Die kleinen Hexen von Kinshasa
von Mike Davis
Die Einwohner von Kinshasa nennen ihre Stadt „Kin-la-poubelle“ – „Kinshasa, der Mülleimer“. „Nach heutigen Schätzungen haben weniger als fünf Prozent der Einwohner Kinshasas ein regelmäßiges Einkommen“, schreibt der Anthropologe René Devisch1 . Die Leute leben von „den überall angelegten Gemüsebeeten und ihrem Geschick, zu kaufen und zu verkaufen, zu schmuggeln und zu feilschen“. Artikel 15, der Strafparagraf für Diebstahl, gilt als Grundgesetz der Stadt. „Se débrouiller“ – „sich durchschlagen“ – lautet die inoffizielle Losung.2
In Kinshasa scheinen die Kategorien politischer Ökonomie und der Stadtforschung eine ganz neue Bedeutung anzunehmen. Das Verhältnis zwischen dem formellen und dem informellen Wirtschaftssektor hat sich glatt umgekehrt. Der belgische Anthropologe Filip De Boeck, der das Leben von Kindern im Kongo untersucht hat, fragt zu Recht: „Was heißt es, in einer Stadt mit schätzungsweise sechs Millionen Einwohnern zu leben, in der es kaum Autos oder öffentliche Verkehrsmittel gibt, und zwar aus dem schlichten Grund, weil in regelmäßigen Abständen über Wochen oder gar Monate kein Tropfen Benzin zu haben ist. Warum soll man an dem Brauch festhalten, eine Banknote als „Geld“ zu bezeichnen, wenn man täglich erfährt, dass sie nur ein wertloser Papierfetzen ist?“3
Die Einwohner Kinshasas arrangieren sich in ihrer verwüsteten Stadt mit einem unverwüstlichen Humor. Doch die Trostlosigkeit der sozialen Landschaft bringt selbst die härteste Ironie zum Verstummen: Das Durchschnittseinkommen ist unter 100 Dollar pro Jahr gefallen; zwei Drittel der Bevölkerung sind unterernährt; die Mittelklasse ist ausgelöscht; einer von fünf Erwachsenen ist HIV-positiv. 75 Prozent der Bewohner können sich keine ärztlichen Dienste leisten und werden Wunderheilern der Pfingstbewegung oder einheimischen Magiern in die Arme getrieben.4
Wie der ganze Kongo wurde die Hauptstadt Kinshasa Opfer mehrere Faktoren: einer Flutwelle einheimischer Kleptokratie, der Geopolitik des Kalten Kriegs, aufgezwungener Strukturanpassungsprogramme und ständiger Bürgerkriege. Die Mobutu-Diktatur, die den Kongo 32 Jahre lang systematisch ausgeplündert hat, war eine Art Frankenstein-Monster, das von Washington, dem IWF und der Weltbank erzeugt und am Leben gehalten wurde, wobei auch das französische Außenministerium eine tragende Nebenrolle spielte. (…)
Als die nationale Wirtschaft ruiniert war und der Reichtum des Kongo in den Tresorräumen Schweizer Banken lagerte, wurde Mobutu 1997 endlich gestürzt. Doch die „Befreiung“ war nur der Auftakt zu ausländischen Interventionen und einem endlosen Bürgerkrieg, dem mehr als drei Millionen Menschen zum Opfer fielen, von denen die meisten an Hunger oder an Krankheiten starben.5 Und die Plünderungen durch marodierende Armeen im Osten des Landes trieben immer neue Wellen von Flüchtlingen in die überfüllten Slums der Hauptstadt.
