10.12.2010

Gefährliche Ungleichheit

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Gefährliche Ungleichheit

von Simon Sturn und Till van Treeck

Die letzten drei Jahrzehnte ökonomischer Entwicklung – zuweilen als Neoliberalismus bezeichnet – gingen in den meisten reichen Ländern nicht nur mit einer umfassenden Deregulierung der Finanzmärkte einher, sondern auch mit einer deutlichen Deregulierung der Arbeitsmärkte. Gemäß der Vorstellung der Mainstream-Ökonomie nähert sich die Arbeitslosigkeit früher oder später ihrer „natürlichen“ Rate an, die allein von der Angebotsseite her bestimmt ist.

Dieser Annahme zufolge haben antizyklische Geld- und Fiskalpolitik langfristig keinen Einfluss auf die Arbeitslosigkeit, ebenso wenig wie andere Nachfragekomponenten. Um die Arbeitslosigkeit dauerhaft zu reduzieren, müssen demnach staatliche und/oder gewerkschaftliche Eingriffe minimiert werden. Entsprechend wurden großzügige Arbeitslosenersatzleistungen, strenger Kündigungsschutz, Mindestlöhne und umfassende Tarifvertragssysteme ebenso bekämpft wie gewerkschaftlicher Einfluss schlechthin. Als Vorbild auf internationaler Ebene galt das angelsächsische Modell mit deregulierten Arbeitsmärkten, relativ geringer Arbeitslosigkeit und hohen Wachstumsraten.

Diese staatlichen und gewerkschaftlichen „Eingriffe“ in den Arbeitsmarkt stören aber nicht nur angeblich das effiziente Funktionieren der Arbeitsmärkte, sie sind auch zentrale Determinanten der Einkommensverteilung und Lohnverhandlungsmacht der Arbeitnehmerseite. Für die Mainstream-Ökonomie existiert ein Zielkonflikt zwischen niedriger Ungleichheit und niedriger Arbeitslosigkeit; eine Gesellschaft muss sich für eines der beiden Ziele entscheiden.

Paul Krugman, der heute freilich anders denkt, brachte diese Sichtweise früher einmal wie folgt auf den Punkt: „Wachsende Ungleichheit in den USA und steigende Arbeitslosigkeit in Europa sind zwei Seiten derselben Medaille.“1 Allerdings hat sich im Zuge der aktuellen Weltwirtschaftskrise gezeigt, dass das angelsächsische Modell weit weniger erfolgreich ist, als es viele seiner Anhänger behauptet hatten.

Ohne Geld weiter konsumieren

In den Medien wird die Verantwortung für die Krise hauptsächlich den deregulierten Finanzmärkten und dem Fehlverhalten von Individuen zugeschrieben. Doch solche Erklärungen greifen zu kurz, denn die Deregulierung der Finanzmärkte in den USA war auch eine Reaktion auf tiefer liegende Probleme. Mit der Regierung Reagan kam es in den 1980er Jahren zu einem tiefgreifenden Umbau der Gesellschaft. Der führte damals unter anderem zu einem stark deregulierten Arbeitsmarkt, einer nachhaltigen Schwächung der Gewerkschaften und einer drastischen Zuspitzung der ökonomischen Ungleichheit: Die realen Medianlöhne in den USA stagnieren seit drei Jahrzehnten, die Einkommensverteilung ist wieder so ungleich wie zuletzt vor Ausbruch der großen Krise im Jahr 1929.

Da Personen mit geringerem Einkommen einen größeren Teil davon konsumieren (müssen), hätte die Stagnation der Masseneinkommen eigentlich zu einer Schwächung der Konsumnachfrage geführt, mit negativen Folgen für das Wachstum. Es wurde aber eine Möglichkeit gefunden, diesen unliebsamen Effekt zu vermeiden. Die „politische Reaktion auf die steigende Ungleichheit“ war, so der ehemalige Chefökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF), Raghuram Rajan, „die Ausweitung der Kreditvergabe an Haushalte, speziell an jene mit niedrigen Einkommen“. Die positiven Auswirkungen – wachsender Konsum, mehr Arbeitsplätze – waren unmittelbar spürbar, „während die Bezahlung der unvermeidlichen Rechnung in die ferne Zukunft verschoben wurde“.2 Rajan merkt an, dass Regierungen schon immer auf großzügige Kreditvergabe gesetzt haben, wenn sie die ökonomischen Abstiegsängste der Mittelschicht nicht direkt bekämpfen konnten – wie etwa in den USA vor der Großen Depression.

Ähnlich argumentiert eine Kommission um den Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz und Jean-Paul Fitoussi: „In den USA wurde die Stagnation niedriger Einkommen durch eine niedrige Sparquote und steigende Verschuldung kompensiert, die es den privaten Haushalten erlaubte, ihr gewohntes Konsumverhalten aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig war die Regierung wegen des schwach ausgeprägten Sozialsystems gezwungen, durch eine expansive Fiskalpolitik, die zu einem Anstieg auch der staatlichen Verschuldung führte, die Arbeitslosigkeit gering zu halten. So wurde das Wachstum um den Preis steigender staatlicher und privater Verschuldung aufrechterhalten.“3

Über Jahrzehnte wurden stagnierende Realeinkommen breiter Bevölkerungskreise und fehlende sozialstaatliche Absicherung durch die (politische) Förderung von Wohneigentum und erleichterten Zugang zu Krediten kompensiert. Als die Immobilienblase platzte, machte die Überschuldung von Millionen Haushalten die Grenzen des US-Wachstumsmodells unübersehbar.

Im Nachhinein zeigte sich also, dass Krugman – und der Großteil der ökonomischen Zunft – unrecht hatten: In Wirklichkeit ging es nicht um die Alternative niedrige Arbeitslosigkeit oder geringe Ungleichheit, sondern um die Alternative: starke Einkommenspolarisierung zu Gunsten der ökonomischen Eliten oder stabile makroökonomische Entwicklung ohne Kreditblasen und Überschuldungsgefahren. Die Politik in den USA hat sich, geleitet von den Interessen der Eliten, für hohe Ungleichheit bei makroökonomischer Anfälligkeit „entschieden“ – auf Kosten der Beschäftigten und des gesamtgesellschaftlichen Wohlstands.

Das Scheitern des US-Wachstumsmodells offenbart zugleich auch die Unzulänglichkeiten der Wachstumsmodelle exportorientierter Länder. Da sowohl der Privatsektor als auch der Staat in den USA seit Jahren strukturelle Defizite erzielten, musste in hohem Maße Kapital aus dem Ausland importiert werden. Anders ausgedrückt: Die US-Ökonomie importierte permanent mehr, als sie exportierte. Ähnliches war in anderen Ländern mit Immobilien- und Kreditblasen zu beobachten, zum Beispiel in Spanien und Großbritannien. Den Ländern mit hohem Handelsbilanzdefizit mussten aber zwangsläufig Länder gegenüberstehen, die hohe Exportüberschüsse erwirtschaften und von der starken Binnennachfrage der Defizitländer abhängig waren.

Es lassen sich zwei Gruppen exportorientierter Volkswirtschaften unterscheiden. Die erste besteht aus einigen Entwicklungsländern in Asien und Südamerika. Diese waren in Reaktion auf die Finanz- und Währungskrisen seit Mitte der 1990er Jahre darauf bedacht, Kapitalbilanzüberschüsse zu erzielen, um „Kriegskassen“ in US-Dollar zur Bekämpfung möglicher Währungskrisen anzuhäufen. Eine zweite Gruppe bilden insbesondere Deutschland, Japan, mehrere kleinere europäische Länder und in gewisser Hinsicht China, das wegen seiner Wechselkurspolitik allerdings eine Sonderrolle spielt. In diesen Ländern führten Lohnzurückhaltung und wachsende Einkommensungleichheit zu einer Spaltung von Außen- und Binnenwirtschaft. Während die Exporte angesichts steigender Wettbewerbsfähigkeit florierten, lahmte der Konsum, weil die realen Masseneinkommen deutlich hinter der konjunkturellen Entwicklung zurückblieben.

Dieses Muster findet sich nicht nur auf globaler Ebene, es spielt auch für die Erklärung gegenwärtiger Zahlungsprobleme einiger Euroländer eine wichtige Rolle. Im Euroraum gibt es keine nominalen Wechselkurse mehr. Ein wichtiger Erklärungsfaktor für die wachsenden Außenhandelsungleichgewichte ist daher die unterschiedliche Inflationsentwicklung, die stark von der Veränderung der nominalen Lohnstückkosten beeinflusst wird.

Hätten alle Euroländer das Inflationsziel der Europäischen Zentralbank eingehalten, hätten die Lohnstückkosten zwischen 1999 und 2007 um etwa 18 Prozent steigen müssen. Dies war etwa in Frankreich annähernd der Fall. In Griechenland, Irland, Portugal und Spanien stiegen sie nominal aber um rund 30 Prozent, in Deutschland hingegen nur um 1,8 Prozent. Die durch die Lohnzurückhaltung verbesserte preisliche Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands beförderte die Exporte, während die höheren Realzinsen die Nachfrage im Inland schwächten.

Zum Wirtschaftstango gehören zwei

Ein weiterer Erklärungsfaktor für die hohen deutschen Leistungsbilanzüberschüsse ist die schwache binnenwirtschaftliche Nachfrageentwicklung, die mit entsprechend geringen Importen aus dem Ausland einherging. Auch diese Stagnation des privaten Konsums rührt vorwiegend von der sehr schleppenden Entwicklung der unteren und mittleren Lohneinkommen und der realen Masseneinkommen insgesamt. Dabei trug auch die Deregulierung des Arbeitsmarkts zur weiteren Erosion der seit den 1990er Jahren ohnehin stark sinkenden Lohnverhandlungsmacht der Beschäftigten bei. Diese und andere sozial- und steuerpolitische Entscheidungen bremsten die Entwicklung der verfügbaren Einkommen bei der breiten Masse der Bevölkerung.

Im Verlauf des letzten Aufschwungs sind die Reallöhne im Durchschnitt sogar gesunken. Und 2008 hießt es in einem OECD-Bericht: „Seit dem Jahr 2000 haben in Deutschland Einkommensungleichheit und Armut stärker zugenommen als in jedem anderen OECD-Land.“4 Zwar brachte diese Politik Deutschland schließlich den „Titel des Exportweltmeisters“ ein. Doch Wachstumsimpulse kamen fast nur noch aus dem Ausland.

Die exportorientierten Länder agierten demnach als „Trittbrettfahrer“, da sie ihr Wachstum nicht aus eigener, binnenwirtschaftlicher Kraft generierten, sondern von der Verschuldungsbereitschaft der Handelsbilanzdefizit-Länder – vor allem der USA, aber auch Spaniens und Großbritanniens – abhängig waren. Zum Tango gehören zwei, wie die französische Finanzministerin Christine Lagarde so treffend formulierte.

Die deutsche Volkswirtschaft ist in jüngster Zeit aber nicht nur wegen dieses exportorientierten Wachstumsmodells in der Diskussion, auch die Beschäftigungsentwicklung infolge der jüngsten Rezession wurde viel beachtet. In Deutschland ist es nämlich gelungen, die Beschäftigung trotz massivem Wachstumseinbruch konstant zu halten; manche sprechen deshalb sogar vom „deutschen Beschäftigungswunder“. Zeigen sich hier etwa – wenn auch verspätet – die positiven Effekte der Hartz-Reformen?

