Tee und Tafta im Shangri-La
Ein exklusives Treffen für Lobbyisten, Netzwerker und Unterhändler von Renaud Lambert
Unter dem riesigen Kristalllüster im Hotel Shangri-La gibt sich die Europaabgeordnete Marietje Schaake alle Mühe, das im Lauf zahlloser Redebeiträge schläfrig gewordene Publikum aus seiner Lethargie zu reißen: „Wir müssen froh sein, dass es hier hier nicht viel Öffentlichkeit gibt. Sonst würde eine Diskussion wie unsere sofort die Gegner des Transatlantischen Freihandelsabkommens auf den Plan rufen. Einige der Gesprächsbeiträge, die ich heute hier gehört habe, hätten ihnen Gänsehaut verursacht.“
Es ist der 10. April 2014. Hier, im noblen Pariser Fünfsternehaus mit Zimmerpreisen ab 850 Euro, wird eine Konferenz abgehalten, ausgerichtet von der Washington Post – die im August letzten Jahres von Amazon-Chef Jeff Bezos übernommen wurde – und der in Belgien erscheinenden Wochenzeitung European Voice.1 Zweck der Veranstaltung sind „Gespräche über die Zukunft des transatlantischen Handels“. Eine Zukunft, die, wenn es nach den hier Anwesenden geht, so rosig aussehen wird wie der Marmor in den Toiletten des Palasthotels.
„Dass wir uns in edlen Salons versammeln, wird die existierenden Befürchtungen nur weiter schüren“, fährt Marietje Schaake fort. „Man muss der Wahrheit ins Auge blicken, für ziemlich viele Leute ist Tafta ein giftiger Cocktail mit folgenden Zutaten: Vereinigte Staaten, Europa und Privatwirtschaft.“ Die Beamten aus den USA, die Bürokraten aus Europa und die Vertreter der privaten Unternehmen heben den Kopf.
Marietje Schaake hat nichts von einer Globalisierungskritikerin. Die Niederländerin ist Fraktionsmitglied der Allianz der Liberalen und Demokraten im Europaparlament und hat stets die Tugenden des freien Markts hochgehalten. Aber an der Sachdienlichkeit dieser Versammlung scheint sie Zweifel zu hegen: „Wenn wir das Freihandelsabkommen durchsetzen wollen, müssen wir uns klarmachen, dass ein Strategiewechsel unabdingbar ist.“
Zu just diesem Zeitpunkt versammeln sich um die 500 Personen vor dem Hotel, um gegen das Treffen zu protestieren. Nicht genau vor dem Hotel – acht Einsatzfahrzeuge der CRS (kasernierte Bereitschaftspolizei) sorgen für die Ungestörtheit der Gäste –, sondern etwas weiter entfernt in der prächtigen Avenue d’Iéna. Auch sie wünschen sich einen Strategiewechsel, allerdings von anderer Art: „Wir fordern den Abbruch der Verhandlungen über das Freihandelsabkommen“, ist auf dem Flugblatt der Stopp-Tafta-Gruppe zu lesen. Transparente verkünden, man wolle weder Chlorhühnchen und hormonbehandeltes Rindfleisch auf europäischen Tellern noch die Unterordnung unter die Interessen internationaler Konzerne.