Angesichts des Absterbens der offiziellen Stadt und ihrer Institutionen kämpften die Kinshasaer – vor allem Mütter und Großmütter – um ihr nacktes Überleben, indem sie ihre Stadt zum Dorf machten: Sie kehrten zur Subsistenzwirtschaft und zu den traditionellen Formen ländlicher Selbsthilfe zurück. Jeder freie Quadratmeter Land, selbst der Mittelstreifen, wurde mit Maniok bepflanzt, während die „mamas miteke“, die Frauen, die kein Stück Land besaßen, das Gelände nach Wurzeln und anderen essbaren Pflanzen absuchten.6 Mit zunehmender Auflösung der normalen Arbeitswelt – und anschließend auch der Scheinwelt des Glückspiels – flüchteten sich die Menschen wieder in dörflichen Zauber und Weissagungskulte, um Erlösung von der „Krankheit der Weißen“ zu suchen: von „yimbeefu kya mboongu“ – der tödlichen Krankheit des Geldes.7
In leer stehenden Fabriken und geplünderten Geschäften quartierten sich unter primitiven, aber bunt bemalten Schildern winzige Kirchen und Gebetszirkel ein. In riesigen Slums wie Masina – wegen seiner Bevölkerungsdichte auch „Republik China“ genannt – wucherte die Pfingstbewegung wie der Tropenwald: Ende 2000 soll es in Kinshasa 2 177 neu gegründete religiöse Sekten gegeben haben, viele von ihnen halten für ihre Anhänger nächtelange Betstunden ab.8 (…)
Aber das Talent der Kinshasaer für Selbstorganisation und ihre Fähigkeit, „sich durchzuschlagen“, stoßen irgendwann an materielle Grenzen. Und sie haben eine dunklere Seite. Denn trotz aller heroischen Bemühungen, vor allem der Frauen, sind die traditionellen sozialen Strukturen in Erosion begriffen. Als Folge der totalen Verarmung beschreiben Anthropologen die Auflösung von Institutionen, die die kongolesische Gesellschaft zusammenhalten. Das gilt etwa für den Austausch von Geschenken nach dem Prinzip der Reziprozität: Junge Männer verlassen, weil sie sich den Brautpreis nicht leisten oder keine Familie ernähren können, ihre schwangeren Frauen und Väter lassen ihre Familien im Stich.
Zugleich hinterlässt die mörderische Aids-Epidemie eine Riesenmenge von Waisen und HIV-positiven Kindern. Auf der armen Stadtbevölkerung lastet der entsetzliche Druck, die schwächsten Familienmitglieder aufzugeben, weil ihnen entweder die Unterstützung durch das ländliche Verwandtschaftsnetz fehlt oder umgekehrt die familiale Solidarität eine zu große Last darstellt. Ein Mitarbeiter der NGO „Save the Children“ bemerkt resigniert: „Die Kapazitäten kongolesischer Familien und Communities, die Grundversorgung und den Schutz ihrer Kinder zu gewährleisten, sind offenbar erschöpft.“9
Diese Krise der Großfamilie fällt zusammen mit dem Boom der Pfingstbewegung und der Rückkehr der alten Furcht vor Hexerei. Wie der Anthropologe Devisch beobachtet, sehen viele Kinshasaer ihr eigenes Schicksal mit der allgemeinen Katastrophe der Stadt verknüpft, als „eine Art Fluch oder Zauber“10 . So hat sich etwa in Kinshasa der perverse Glauben ausgebreitet, der Harry Potter als reale Figur nimmt und dazu geführt hat, dass tausende „verhexte“ Kinder denunziert und auf der Straße ausgesetzt oder sogar umgebracht wurden. Diesen Kindern, von denen einige fast noch Säuglinge sind, schreibt man alle möglichen Missetaten zu, und zumindest im Slum von Ndjili glauben manche, die Kinder würden nachts in Schwärmen auf Besenstielen herumfliegen.
Dies bezeichnen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen als ein ganz neues Phänomen: „Vor 1990 hat man von verhexten Kindern in Kinshasa praktisch nichts gehört. Die Kinder, die man jetzt der Hexerei bezichtigt (…) stammen meistens aus sehr armen Familien.11
Die fundamentalistischen Freikirchen trifft eine schwere Mitschuld, weil sie die Ängste vor „verhexten“ Kindern schüren und rechtfertigen: Die Pfingstler geben ihren Glauben als göttliche Waffe gegen die Hexerei aus. Die Hysterie bei den Erwachsenen wie bei den Kindern – sie entwickeln ausgeprägte Phobien vor Katzen, Echsen und den langen, dunklen Nächten bei ausgefallenem Strom – steigert sich noch durch die Verbreitung von grausigen christlichen Videos, die zeigen, wie sich „verhexte“ Kinder schuldig bekennen, samt dem anschließenden Exorzismus, was Hungern und Verbrühen mit kochendem Wasser bedeuten kann.12 Ein Unaid-Bericht macht dafür das Treiben der „selbst ernannten“ Priester verantwortlich, die Menschen mit ihren Prophezeiungen bedienen, „die eine schlichte Antwort auf ihre Sorgen und ihr Elend suchen“.
