15.12.2006

TV Tatar geht auf Sendung

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TV Tatar geht auf Sendung

Stalin hatte die muslimischen Tataren 1944 von der Krim nach Zentralasien deportiert. Seit 1989 sind 250 000 zurückgekehrt von Alexandre Billette

Mustafa Dschemilew spricht sehr leise durch den Rauch seiner ewig brennenden Zigarette: „Wir wollen in unserem eigenen Land nicht als Minderheit gelten. Wenn es eine alteingesessene Volksgruppe in der Republik Krim gibt, dann sind wir es.“ Dschemilew, auch bekannt unter dem Namen Mustafa Abdülcemil Kirimoglu („Sohn der Krim“) ist seit 1991 Präsident des Mejlis, der „Selbstvertretung der Krimtataren“, die eine Turksprache sprechen und sunnitische Muslime sind. Der unermüdliche Fürsprecher seines Volkes hatte sich stets für das Rückkehrrecht der Krimtataren eingesetzt, die 1944 unter Stalin nach Zentralasien deportiert worden waren. Dschemilew lebt seit 1989, nach seiner politischen Rehabilitation, mit seiner Familie wieder auf der Krim.

Nach Auflösung der Sowjetunion kehrten 250 000 Krimtataren auf die Krim zurück1 , wo sie heute knapp 12 Prozent der 2,5 Millionen Einwohner stellen. Die Bevölkerungsmehrheit auf der Halbinsel im Schwarzen Meer ist russisch2 . Doch seit 1954 gehört die Krim zur Ukraine. Sie war „ein Geschenk“ Chruschtschows an die damalige Sowjetrepublik. Vor zwanzig Jahren kehrten die ersten Krimtataren zurück – doch die gegenwärtige Situation ist für sie nach wie vor äußerst schwierig. Auch das Trauma der Deportation ist noch nicht überwunden.

Das Mejlis hat seinen Sitz in Simferopol, der Hauptstadt der „Autonomen Republik Krim“3 . Das kleine Gebäude ist blau gestrichen. Drinnen wartet eine Gruppe Männer darauf, dem „Präsidenten“ ihre Anliegen vorzutragen. Für die Krimtataren ist Dschemilew eine lebende Ikone. Schon 1961 hatte er die Untergrundorganisation „Rat der Krimtatarischen Jugend“ mitbegründet. Später setzte er sich dann an vorderster Front für die Rehabilitierung der Tataren in der Sowjetunion ein – und landete dafür mehrfach in sowjetischen Gefängnissen und Arbeitslagern.

„Zum einen geht es um unsere kulturelle Identität“, erläutert Dschemilew. „Wir haben nicht genügend eigene Schulen. Die jungen Leute sprechen oft nur Russisch. Mit dieser Sprache sind sie aufgewachsen. Und vom Staat werden wir in unseren Bemühungen, die Sprache und Kultur der Krimtataren zu erhalten, überhaupt nicht unterstützt. Politisch sind wir in allen öffentlichen Gremien unterrepräsentiert. Besonders bei Eigentumsfragen werden die Krimtataren oft benachteiligt. Gerade das macht die Rückkehr so schwierig.“

Bei der Frage der Rückgabe von Alteigentum auf der Krim scheiden sich die Geister. Im Zuge der Deportationen wurden 1944 über 80 000 Wohnungen, Häuser oder Grundstücke beschlagnahmt und den slawischen Bewohnern der Halbinsel, Russen und Ukrainern, übergeben.

Der Staat sorgte nicht für einen Ausgleich. 1991 wurde nach der Unabhängigkeit der Ukraine begonnen, die landwirtschaftlichen Güter zu privatisieren. Die ehemaligen Kolchosbauern konnten ein Stück vom einstigen Staatsbetrieb erwerben, doch die Krimtataren, die damals noch nicht zurückgekehrt waren, gingen leer aus.

Bei „TV Tatar“, dem einzigen tatarischen Sender der Krim, ist die Frage der Rückgabe von Alteigentum regelmäßig das wichtigste Thema. „TV Tatar“ sendet auf Krimtatarisch. Die kleinen Studios befinden sich in Simferopol, im Hinterhof eines alten Gebäudes.

Auch heute geht es in der Sendung um das Thema Eigentum: Nach langem Rechtsstreit hatte ein Alteigentümer seinen Besitz zurückerhalten – doch in letzter Sekunde meldete ein russischer Unternehmer Anspruch darauf an. „Immer das Gleiche!“, seufzt Ibrahim, der Studiotechniker. „Sobald es um wertvollen Boden geht oder um Grundstücke, mit denen sich spekulieren lässt, taucht garantiert von irgendwoher ein Geschäftemacher auf. Er wedelt mit Dokumenten, die mit Sicherheit vordatiert sind, und will so beweisen, dass das Land ihm gehört und nicht den Tataren.“

Winera Abdulajewa, eine junge 23-jährige Journalistin, setzt nach: „Wir machen viele Reportagen über Themen, die die Krimtataren betreffen. Damit stehen wir allerdings so gut wie allein da, die ‚slawischen‘ Medien interessiert das nicht. Umgekehrt spürt man deutlich eine gewisse Feindseligkeit, sowohl bei den anderen Journalisten als auch bei den offiziellen Stellen, wenn unser Sender über Themen berichtet, die nicht klassisch ,tatarisch‘ sind. Als ginge uns nur das Leben der Tataren an! Die wollen uns ganz allgemein raushalten aus dem politischen und sozialen Leben auf der Krim.“

In 15 Schulen wird die tatarische Sprache gelehrt

TV-Tatar sendet nicht oft, nur wenige Stunden in der Woche – die finanziellen Mittel sind äußerst bescheiden. Wer sich eine Sendung anschauen will, muss Tatarisch können, doch selbstverständlich ist das nicht, gerade unter den jungen Krimtataren. Das „Gymnasium 82“ in Swoboda („Freiheit“), einem Viertel am Stadtrand von Simferopol, ist eine der wenigen Schulen auf der Krim, die Sprachunterricht anbietet – wenn auch nicht als Teil des offiziellen Lehrplans. Stolz steht Nariman Achmedow, der Schuldirektor, vor dem Gebäude. Früher wurden hier Tierärzte ausgebildet, dann kamen die Krimtataren, renovierten den Bau und eröffneten ein Gymnasium. „Dieses Jahr haben wir 628 Schüler“, berichtet Achmedow. „Nicht einmal hundert davon sind Russen oder Ukrainer. Von 56 Lehrkräften sind 52 Tataren. Trotzdem müssen wir auf Russisch oder Ukrainisch unterrichten.“

Die Pädagogen machen nach Schulschluss Überstunden, um Sprache, Kultur und Geschichte der Krimtataren zu unterrichten. „Die Lücken im vorgeschriebenen Lehrplan sind erschreckend, vor allem in Geschichte“, beschwert sich Achmedow. „Die Deportation der Krimtataren zum Beispiel wird mit keinem Wort erwähnt.“

Nariman Achmedow ist in Samarkand in Usbekistan geboren. Mit der ersten großen Rückkehrwelle kam er 1991 auf die Krim. Der 41-jährige Physiker ist seit Juli 2005 Direktor des Gymnasiums 82. Er hat hier viel auf die Beine gestellt. Die Flurwände sind mit Zitaten des tatarischen Nationalhelden Ismail Gasprinski beschrieben, in der Bibliothek studieren junge Mädchen die Hymne der Krimtataren ein – „Watan“ („Vaterland“). Doch die meisten Bücher in den Regalen sind russische und ukrainische Werke.

Auf der Krim gibt es gerade einmal 15 tatarische Schulen, ausreichend für nur zehn Prozent der Kinder. Es mangelt an allem – an Geld natürlich, an modern ausgestatteten Unterrichtsräumen, an Schulbüchern, an Personal. Das Mejlis, die Selbstvertretung der Krimtataren, ist für die Finanzierung zuständig. Doch es muss neben Schulen auch Medien und viele andere kulturelle und soziale Einrichtungen der Krimtataren finanzieren; für all das reicht das Geld hinten und vorne nicht.

Das Mejlis ist das Exekutivorgan des „Kurultai“, einer Art nationales Parlament der Krimtataren – das allerdings ebenso wenig wie das Mejlis selbst von den regionalen und nationalen Behörden offiziell anerkannt wird. Das Kurultai gibt es seit 1991 – historisch ist es das „Zweite Kurultai“4 . Ihm gehören 264 Abgeordnete an, die auf fünf Jahre gewählt werden. Wahlberechtigt sind alle Krimtataren – die im Übrigen auch auf lokaler und regionaler Ebene in über 3 00 Verbänden – ebenfalls „Mejlis“ genannt – organisiert sind. Das Kurultai wählt die 33 Mitglieder des nationalen Mejlis. An seiner Spitze steht seit der Einführung dieser Institutionen Mustafa Dschemilew.