Diesseits der großen Glasfenster des Shangri-La wird bei Tee, frischem Orangensaft und Törtchen, serviert von livrierten Kellnern, bereitwillig eingeräumt, die „schlecht informierten Medien“ seien „beunruhigt“. Sie seien beunruhigt und verbreiten Unruhe. „Aber wissen Sie“, erklärt Shéhérazade Semsar de Boisséson, Geschäftsführende Direktorin der European Voice, „wir sind hier nicht zusammengekommen, um zu sagen, ‚Tafta ist gut‘ oder ‚Tafta ist schlecht‘. Wir wollen die Diskussion eröffnen.“ Ein paar Stunden vorher schon hat Mary Jordan, eine Journalistin der Washington Post, in ihrer Einführung versichert: „Wir sind hocherfreut, hier sämtliche Standpunkte vertreten zu sehen.“
Das Podium wurde dennoch nicht zur Kampfarena. Auf die Ausführungen der US-Unterhändler folgen die der europäischen Kollegen, man ist sich einig, lobt den Vertrag in höchsten Tönen. Auf die Klagen der Unternehmervertreter über „absurde Reglementierungen, die viel zu teuer sind, Investitionen erschweren und die Beschäftigungslage schwächen,“ folgen wie ein Echo die nicht sehr gewagten Erklärungen der beiden einzigen geladenen Gewerkschafter, Vertreter des Europäischen Gewerkschaftsbunds (EGB) und der CFDT (Confédération française démocratique du travail). Jordan und ihre Komoderatoren, durchaus bemüht, keines der Aufregerthemen auszulassen, organisieren die Diskussion um die zwei große Fragen: „Welche Vorteile sind durch das Freihandelsabkommen zu erwarten?“ und „Was steht bei einem Scheitern der Verhandlungen zu befürchten?“
Einer der ersten Redner, der Portugiese João Vale de Almeida, EU-Botschafter in den USA, präsentiert sich als Mann mit gesundem Menschenverstand: „Für mich liegen die Dinge ganz einfach: Tafta ist eine gute Idee. Und wenn eine Idee gut ist, sollte man alles dafür tun, dass sie Wirklichkeit wird.“ Denn durch das Abkommen, davon ist man hier überzeugt, werden neue Arbeitsplätze entstehen. Millionen Arbeitsplätze.
„Jede durch Warenhandel und Dienstleistungen erzielte Euromilliarde sichert 15 000 Arbeitsplätze in der Union“, heißt es in einem von der EU-Kommission im September 2013 veröffentlichten Dokument, das sich auf eine Studie des Centre for Economic Policy Research (CEPR) stützt. Das CEPR, ein Thinktank, der von der Deutschen Bank, PNB Paribas, Citigroup, Barclays, JP Morgan und anderen finanziert wird, schätzt, dass durch das Abkommen die europäischen Exporte um 28 Prozent (187 Milliarden Euro) gesteigert werden. Die Schlussfolgerung der Kommission (eingestandenermaßen das „optimistischste“ Szenario) lautet: Durch Tafta könnte „die Zahl der Stellen im Exportgewerbe innerhalb der Europäischen Union um mehrere Millionen anwachsen“.2
Im Salon ist kein Arbeitsloser anwesend, den es zu überzeugen gälte, aber das Argument taucht wie ein Leitmotiv quer durch alle Beiträge immer wieder auf. Auch der Ehrengast des Tages, EU-Kommissar für Handel Karel De Gucht, der die Verhandlungsgruppe der Union führt, widmet einen Großteil seiner einführenden Betrachtungen dem Thema Arbeitsplätze.
„De Gucht redet alles Mögliche daher!“ Auf der Straße vor dem Lautsprecherwagen regt sich der Europaabgeordnete der Grünen, Yannick Jadot, mächtig auf, als man ihm die Vorschläge des Kommissars zuträgt. „Seine Einschätzungen entbehren jeglicher Grundlage. Wir werden ihn bald zurückrudern sehen, wie damals, als es um die Vorteile des Abkommens für jeden einzelnen Haushalt ging.“ Tatsächlich hatte Karel De Gucht am 14. Juni 2013 eine Rede gehalten, in der er begrüßte, dass die Mitgliedstaaten grünes Licht für die Aufnahme von Verhandlungen zwischen Brüssel und Washington gegeben hatten. Dabei sprach er von „jüngsten Schätzungen“ und verkündete: „Ein Handelsabkommen mit den USA würde für jeden europäischen Haushalt durchschnittlich um die 545 Euro an Mehreinnahmen bringen.“3