Wenn dann die Prophezeiungen nicht eintreffen, erfinden die Priester für das anhaltende Elend irgendeinen falschen Grund: „Zum Beispiel werden Kinder, die man leicht beschuldigen kann, weil sie sich nicht wehren können, häufig der Hexerei bezichtigt. Fragt etwa eine Familie, die ein behindertes Kind hat, bei ihrem Priester um Rat, kann sie zu hören bekommen, die Behinderung sei die Ursache für ihr Elend und ein klarer Beweis dafür, dass das Kind verhext ist.“13
De Boeck zufolge stellen die Sekten jedoch angesichts des allgemeinen Zusammenbruchs zugleich eine informelle moralische Instanz dar, und er betont: „Die Kirchenführer artikulieren diese Anschuldigungen nicht selbst, sie bestätigen sie nur und legitimieren sie damit.“ Die Pastoren organisieren öffentliche Bekenntnisse und Exorzismen: „Das Kind wird in einen Kreis von häufig in Trance betenden Frauen gesetzt, die immer wieder in Zungen sprechen, was als Zeichen des Heiligen Geistes gilt.“ Häufig weigern sich die Familien, einmal beschuldigte Kinder wieder aufzunehmen. So werden sie zu Straßenkindern. „Ich heiße Vany und bin drei Jahre alt“, hörte De Boeck ein Kind sagen: „Ich war krank. Meine Beine wurden dick. Und dann haben sie gesagt, ich bin eine Hexe. Und das stimmte. Der Priester hat es auch gesagt.“14
Die „verhexten“ Kinder scheinen die Anschuldigungen halluzinatorisch zu bestätigen. So erzählte ein Junge dem Fotografen Vincent Beeckman: „Ich habe 800 Männer gegessen. Ich habe sie in Flugzeugen und Autos verunglücken lassen. Eine Meerjungfrau hat mir geholfen, nach Belgien zu kommen, sie hat mich den ganzen Weg zum Hafen von Antwerpen gebracht. Manchmal reise ich auf einem Besenstiel und manchmal auf der Schale einer Avocado. Nachts bin ich 30 Jahre alt und habe 100 Kinder. Wegen mir hat mein Vater seine Arbeit als Techniker verloren – dann habe ich ihn mit der Seejungfrau getötet. Ich habe auch meinen Bruder und meine Schwester getötet. Ich habe sie lebendig begraben. Auch alle ungeborenen Kinder meiner Mutter habe ich getötet.“15
Weil es keine funktionierende öffentliche Kinderfürsorge gibt, kann der Vorwurf der Hexerei laut Beeckman, sogar das Verstoßen des Kindes rationalisieren, denn man kann die Abschiebung in eine religiösen Gemeinschaft oder die Ablieferung im Kinderzentrum einer internationalen NGO als Chance darstellen, „denn das Kind bekommt ja zu essen und kann etwas lernen“. Doch die meisten der Hexerei beschuldigten Kinder enden, vor allem wenn sie krank oder HIV-positiv sind, auf der Straße. Dort stoßen sie zu der mindestens 30 000 Mann starken städtischen Armee von „Ausreißern, Missbrauchsopfern, Kriegsflüchtlingen, desertierten Kindersoldaten, Waisen und Unverheirateten“16 . (…)
Der Dichter Thierry Mayamba Nlandu, ein echter Kinshasaer, legt sich in seinen wehmütigen Betrachtungen im Ton von Walt Whitman („Auch die Hütten singen Kinshasa …“) die Frage vor: „Wie überleben diese Millionen das disparate und elende Leben in Kinshasa?“ Seine Antwort lautet: „Kinshasa ist eine tote Stadt. Es ist keine Stadt der Toten.“ Der informelle Sektor ist für ihn kein deus ex machina, sondern „eine seelenlose Einöde“, zugleich aber „eine Ökonomie des Widerstands“, die den Armen eine Würde verleiht, „wo ansonsten die Logik des Marktes in die absolute Verzweiflung führt“.17
Die Menschen in Kinshasa klammern sich, wie die Bewohner des Slums namens „Texaco“ auf Martinique in dem gleichnamigen Roman von Patrick Chamoiseau18 , mit „tausenden Überlebenstricks“ an die Stadt und weigern sich hartnäckig, aufzugeben.
Fußnoten: