Facebook-Nutzer ansprechen – daraufhin summierte sich die Gesamtzahl der Menschen, die den „Gefällt mir“-Knopf angeklickt und damit ihre Freunde dazu gebracht hatten, dasselbe zu tun, auf über 1,5 Millionen. Auf der Website des Taschenherstellers sind etwa Modeschauen oder das Reisetagebuch des U2-Sängers Bono und seiner Frau Ali Hewson „aus dem Herzen Afrikas“ zu sehen.
Zu den beliebtesten Facebook-Seiten zählen die Markenauftritte von Unternehmen wie Starbucks, Coca-Cola und den Oreo-Keksen, die 10 bis 25 Millionen Fans haben. In dieser Liga findet man auch die Stars aus Musik, Kino, Fußball und Fernsehserien ebenso wie Facebook-Spiele und die Seite von Barack Obama, dessen Wahlkampagne 2008 vor allem im Internet erfolgreich war. Die großen Firmen sind jedoch nicht die Einzigen, die Facebook als Vermarktungsplattform entdeckt haben. Der Handwerker vor Ort, der unbekannte Schriftsteller und das Kleinunternehmen nutzen die Seite ebenfalls, um ihre Dienste anzupreisen. Auch Le Monde diplomatique betreibt seit Ende 2009 eine Facebook-Seite.
Indem Facebook es jedem gestattet, sein eigenes Image aufzupolieren, und ihn dazu animiert, sein eigenes Profil ständig neu zu gestalten, wird es zum Spiegel unserer egozentrischen und werbesüchtigen Zeit. Die Facebook-Erfahrung besteht hauptsächlich darin, sich ständig den eigenen „Freunden“ (durchschnittlich 130) zu präsentieren, die jede Geste und jeden Witz kommentieren. Je mehr die virtuelle Projektion unseres Ichs unsere wahre Persönlichkeit oder unsere Sehnsüchte widerspiegelt, desto mehr kann man sich an dieser Spiegelung berauschen.3 Dieses Gefühl bringt die Menschen dazu, manchmal zwanghaft, ihre Seite zu füllen und ihre Vorlieben, ihren jeweiligen Standort in Echtzeit (über verschiedene mobile Techniken) oder ihr Liebesleben öffentlich zu machen. So setzt die Seite einen großen Teil der traditionellen Abwehrmechanismen des Privatlebens außer Kraft.
Hyperaktive Spinne im rechtsfreien Raum
Doch Facebook ist noch lange nicht am Ende: Ausgehend von einer geschlossenen Plattform soll sich das kleine „f“ über das gesamte Internet ausbreiten. Der im April 2010 eingeführte „Gefällt mir“-Knopf ist eine scheinbar harmlose Funktion, die seither jeder Betreiber auf seiner eigenen Website einfügen kann; dank diesem ausgetüftelten System, das bereits auf einer Million Internetseiten installiert ist, rühmt sich Facebook, die Spuren von 150 Millionen Menschen pro Monat im Internet verfolgen und damit ihr Profil verfeinern zu können. Um die Kommunikation seiner Nutzer zu erleichtern (und sie dadurch noch besser erfassen zu können), hat Facebook in seinem neuen Message-Dienst E-Mail, SMS und Chat zusammengefasst. Damit geht die Plattform in direkte Konkurrenz zu Google, dem anderen Kontrollgiganten des Netzes.
Facebook verspricht, dass nur die jeweiligen „Freunde“ Zugang zur Masse der Texte und Bilder haben, die sich ständig in seine Datenbanken ergießt. Im Oktober 2010 zeigte eine Recherche des Wall Street Journal jedoch, dass einige der größten Spieleanbieter auf Facebook persönliche Nutzerdaten an Werbekunden weitergegeben hatten.4 Das Unternehmen erklärte daraufhin eine Nulltoleranz gegenüber Datenmaklern und versicherte, Facebook „hat niemals und wird niemals Nutzerinformationen verkaufen“. Das ändert allerdings nichts daran, dass die US-Behörden seit der Verabschiedung des Patriot Acts 2001 weitgehenden Zugang zu diesen Daten haben.
Noch im Jahre 1993 erklärte Peter Steiner in einer schönen Zeichnung für den New Yorker: „Im Internet weiß niemand, dass du ein Hund bist.“ Im Jahr 2010 wird diese Anonymität abgeschafft. „Mit 14 Fotos können wir jede beliebige Person identifizieren“, sagte der CEO von Google, Eric Schmidt, bei der Techonomy-Konferenz am 4. August 2010. „Sie glauben, im Netz findet man keine 14 Fotos von Ihnen? Es gibt doch Facebook!“ Dieser Tatbestand ist in seinen Augen nicht nur unwiderruflich, sondern notwendig: „In einer Welt asymmetrischer Bedrohungen ist echte Anonymität zu gefährlich. […] Wir brauchen einen zuverlässigen Dienst zur Identitätsüberprüfung – und das beste Beispiel für einen solchen Dienst ist heute Facebook. […] Die Regierungen werden diese Daten letztlich auch für sich beanspruchen.“ Selbst wenn Täuschungen heute noch möglich sind, werden sie in Zukunft immer schwieriger zu bewerkstelligen sein.
Die mächtigsten Architekten der Online-Welt und die Regierungen wollen das freie Internet, das immer als rechtsfreier Raum galt, „zivilisieren“. Wenn es ihnen gelingt, diesen Freiraum einzuhegen, dann wird man, um weiter daran teilhaben zu können, seine wahre Identität preisgeben müssen. Bis jetzt hat man sich das Internet stets als dezentrales System miteinander verbundener Computernetzwerke vorgestellt. Niemand konnte ahnen, dass sich im Zentrum eine hyperaktive Spinne einnisten würde, um das Verhalten aller Nutzer auszuspähen.
Fußnoten: 1 Miyase Christensen, „Facebook is watching you“, in: Manière de voir, Nr. 109, „Internet, révolution culturelle“, Februar/März 2010. 2 Fabrice Epelboin, „Guerre civile sur Facebook“, ReadWriteWeb France, 14. Mai 2010. 3 Noch besser als „The Social Network“ (David Fincher, 2010) – ein ausgezeichneter Film über Harvard, Informatik und Macht – enthüllt der Dokumentarfilm „Catfish“ von Henry Joost und Ariel Schulman das Wesen von Facebook. Die DVD erscheint im Januar 2011. 4 Siehe „Facebook in Privacy Breach“, Wall Street Journal, www.wsj.com, 18. Oktober 2010.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski