15.12.2006

Hinter wem sie wirklich her sind

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Hinter wem sie wirklich her sind

Verschwörungstheorien und der Zustand der Linken in den USA von Alexander Cockburn

Wo war die US-amerikanische Linke in der Wahlkampagne, die der Demokratischen Partei am 7. November die Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses gebracht hat? War sie auf den Straßen, um gegen den Krieg im Irak zu protestieren? Keineswegs. Die Antikriegsbewegung ist schon seit Monaten in Lethargie versunken. Auf einer Antikriegskundgebung in meiner Heimatstadt Eureca vor einigen Wochen haben drei der sechs Redner den Irakkrieg nicht einmal erwähnt. Stattdessen langweilten – und leerten – sie den Saal mit endlosen Erörterungen über die Anschläge vom 11. September 2001, und zwar mit der Absicht, die Attentate als eine von Bush und Cheney initiierte „Auftragsarbeit“ darzustellen. Einer ebenfalls gern vorgebrachten Variante zufolge sind dabei noch dunklere Mächte am Werk gewesen, die Bush und Cheney nur als ihre Laufburschen benutzen.

Fünf Jahre nach den Anschlägen hat der Glaube an Verschwörungstheorien über den 11. September in der US-amerikanischen Linken tiefe Wurzeln geschlagen. Aber auch im marktradikalen Lager und bei der populistischen Rechten sind solche Theorien weit verbreitet. Dabei dürfte Letzteres kaum überraschen, denn in den USA hegen die rechten Populisten ein viel stärkeres instinktives Misstrauen gegen die Regierung als die Linken, wobei sie sich für jeden ihrer gerade aktuellen Dämonen – ob Steuerbehörden, UN-Geheimagenten in „schwarzen Helikoptern“ oder die Juden – die passende Verschwörungstheorie ausdenken.

Heute gibt es nur noch wenige Linke, die sich mit der Marx’schen Politischen Ökonomie befassen, und wenn, dann tun sie es innerhalb winziger, vorwiegend trotzkistischer Grüppchen. In dieses theoretische und strategische Vakuum hinein hat sich eine diffuse verschwörungstheoretisch geprägte Weltsicht ausgedehnt, die dazu neigt, das Teufelswerk der herrschenden Klasse nicht auf die Krisen der Kapitalakkumulation oder das Gesetz der fallenden Profitrate oder die Rivalität imperialistischer Kräfte zurückzuführen, sondern auf bestimmte Zirkel, die sich regelmäßig treffen (auf den Bilderberg-Konferenzen und den Davoser Weltwirtschaftsforen) oder ohnehin als „Schurkenorganisationen“ gelten – allen voran nach wie vor die CIA. Kern und Gipfel dieses Unfugs ist das Gerede von der Verschwörung vom 11. September.

Über die prinzipielle Idiotie der 9/11-Verschwörungstheoretiker stolpert man schon im ersten Absatz des Buches „The New Pearl Harbor“. Darin schreibt David Ray Griffin, der Hohepriester der 9/11-Gemeinde: „Zu den stärksten Beweismitteln, die uns die Kritiker der offiziellen Darstellung liefern, gehören in vieler Hinsicht die Ereignisse des 11. September selbst.“ Denn, so Griffin, „keines der Flugzeuge hätte in Anbetracht der offiziellen Richtlinien für den Umgang mit entführten Flugzeugen sein Ziel erreichen dürfen, geschweige denn alle drei.“