Die Zahl hatten er selbst und die Kommission in Umlauf gebracht.4 Doch am 31. März 2014 nahm ein von der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) beauftragter Bericht De Guchts Milchmädchenrechnung auseinander.5 Yannick Jadot hatte ihn zu diesem Thema befragt. Und der Kommissar gab sich plötzlich vorsichtig. Was eine Familie zu erwarten hätte? „Das lässt sich nur schlecht in Euro beziffern. Ich jedenfalls tue es nicht.“ Und die Beträge, die er bereits genannt hat? „Wissen Sie, es existiert eine Studie, die besagt, dass jeder Haushalt 545 Euro pro Jahr dazugewinnt. Mir ist es schleierhaft, wie man auf diese Zahlen kommt. […] Also führe ich sie nur äußerst selten an.“
Moderatorin Mary Jordan muss den EU-Botschafter Vale de Almeida zur Fortsetzung seiner Ausführungen nicht weiter ermuntern: „Natürlich kommt es darauf an, die Vorteile des Freihandelsabkommen richtig einzuschätzen. Aber man sollte sich auch über die Kosten im Klaren sein, die ein Scheitern der Verhandlungen nach sich zöge.“ Und, auf die Ukrainekrise anspielend, fügt er verschmitzt hinzu: „Ich würde die Unterzeichnung des Freihandelsabkommens viel lieber mit Champagner oder Portwein feiern, als dessen Scheitern mit Wodka zu begießen.“ Zu seiner Linken sitzt Daniel Hamilton; er greift das Argument wenig später auf. Hamilton ist Chef des US-Thinktanks Center for Transatlantic Relations. Er glaubt, dass geopolitische Gesichtspunkte bei dem gesamten TTIP-Projekt eine wesentliche Rolle spielen: „Es handelt sich um das bedeutendste strategische Abkommen, das wir diesseits und jenseits des Atlantiks haben. Ein Abkommen, das viel wichtiger ist als der Vertrag, mit dem die Nato Gestalt angenommen hat.“ Er erinnert daran, dass Russland 70 Prozent seiner Gasförderung in die Europäische Union exportiert, und erklärt, dass die Energiefrage vor der Ukrainekrise noch nicht zu den vordringlichsten Verhandlungspunkten gehörte: „Inzwischen ist das allerdings der Fall.“
Generell haben Freihandelsabkommen das Ziel, Zollschranken abzubauen. Zwischen den USA und der EU liegen die Zölle ohnehin niedrig (durchschnittlich weniger als 3 Prozent). Tafta soll eher die sogenannten nichttarifären Handelshemmnisse reduzieren: Quoten, Verwaltungsformalitäten, Gesundheitsvorschriften, technische oder soziale Vorgaben. Besonders in den letztgenannten Bereichen versprechen sich die Verhandlungspartner wichtige Fortschritte. „Im Rahmen einer Harmonisierung von oben!“, wie im komfortablen Ambiente des Shangri-La einmütig betont wird. Das ganze Verfahren werde zu einer allgemeinen Anhebung der sozialen und rechtlichen Normen führen, da das Abkommen dazu angetan sei, seine „Standards“ dem Rest der Welt aufzuerlegen.
Marcelo Odebrecht, einer der mächtigsten Unternehmer Brasiliens,6 ist für die Tagung angereist, um vor allem eine Frage zu beantworten: Welche Auswirkungen hätte Tafta für die Schwellenländer? „Jede Verordnung, auf die sich die Vereinigten Staaten und die Europäische Union einigen, wird sich auf den Rest der Welt auswirken, das ist sicher.“ Wäre das ein Problem für ihn? „Nicht wirklich. Wenn wir heute bei uns die US-Arbeitsbestimmungen anwenden würden, gälte dies vor dem brasilianischen Gesetz als Sklaverei.“ Diese Behauptung ist so überraschend, dass Mary Jordan darum bittet, sie zu wiederholen. Odebrecht kommt der Bitte nach und schließt mit der Bemerkung, dass eine Angleichung der brasilianischen Bestimmungen auf das von Tafta vorgegebene Niveau „sich als nicht unbedingt kompliziert darstellen würde“. Offenbar wird hier kein Gedanke daran verschwendet, dass eine „soziale Harmonisierung“ auch den Arbeitnehmern zugutekommen sollte.