Das wäre ein Trugschluss. Es war keineswegs die Deregulierung des deutschen Arbeitsmarkts, die diese überraschende Entwicklung begünstigt hat. Denn eigentlich hätte die durch die Deregulierung erhöhte externe Flexibilität den Einfluss der Konjunktur auf die Beschäftigung verstärken müssen. Während in den meisten Ländern genau diese externe Flexibilität genutzt wurde, um das Arbeitsvolumen über einen Abbau von Beschäftigten zu reduzieren, kam es in den deutschen Unternehmen zu einer starken Reduzierung der Arbeitsstunden je Beschäftigten. Diese hohe interne Flexibilität ist der Hauptgrund für das deutsche Beschäftigungswunder. Das wichtigste Instrument zur Reduzierung der Arbeitszeit waren dabei – neben der wiederentdeckten Kurzarbeit – die Einführung von Arbeitszeitkonten und die variable Anpassung der betrieblichen Regelarbeitszeit.

Im Ländervergleich finden sich sogar einige Anzeichen dafür, dass sich hohe interne und externe Flexibilität tendenziell ausschließen. So weisen insbesondere Länder mit traditionell guter Zusammenarbeit zwischen den Sozialpartnern eine hohe interne Flexibilität auf. Solche „korporatistischen“ Länder sind aber gerade für rigide – also extern unflexible – Arbeitsmärkte bekannt. Auch die OECD hat festgestellt, dass ein höherer Kündigungsschutz in der Regel mit einer höheren internen Flexibilität einhergeht. Eine vertrauensvolle Beziehung zwischen starken Gewerkschaften und Unternehmerverbänden, ein ausgeprägter sozialpartnerschaftlicher Dialog und eine gewisse externe Rigidität des Arbeitsmarkts scheinen also die Voraussetzungen für eine hohe interne Flexibilität in den Betrieben zu sein. In der jüngsten Rezession kam es insbesondere in Ländern mit einer hohen externen Flexibilität zu einem viel ausgeprägteren Anstieg der Arbeitslosigkeit als in Ländern mit einer geringeren externen Flexibilität.

In den letzten Jahrzehnten hat in den meisten reichen Ländern die ökonomische Ungleichheit deutlich zugenommen. Das war nicht nur eine Folge der Globalisierung und des technischen Wandels, sondern auch der Politik der Arbeitsmarktderegulierung ab den 1980er Jahren. Auf die zunehmende Ungleichheit reagierten manche Länder mit der Deregulierung der Kreditmärkte. Auf diese Weise konnten Konsum und Wachstum trotz stagnierender Masseneinkommen hochgehalten werden. In anderen Ländern führte die Zunahme der Ungleichheit zu einem exportorientierten Wachstumsmodell. Diese beiden, sich gegenseitig bedingenden Wachstumsmodelle stecken nun in einer schweren Krise.

Der Abbau der Ungleichheit durch eine egalitärere Primär- und Sekundärverteilung sind wichtige makroökonomische Aufgaben der nahen Zukunft. Eine solche Politik widerspricht aber vielen zentralen Vorstellungen in der gegenwärtig gelehrten Ökonomie. Die Politik müsste durch unorthodoxes Handeln erst den Spielraum für neue akademische Erkenntnisse schaffen. Denn für viele Wirtschafts-„Wissenschaftler“ ist die gegenwärtige Krise offenbar immer noch kein hinreichender Anlass, um liebgewonnene Glaubenssätze zu überdenken.

Fußnoten: 1 Paul Krugman, „Past and Prospective Causes of High Unemployment“, Federal Reserve Bank of Kansas City, Economic Review, Nr. IV, 1994, S. 62. 2 Raghuram Rajan, „Fault Lines – How Hidden Fractures Still Threaten the World Economy“, Princeton und Oxford (Princeton University Press) 2010, S. 9. 3 „The Ways Out of the Crisis and the Building of a More Cohesive World“, OFCE Document de Travail, Nr. 17: www.ofce.sciences-po.fr/pdf/dtravail/WP2009-17.pdf. 4 OECD, „Mehr Wohlstand durch Wachstum?“, Fact Sheet Deutschland, 2008: www.oecd.org/dataoecd/3/28/41531752.pdf [10-11-2010].

Simon Sturn ist Referent für Gesamtwirtschaftliche Analysen des Arbeitsmarkts am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in Düsseldorf. Till van Treeck ist dort Referent für Allgemeine Wirtschaftspolitik. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.12.2010, von Simon Sturn und Till van Treeck