Das entscheidende Wort ist dieses „dürfen“. Ein Hauptkennzeichen der Verschwörungsfans ist ihr inbrünstiger und geradezu grotesker Glaube an die amerikanische Effizienz. Viele von ihnen gehen von der rassistischen Prämisse aus, dass zu einer solchen Tat „Araber in Höhlen“ ohnehin nicht fähig seien. Sie glauben auch, dass militärische Systeme genau so funktionieren, wie es die Pressefritzen des Pentagon und die Verkaufsmanager der Luftfahrtindustrie dem Publikum weismachen wollen. Als hätte an jenem 11. September um 8 Uhr 14, als beim Flug AA 11 der Funkkontakt und das Transpondersystem aussetzten, ein Flugkontrolleur die Aufgabe gehabt, auf der Stelle die Kommandozentrale der US-Streitkräfte und das Nordamerikanische Luft- und Weltraumverteidigungskommando (Norad) zu benachrichtigen. Sie glauben allen Ernstes – und verweisen (wie ihr Hohepriester Griffin) ergebenst auf die Website der US Air Force – dass eine F-15 den Flug AA 11 „bis 8 Uhr 24 und ganz sicher bis spätestens 8 Uhr 30 hätte abfangen können“.

Diese Leute haben offenbar keine Militärgeschichte studiert. Sonst wüssten sie, dass minutiös geplante Operationen – erst recht standardisierte Reaktionen auf einen Notfall – mit schöner Regelmäßigkeit in die Hose gehen, und zwar aufgrund von Dummheit, Feigheit, Bestechlichkeit oder auch nur als Folge eines Wetterwechsels.

Hinter jeder Panne steckt eine geheime Absicht

Dafür gibt es in der Vergangenheit eine Fülle von Beispielen. So hätten sich nach den exakt ausgearbeiteten Plänen des Strategischen Bomberkommandos (SAC) der USA bei einem drohenden sowjetischen Angriff die Raketensilos in North Dakota automatisch öffnen sollen, damit man die Interkontinentalraketen unter anderem auf Moskau abfeuern konnte. Tatsächlich gingen alle vier Tests, die man mit den Raketen angestellt hat, daneben – woraufhin die SAC keine weiteren Tests durchgeführt hat. Lag das nun an technischen Mängeln der Raketen, an menschlichem Versagen, an der Bestechlichkeit der Rüstungsindustrie – oder gab es eine Verschwörung?

Oder nehmen wir den Versuch vom 24. April 1980, die in der Teheraner US-Botschaft festsitzenden Geiseln zu befreien. Ist er gescheitert, weil ein Sandsturm drei der acht eingesetzten Hubschrauber außer Gefecht setzte? Oder weil die Hubschrauber nicht gut genug waren, oder weil CIA-Agenten und Wahlkampfhelfer der Republikaner Zucker ins Benzin geschüttet hatten, um die Wiederwahl des demokratischen Präsidenten Jimmy Carter zu verhindern. Also auch eine Verschwörung?

Und was den 11. September 2001 betrifft: Zeigte sich an den diversen Versuchen des US-Militärs, der Öffentlichkeit zu erklären, warum die F-15-Kampfjets die entführten Flugzeuge nicht abgefangen und abgeschossen haben, das nahe liegende Bemühen, die üblichen Pannen zu vertuschen – oder war es eine Verschwörung? Setzt Mr. Cohen, der Besitzer des kleinen Eckladens, seine Preise hoch, weil er mehr Gewinn machen will oder weil ihm gerade die Miete erhöht wurde – oder weil die Juden die Welt erobern wollen? August Bebel sprach vom Antisemitismus als „Sozialismus der dummen Kerls“.

Heute droht die 9/11-Verschwörungstheorie zur maßgeblichen politischen Doktrin der US-Linken zu werden. Da kursieren zum Beispiel Fotos von den Einschlagschäden, die der Absturz der Boeing 757 mit der Flugnummer 77 am Pentagon hinterlassen hat. Aber sieht das eher kleine Loch, das sie zeigen, nicht nach einem Raketeneinschlag aus? Also war es keine Boeing 757, die auf das US-Verteidigungsministerium stürzte, sondern eine Rakete! Und die genaue Größe des Lochs in den betonverstärkten Mauern des Pentagon war nicht etwa hinter einer Rauchwolke verborgen.