Als die Gewerkschafterin Bernadette Ségol an der Reihe ist, verspricht sie, den allgemeinen Optimismus zu verderben. Und dann relativiert die Generalsekretärin des EGB ihre Anmerkungen, noch bevor sie ihren Beitrag beginnt: „Gewerkschafter sind nun einmal dafür da, stets mehr zu verlangen.“ Die Zuhörerschaft, die einen vergleichbaren Kommentar über Aktionäre sicherlich weniger goutiert hätte, lacht herzlich. Worüber also ist Bernadette Ségol beunruhigt? Sie beklagt die mangelnde Transparenz der Verhandlungen. Mary Jordan ist etwas irritiert, als die Gewerkschafterin an die Watergate-Enthüllungen durch die Washington Post erinnert: „Etwas in der Art müsste jetzt auch geschehen.“
In der Tat monieren zahlreiche Organisationen seit Monaten, dass die Verhandlungen zwischen Washington und Brüssel völlig undurchsichtig sind. So fragt der EGB vor allem nach den Verlierern des Abkommens, „denn die wird es geben, machen wir uns nichts vor“. Sollte man also lieber darauf verzichten? Nein, „diese Position vertreten wir nicht“. Aber es solle „deutlich gesagt werden“, in welchen Wirtschaftszweigen Arbeitsplatzverluste zu erwarten seien. Kurz: Die Rechte der Arbeitnehmer sollen wahrgenommen werden, indem man sich auf Entlassungen vorbereitet. Diese Forderung der Gewerkschafterin bringt João Vale de Almeida nicht aus der Fassung: „Das ist sehr gut: Es ist durchaus notwendig, dass die Gewerkschaften gehört werden. Im Übrigen bin ich froh, dass die Vorschläge von Madame Ségol so konstruktiv ausfallen.“
Und so weiter, bis 17 Uhr. Während sich die Reihen lichten, sieht man Firmenlogos an Aufschlägen von Anzug- oder – sehr viel seltener – Kostümjacken vorbeidefilieren: HSBC, General Electric, Daimler, The Walt Disney Company, Dow France, Total … Mit dem Ende der Veranstaltung stellt sich die Frage: Haben die Teilnehmer eine Gebühr von mehr als 1 500 Euro pro Person entrichtet, nur um sich diese Vorträge anzuhören? Wir greifen zum Telefon, um die Organisatoren zu fragen: „Uns war daran gelegen, die an den Verhandlungen Beteiligten aus Brüssel und Washington hierher einzuladen, damit jeder ihnen Fragen stellen kann“, erklärt Shéhérazade Semsar de Boisséson. „Wissen Sie, diese Leute haben nur wenig Gelegenheit, einander zu treffen.“
Gesponsert wurde die Veranstaltung unter anderem von den Lobbyfirmen Business Software Alliance (BSA) und Apco Worldwide. Von Letzterer liegt auch ein Prospekt aus: „Mit ihrer vertieften Kenntnis von Fragen im Zusammenhang mit dem bilateralen Handel konnten die Teams von Apco bereits bei verschiedenen Freihandelsabkommen die Interessen ihrer Kunden erfolgreich geltend machen. […] Im Laufe der Jahre hat Apco solide Arbeitsbeziehungen mit wirtschaftspolitischen Experten aus europäischen Institutionen und nationalen Regierungen sowie aus Washington aufgebaut. Deshalb wissen wir genau, wie die für die Öffentlichkeit bestimmten Botschaften zu formulieren sind.“ Zwischen den Gesprächsrunden waren im Programm Kaffeepausen und „Networking“-Pausen vorgesehen sowie ein Mittagessen, zu dem die Presse nicht eingeladen war.
Während die Demonstranten die EU-Politiker mahnen, die Bevölkerung nicht mehr den Interessengruppen auszuliefern, warnt im Salon des Shangri-La der Generaldirektor von General Electric Europe, Ferdinando Beccalli-Falco, vor dem korporatistischem Denken, das den Fortgang der Verhandlungen bremsen könnte: „Wir sollten nicht zulassen, dass Einzelinteressen das Interesse der Allgemeinheit beeinträchtigen.“