Die Verankerung des Kurultai unter den Krimtataren ist sehr stark. Sein Exekutivorgan, das Mejlis, ist daher, wenn auch nicht offiziell, so doch de facto, der einzige Ansprechpartner für die staatlichen Behörden, ob nun auf der Krim oder in Kiew. „Das Meljis ist die einzige Selbstvertretung unseres Volkes auf der Krim“, erläutert Dschemilew. „Das hilft uns, gegenüber der Ukraine und der internationalen Gemeinschaft geschlossen aufzutreten.“

Seit 1998 sitzen Dschemilew und sein Stellvertreter Refat Tschubarow auch als Abgeordnete im Parlament der Ukraine. Beide sind Mitglieder der nationalistischen Partei Ruch („Volksbewegung“), die dem Parteienbündnis „Unsere Ukraine“ unter Präsident Wiktor Juschtschenko angehört. Für beide ist das Bündnis eher eine Zweckgemeinschaft, kein Zusammenschluss aufgrund gemeinsamer Überzeugungen. Die Krimtataren haben die „orange Revolution“, die Juschtschenko 2004 an die Macht brachte, mit großem Einsatz unterstützt. Da die russische Bevölkerungsmehrheit der Krim gegen Juschtschenko war, bekam der politische Konflikt auf der Halbinsel eine ethnische Ausrichtung.

Sowohl Krimtataren als auch Ukrainer sind in der Minderheit auf der Schwarzmeerhalbinsel. Deren Regierung ist russlandfreundlich und nimmt Anweisungen aus Kiew nicht immer ohne weiteres hin5 . Strategisch wäre es daher für beide Gruppen sinnvoll, sich abzustimmen. Auch für die Regierung in Kiew wäre es von Vorteil, die Krimtataren zu unterstützen, selbst wenn es sich nur um symbolische Gesten handelte. Doch wie ein Tatar aus Simferopol klagt: „Für die Regierung in Kiew ist die Situation der Krimtataren ein Randthema.“ Auch auf lokaler Ebene sind die Krimtataren nach wie vor nur unzureichend repräsentiert. Nach Angaben des Mejlis machen sie 12 Prozent der Bevölkerung der Krim aus, haben aber nur vier Prozent der politischen Ämter inne.

Benachteiligt werden die Krimtataren auch auf dem Arbeitsmarkt. Über 60 Prozent der Erwachsenen haben keine Arbeit7 ; wenn doch, dann in untergeordneten Positionen und schlecht bezahlt.

Zäher Kampf mit dem Amtsschimmel

Girey ist ausgebildeter Schweißer, 31 Jahre alt. Anfang der Neunzigerjahre ist Girey aus Usbekistan eingewandert. Heute lebt er im „Sechsten Bezirk“ von Bachtschisarai, einer kleinen Stadt im Süden der Krim, die von 1532 bis 1783 Hauptstadt des Khanats der Krim war. Das Viertel liegt am Stadtrand und ist eine ewige Baustelle: Kein einziges der Gebäude ist fertiggestellt, Geschäfte sind nicht zu sehen; nur der stete Strom alter Autos, die noch aus der Sowjetzeit stammen, lässt darauf schließen, dass hier Menschen wohnen.

„In diesem Viertel leben fast nur Tataren“, sagt Girey, der hier seit drei Jahren mit seiner Familie wohnt. Das Haus hat er selbst gebaut. Zuvor hat er einige Jahre bei seinen Eltern und bei Freunden gelebt. Sein Vater ist bereits 1987 auf die Krim gezogen, Girey und seine Geschwister kamen 1991 nach. „Damals bekam man hier nur Arbeit, wenn man eine Propiska8 besaß. Um die Propiska zu bekommen, musste man aber schon Arbeit haben!“, berichtet Girey voller Sarkasmus. Auf dem Gelände, auf dem heute sein Haus steht, hat er schon vorher gelebt – illegal. Erst nach jahrelangen Bemühungen hat er die offizielle Bauerlaubnis erhalten.

Das Ende der Sowjetunion bedeutete zwar auch das Ende des Rückkehrverbots. Doch die örtlichen Behörden verzögern oft mit Absicht die Amtshilfe für die Tataren. Die rückkehrwilligen Krimtataren mussten zunächst einmal die ukrainische Staatsbürgerschaft erwerben. Wer vor dem 14. November 1991 auf die Krim gekommen war, der erhielt sie automatisch. Wer später kam, musste mühsam bei den Behörden um seine Einbürgerung kämpfen – das dauerte und ging ins Geld.9 Die nächste Hürde war die Suche nach einem Dach über dem Kopf. In ihre alten Häuser zurückkehren konnten die Krimtataren nicht, denn diese waren ihnen weggenommen worden. Klagen vor Gericht hätten nur wenig Aussicht gehabt.