Was die fotografischen Beweise betrifft, kann Chuck Spinney Auskunft geben, der bis zu seiner Pensionierung als Beamter des Rechnungshofs diverse Unregelmäßigkeiten in der Haushaltsführung des Verteidigungsministeriums aufgedeckt hat. Spinney hat mir erzählt, dass es tatsächlich Bilder vom Einschlag des Flugzeugs im Pentagon gibt: „Sie stammen von den Überwachungskameras am Heliport des Pentagon, der unmittelbar neben der Einschlagstelle liegt. Ich habe sie gesehen, sowohl Fotos wie Videoaufnahmen. Und fast hätte ich den Einschlag selbst mitgekriegt. Aber der Fahrer des Autos, der mich kurz davor auf dem Südparkplatz absetzte, sah die Boeing so dicht vorbeifliegen, dass er in den Fenstern die panikverzerrten Gesichter der Passagiere erkennen konnte. Und zwei Menschen in dem Flugzeug waren Bekannte von mir. Einen hat man offiziell identifiziert, anhand seiner Zähne, die man im Pentagon gefunden hat.“

Solche Aussagen können Verschwörungsfans nicht beeindrucken, denn sie sind gegen jede Realitätskontrolle immun. Spinney arbeitet ja für die Regierung! Und die zahnärztlichen Unterlagen hat man ausgetauscht! Die Boeing 757 wurde nach Nebraska geflogen, wo Präsident Bush schon wartete, der dann die Passagiere erschoss, die Leichen auf der Landebahn verbrannte und die Zähne von Spinneys Freund an Dick Cheney übergab, der sie durch ein Loch in seiner Hosentasche an der Einschlagstelle im Pentagon deponierte.

Tatsächlich haben hunderte Menschen die Boeing 757 gesehen. Sie alle können ein Flugzeug von einem Marschflugkörper unterscheiden. Die Wrackteile der AA 77 wurden aus dem Pentagon herausgeholt. Wozu also das Offensichtliche noch beweisen? Weshalb sollten sich Menschen, die am 11. September verletzt wurden, die Freunde oder Kollegen verloren haben, an der Vertuschung eines Raketeneinschlags beteiligen? Und warum sollte die US-Regierung (um die bizarre Konstruktion der Verschwörungstheoretiker aufzugreifen) den Einsatz einer Rakete riskieren, wenn sie schon ein Flugzeug im Anflug hatte und zwei weitere Boeings erfolgreich in zwei weitaus schwerer zu treffende Ziele, nämlich die Zwillingstürme des World Trade Centers, gelenkt hatte?

Die Twin Towers wurden von Cheneys Agenten gesprengt

Und wie schwierig ist es für einen Entführer mit rudimentärer Flugausbildung, ein Passagierflugzeug in ein Ziel zu steuern? Die Antwort eines Zivilpiloten lautet kurz und bündig: nicht sehr schwierig. Fast alles, was man wissen muss, lässt sich tatsächlich in wenigen Wochen mithilfe eines Flugsimulatorprogramms am Computer lernen.

Wie aber wollen die Verschwörungsfans erklären, dass Ussama bin Laden sich die Attentate an seine Fahne heftet? Steht er etwa immer noch im Sold der CIA? Für alles findet sich eine Theorie, die in immer dunklere Gefilde führt. Aber wozu das Ganze? Will man beweisen, dass Bush und Cheney zu fast allem fähig sind? Dabei ist das Einzige, was die beiden bewiesen haben, ihre totale Unfähigkeit, ein Unternehmen wie dieses erfolgreich durchzuziehen. Sie haben es nicht mal geschafft, nach der Irakinvasion die behaupteten Massenvernichtungswaffen zu fabrizieren, wo es doch ausgereicht hätte, zum Beweis irgendeine Kiste mit der Aufschrift WMD (Weapons of Mass Destruction) zu präsentieren und von der „eingebetteten Presse“ ablichten zu lassen.

Aus den Kongresswahlen vom 7. November kann die Linke zumindest eines lernen: dass die Unterschiede zwischen Bush/Cheney und ihren Vorgängern und Nachfolgern nicht besonders groß sind. Schließlich gab es ja schon vorher einen parteiübergreifenden Konsens über Israel, den Irak und die anderen internationalen Krisenherde. Die Konspirationstheoretiker hingegen wollen uns letztlich einreden, die Bush-Cheney-Bande sei ein ganz neuartiges Übel. Dies ist jedoch vielleicht der gefährlichste aller Irrtümer, denn er fördert die fantastische Vorstellung, eine Regierung unter Hillary Clinton oder Al Gore würde womöglich eine humanere Außenpolitik betreiben.

Zurück zu den Verschwörungstheorien. Wenn es nach ihren Anhängern ginge, wären die Twin Towers nicht etwa deshalb eingestürzt, weil sie schlecht gebaut waren – aufgrund von Korruption, Unfähigkeit und der Umgehung der Bauvorschriften – und weil riesige Flugzeuge mit vollen Kerosintanks in sie hineinflogen. Nein, sie fielen in sich zusammen, weil eine Heerschar von Cheneys Agenten vor dem 11. September systematisch Sprengsätze in den Zwillingstürmen platziert haben. Es war demnach eine mörderische Verschwörung mit tausenden Beteiligten – die seitdem allesamt den Mund gehalten haben.

Wenn bei einem ungeklärten Problem die vorhandenen Beweismittel mehrere Erklärungen zulassen, trifft mit größter Wahrscheinlichkeit die Hypothese zu, die mit den wenigsten unbelegten Vermutungen auskommt. Dieses Prinzip nennt man nach dem Philosophen und Franziskanermönch William von Ockham auch „Ockhams Skalpell“. Es gibt einfach keinen Grund, den Einsturz der Türme auf deponierte Sprengladungen zurückzuführen. Der Ingenieur Pierre Sprey, Konstrukteur der Kampfflugzeuge vom Typ F-16 und A-10, hat auf unserer Website CounterPunch einige praktische Aspekte dargelegt, die das Sprengladungsszenario als äußerst unwahrscheinlich, ja absurd erscheinen lassen.1

Auch der pensionierte Bauingenieur Herman Soifer kann kurz und bündig erklären, wie und warum die Twin Towers eingestürzt sind. Beide Türme waren wie Röhren, das heißt als Hohlkörper konstruiert. Röhren können sehr stabil sein. Die Röhren des World Trade Centers waren auf große vertikale Belastungen ausgelegt, aber auch starker Wind und Erschütterungen, selbst Erdbeben konnten ihnen kaum etwas anhaben. Allerdings muss man die relativ dünnen Außenwände solcher Hohlkörper durch Ringe versteifen, um zu verhindern, dass diese Haut unter bestimmten Belastungen eingedellt wird, wodurch die Röhre sich verformen und ihre Stabilität verlieren würde.

Die inwändige Versteifung der Twin Towers garantierten vor allem die an der Außenhülle befestigten Geschossdecken. Diese horizontalen Bauteile bestanden aus gitterförmig gekreuzten Trägerbalken, die auf eine normale Deckenbelastung ausgelegt waren. Die Trägerenden ruhten auf an den Außenmauern angebrachten Stahlhalterungen. Als die Geschossdecken der Stockwerke, in die die Flugzeuge eingeschlagen waren, Feuer gefangen hatten, gaben die Trägerbalken unter der Hitzeeinwirkung nach, bogen sich durch und rutschten damit aus ihren Aufhängungen an den Außenmauern. Aufgrund ihres schieren Gewichts und der zusätzlichen Last stürzten diese Gitterbalken auf die jeweils darunter liegende Geschossdecke, die nun – mit doppeltem Gewicht belastet – ihrerseits der Hitze ausgesetzt war. Infolgedessen brach auch dieses Stockwerk durch, und nach ihm das nächste und so weiter.