Viele Tataren hausten deswegen zunächst in Behelfsunterkünften, oft am äußersten Rand der Städte, bisweilen auch an abgelegenen Orten auf der Krim – vor allem in der kargen Steppe im Norden. Einige besetzten auch einfach illegal Land und errichteten Häuser. Noch heute haben offenbar 40 Prozent der Rückkehrer keine feste Bleibe, sondern kommen in Hotels oder bei Verwandten unter.10

Immer wieder entbrennen deswegen Auseinandersetzungen zwischen Krimtataren und Slawen, manchmal auch mit Gewalt. Im Juni 1995 kam es in Simferopol zu einer regelrechten Schlacht, bei der gepanzerte Polizeifahrzeuge eingreifen mussten. Vier Menschen starben dabei. Im August 2006 protestierten in Bachtschisarai Krimtataren vehement gegen einen Markt, der auf dem Gelände eines alten tatarischen Friedhofs abgehalten wurde.11

An die Öffentlichkeit gelangen solche Vorkommnisse meist nur, weil das Mejlis selbst darüber Bericht erstattet. Dabei steigt die Zahl solcher Konflikte zusehends, angeheizt von radikalen russischen Nationalisten. Zu diesen zählen etwa der „Russische Block“, eine politische Partei, oder der „Verband der Russen auf der Krim“ mit angeblich mehreren tausend Mitgliedern12 . Die Verbandsführer behaupten, das „verbrecherische“ Mejlis vertrete die Interessen islamistischer Gruppierungen und bereichere sich seit der Rückkehr der Krimtataren auf Kosten der russischen Bevölkerung.

Perspektivlos, auf vielerlei Weise benachteiligt, entnervt von der Bürokratie und in Eigentumsfragen alleingelassen, ist das Leben für viele Tataren auf der Krim noch weit von der Normalität entfernt. Dennoch möchten viele der in Zentralasien verbliebenen 200 000 Krimtataren ebenfalls zurückkehren.13 Oft wollen sie vor allem den schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen und der Willkür der autoritären Regime in den zentralasiatischen Staaten entkommen.

2004 führte die Universität Simferopol anlässlich des 60. Jahrestags der Deportation eine Umfrage durch. Von den Krimtataren wird sie in der Öffentlichkeit oft zitiert. Ihr Ergebnis: 70 Prozent der Studierenden mit slawischem Hintergrund sind der Ansicht, die Deportation der Krimtataren sei gerechtfertigt gewesen.

Fußnoten:

1 Die Ukraine hat 2001 in ihrer letzten offiziellen Erhebung 243 400 Tataren auf der Krim gezählt. Die Krimtataren selbst sprechen von 260 000. 2 58,5 Prozent der Krimbevölkerung sind Russen, 24,4 Prozent Ukrainer, 12,1 Prozent Krimtataren (ebenfalls nach der Erhebung aus dem Jahr 2001 – www.ukrcensus.gov.ua). Auf der Krim leben über 125 verschiedene Nationalitäten. 3 Die Krim ist weitgehend autonom – sie ist zwar „unabtrennbarer Teil“ der Ukraine, hat aber seit 1998 eine eigene Verfassung. 4 Ein erster Kulturai war im Zuge der Oktoberrevolution 1917 geschaffen worden. 5 Als die Ukraine am 1. Dezember 1991 ein Referendum über die Unabhängigkeit des Landes von Russland durchführte, stimmten auf der Krim nur 54 Prozent der Wahlberechtigten dafür; landesweit waren es 90,5 Prozent. 7 Die Zahlen beruhen auf Angaben der Menschenrechtsorganisation „Azatliq“ (www.azatliq.net). 8 Die „Propiska“ ist ein Visum für die Bürger des eigenen Landes, eingeführt zu Sowjetzeiten; sie ist nötig, um sich in einem anderen Teil des Landes niederzulassen und dort Arbeit aufzunehmen. 9 Dazu Aurélie Campana, „L’ethnicisation du champ politique en Crimée“, Cahiers d’études sur la Méditerranée orientale et le monde turco-iranien, Nr. 37, Paris 2004. 10 www.azatliq.net. 11 www.regnum.ru/news/687941.html. 12 www.ruscrimea.ru. 13 Greta Lynn Uehling, „Beyond Memory. The Crimean Tatars’ Deportation and Return“, New York (Palgrave MacMillan) 2004. Aus dem Französischen von Patrick Batarilo Alexandre Billette ist Journalist und lebt in Kiew.

Le Monde diplomatique vom 15.12.2006, von Alexandre Billette