Die abgestürzten Geschossdecken fehlten nun als Versteifung der dünnwandigen Hauptröhren der Twin Towers, sodass sich deren Wände Abschnitt für Abschnitt nach außen wölbten. Die Folge: Beide Türme fielen wie Kartenhäuser in sich zusammen.

Außer den Geschossdecken gab es keine weiteren Versteifungen, wie sie bei einem konventionelleren Hochhausbau vorgesehen wären – aber auch bei den Twin Towers, wenn man den potenziellen Ausfall der Geschossdecken beim Bau einkalkuliert hätte. Es gab also weder eine vertikale noch eine horizontale zusätzliche Stabilisierung, keinerlei Rahmen oder „Skelett“, das mit Pfeilern oder Trägern den ganzen Hohlkörper zusammengehalten hätte.

Als letzter Trumpf bleibt den Verschwörungsfanatikern, dass der Zusammenbruch des benachbarten World Trade Center 7 erst mehrere Stunden nach den Attentaten erfolgte. Doch auch hier sind die Erklärungen der zuständigen Behörden2 mehr als hinreichend: Der Gluthauch, der von den erhitzten Trümmern der Twin Towers ausging, entfachte Brände auch im WTC 7, die durch ein falsch konzipiertes Notstromsystem genährt wurden, sodass am Ende der ganze Bau zusammenbrach.

Entscheidend war dabei, dass im Gebäude WTC 7 eine der zentralen Querstreben durch die enorme Hitze zerstört wurde. Die Ursache war, dass die Notstromversorgung mit Dieselöl arbeitete, das aus einem unterirdischen Tank hochgepumpt wurde. Fatalerweise gelangte es jedoch durch ein Leck in der Ölleitung direkt auf einen Brandherd, der in der Nähe von zweien der drei Hauptträger des Gebäudes entstanden war. Der Stahl, der bei den Trägern in den Twin Towers verwendet wurde, büßt bei Erhitzung auf über 570 Grad Celsius die Hälfte seiner Tragfähigkeit ein, und noch mehr, wenn die Temperaturen, wie im WTC, auf 1 100 Grad ansteigen. Der Physiker und Ingenieur Manual Garcia Jr. hat berechnet, dass durch das Dieselöl, von dem pro Minute knapp 300 Liter austraten, insgesamt so viel Energie freigesetzt wurde wie bei der Explosion von 367 Tonnen TNT.

Verkappte reaktionäre Allmachtsfantasien

Was wollen die Verfechter der 9/11-Verschwörungstheorien eigentlich erreichen? Sie stellen Fragen, gewiss, aber Antworten geben sie keine. Auch ein Gesamtszenario der angeblichen Verschwörung haben sie nicht zu bieten – das sei nicht ihre Aufgabe. Aber wessen Aufgabe ist es dann? Von wem erwarten sie Antworten auf ihre Fragen? Wenn nämlich andere eine Antwort formulieren, tun sie die als Erfindungen ab oder schieben sofort eine andere Frage nach.

Nun ist es ja durchaus nicht so, dass in den USA ein Mangel an echten Verschwörungen bestünde. Warum also welche erfinden? Alle paar Jahre treffen Immobilienhaie und die Stadtverwaltung von New York die konspirative Absprache, bei Bränden in bestimmten Stadtvierteln das Eingreifen der Feuerwehr zu verzögern – damit genug Gebäude niederbrennen, um zunächst die Armen zu vertreiben und dann mit der profitablen Aufwertung des Viertels beginnen zu können. Dabei handelt es sich um tatsächliche Verschwörungen mit dem Ziel der ethnischen Säuberung, einschließlich Mord.

Derzeit geschieht das vor allem in Brooklyn, aber auch in San Francisco unterliegen bestimmte Wohnviertel einer solchen Brandrodung, mit der man sich wertvolle Wohnsubstanz unter den Nagel reißen kann. Bayview Hunters Point ist das letzte große Schwarzenviertel in der kalifornischen Bay Area. Es liegt wunderbar am Ufer der San Francisco Bay – höchste Zeit also, das schwarze Pack loszuwerden. Willie Ratcliff schreibt in seiner Zeitung Bay View: „Wenn die großen Bauunternehmer und ihre Marionetten, der demokratische Bürgermeister Gavin Newsom und seine Günstlinge, diesen Krieg gewinnen, werden sie den größten Landraub in der Geschichte der Stadtentwicklung der USA vollbracht haben: 90 Hektar Bauland in der Stadt mit den höchsten Grundstückspreisen der Welt.“ Hier handelt es sich um eine echte Verschwörung, obwohl viele der heutigen Bewohner der Bay Area sie nicht sehen und sich stattdessen vielleicht in den Sackgassen der 9/11-Verschwörungstheorien verirren.

Schon Machiavelli wusste, dass die Chancen, ein konspiratives Unternehmen geheim zu halten, mit jeder weiteren Person, die eingeweiht wird, schrumpfen. Die Gruppe der 9/11-Attentäter hat ihre Absichten etliche Male nach außen dringen lassen, aber aufgrund der herrschenden Überzeugung, dass Araber so etwas nicht hinkriegen, hat niemand die entsprechenden Informationen ernst genommen. Dieses Vorurteil war für die Attentäter der denkbar beste Schutz vor ihrer Entdeckung.

Der Glaube an Verschwörungstheorien ist eine alte Krankheit: Ohne kommunistische Verräter können die Russen keine Atombombe bauen, dazu sind sie einfach zu blöd. Und die Rote Armee konnte nicht durch ganz Osteuropa und halb Deutschland marschieren und am Ende die Nazis besiegen, möglich war das nur durch Verrat. Und es war undenkbar, dass John F. Kennedy von Lee Harvey Oswald erschossen wurde – das muss die CIA gewesen sein. Da soll immer wieder neu der Beweis erbracht werden, dass Russen, Araber, Vietnamesen, Japaner und so weiter den ausgefuchsten Machenschaften und Kalkülen weißer Christen ohnehin nicht gewachsen sind. Das alles ist schrecklicher Quatsch, aber es erspart das Lesen und das Denken.

Es gibt freilich auch Leute, die in der Verbreitung dieser 9/11-Verschwörungstheorien den Silberstreif am Horizont sehen. Vor kurzem schrieb mir ein durchaus differenziert denkender Linker aus Washington, für meinen Spott über die „Auftragsarbeit“-Szenarios habe er sehr viel übrig, doch dann meinte er: „Am interessantesten erscheint mir aber, wie viele Leute glauben, dass Bush selbst die ganze Sache entweder eingefädelt hat oder aber im Voraus von ihr wusste und sie dann geschehen ließ. Wenn es tatsächlich auch nur annähernd so viele sind, dann heißt das, dass hier ungeheuer viele Menschen eine zutiefst zynische Meinung über ihre gewählte Regierung haben. Das wäre die eigentliche Neuigkeit, die in den Medien bisher nicht vorkommt, und es ist eine große Geschichte.“

Okkultismus als Metaphysik der dummen Kerle

Ich habe diesem Linken geantwortet: „Was den Zynismus gegenüber der Regierung betrifft, so bin ich mir nicht sicher, ob ich darin einen Silberstreif sehen kann. Dasselbe hat man nach dem Mord an John F. Kennedy über den Glauben an eine Verschwörung und das Misstrauen gegenüber dem Warren-Report3 gesagt. Dieser Zynismus hält die Leute doch nur von sinnvollen politischen Aktivitäten ab.“

Viel eher ist der Hang zu Verschwörungstheorien ein Ausdruck von Verzweiflung und politischer Naivität. Nennenswerte politische Energien können aus derart blühendem Unsinn nicht erwachsen. Das wäre fast so, als würde man hinter einem Verrückten, der an einer Straßenecke laut vor sich hin schimpft, einen großen Redner vermuten. Das alles erinnert verdammt an die Hysterie wegen der fliegenden Untertassen vor 50 Jahren, die auf die Angst vor einem Atomkrieg zurückzuführen ist.

In seinem Buch über die britischen Geheimdienste zitiert Richard Aldrich einen Bericht für das Pentagon.4 Der enthielt die Anregung, interessante geheime Dokumente, etwa Informationen über den Kennedy-Mord, freizugeben und sogar ins Internet zu stellen – und zwar mit dem Ziel der „Ablenkung“, genauer: „um den ungezügelten Appetit der Öffentlichkeit auf ‚Geheimnisse‘ zu dämpfen, indem man sie mit echtem Ablenkungsmaterial versorgt“. Aldrich meint dazu: „Wenn sich die investigativen Journalisten und Zeithistoriker in überflüssigen Diskussion über die Bedeutung des grasbewachsenen Hügels in Dallas erschöpfen würden, fänden sie keine Zeit, in Bereiche vorzudringen, in denen ihre Recherchen nicht willkommen sind.“

So gesehen bin ich mir ziemlich sicher, dass die Bush-Bande – und alle konspirativen Kräfte auf Seiten des Kapitals – über die fixen Ideen der 9/11-Verschwörungstheoretiker höchst erfreut sind. Denn sie lenken die Menschen von ihren 1 001 realen Machenschaften ab, die aufgedeckt und politisch bekämpft werden müssten.

In seinen „Minima Moralia“ hat Theodor Adorno geschrieben: „Die Neigung zum Okkultismus ist ein Symptom der Rückbildung des Bewusstseins … Die verschleierte Unheilstendenz der Gesellschaft narrt ihre Opfer in falscher Offenbarung, im halluzinierten Phänomen. Umsonst hoffen sie, in dessen fragmentarischer Sinnfälligkeit dem totalen Verhängnis ins Auge zu blicken und standzuhalten.“5 Adorno sieht im Okkultismus ein „erkranktes Bewusstsein“ am Werke, das den „Abhub der Erscheinungswelt“ mit dem Mundus intelligibilis, der erkennbaren Welt, verwechselt. Seine treffende Diagnose lautet, in Anlehnung an den oben zitierten Satz Bebels über den Antisemitismus: „Okkultismus ist die Metaphysik der dummen Kerle.“6

Fußnoten:

1 Ein Sprengexperte hätte angeblich dafür gesorgt, dass der Zusammenbruch der Gebäude unmittelbar nach dem Aufprall der Flugzeuge erfolgt wäre, und nicht erst Stunden später. Und Explosionen, die Gebäude von der Größe der Twin Towers zerstören, würden weitaus sichtbarere Wirkung zeigen als die kleinen Rauchwolken, die als Beweis für die Sprengladungshypothese ins Feld geführt werden. 2 Das sind zum einen das National Institute of Standards and Technology (Nist) und für WTC 7 die dem Heimatschutzministerium unterstellte Federal Emergency Management Agency (Fema). 3 Den Warren-Report erstellte die siebenköpfige Kommission, die im Auftrag von Präsident Lyndon B. Johnson den Mord an dessen Vorgänger untersucht hat. Siehe: „Report of the Warren Commission on the Assassination of President Kennedy“, New York (Bantam Books) 1964. 4 „The Hidden Hand“, New York (Overlook Press) 2002. 5 Theodor W. Adorno, „Thesen gegen den Okkultismus“, in: „Minima Moralia – Reflexionen aus dem beschädigten Leben“, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1986, S. 321. 6 Ebd., S. 323 und 325. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Alexander Cockburn ist Mitherausgeber der politischen Website CounterPunch und Kolumnist u. a. für The Nation. Er schrieb u. a. das Buch „Corruptions of Empire“, London/New York (Verso) 1999.

Le Monde diplomatique vom 15.12.2006, von Alexander Cockburn