Der gewitzte Herr Marx
Ein Kapitel aus der Konfliktgeschichte des Freihandels von Antoine Schwartz
Am 7. Januar 1848 hielt Karl Marx in Brüssel eine Rede über den großen Triumph, den die Anhänger des Freihandels 1846 mit der Abschaffung der Korngesetze (Corn Laws) in England errungen hatten.1 Unterstützt von den Industriellen, hatten die Freetraders um die Zustimmung des Volkes geworben, indem sie die Privilegien des Landadels anprangerten und den Arbeitern Glück und Wohlstand versprachen.
„Billiges Brot, höhere Löhne […] das ist der alleinige Zweck, für welchen die Freihändler in England Millionen ausgegeben haben“, spottete Marx und erinnerte daran, dass der Freihandel „unter dem heutigen Gesellschaftszustand“ nichts anderes sei als „die Freiheit des Kapitals“. Allerdings wolle er mit seiner Kritik der Handelsfreiheit keinesfalls das Schutzzollsystem verteidigen, das den Interessen der Grundbesitzer diene. Im Gegenteil: Da der Freihandel den Wirtschaftskampf verschärfe, beschleunige er auch die soziale Revolution. „Und nur in diesem revolutionären Sinne“, erklärte Marx am Ende seiner Rede, „stimme ich für den Freihandel.“
In Frankreich stimmten zu jener Zeit nur wenige dafür. Der Staat war protektionistisch, und die Produzenten begnügten sich mit den Profiten im Inland. Den Binnenmarkt schützte eine prohibitive Gesetzgebung, die von einer mächtigen Zollverwaltung durchgesetzt wurde. Dagegen trat eine aktive Minderheit für den Freihandel ein: Schüler von Jean-Baptiste Say, Adam Smith oder David Ricardo und zahlreiche Geschäftsleute, die an der Öffnung der Märkte interessiert waren. Unter Federführung des Ökonomen Frédéric Bastiat wurde 1846 in Bordeaux eine „Vereinigung für Freihandel“ gegründet. Der schreibgewandte Republikaner stürzte sich voller Enthusiasmus in diesen Kampf, an dessen Spitze Richard Cobden, der Gründer der britischen Anti Corn Law League stand.
Ebenfalls 1846 gründete im Lager der Protektionisten Auguste Mimerel, ein reicher Spinnereibesitzer aus Roubaix, die „Vereinigung zur Verteidigung der nationalen Arbeit“. Beide Lager pflegten gute Beziehungen zur Presse und konnten sich jeweils auf altgediente Parlamentarier stützen, mit deren Hilfe sie die Volksmeinung zu beeinflussen versuchten.2
Die Freihändler stellten sich als Erben von 1789 dar: Handelsfreiheit als Fortsetzung der politischen Freiheit müsse die Modernisierung der Gesellschaft vorantreiben. Sie waren gegen administrative Zwänge, die jegliche Privatinitiative ersticken würden, und lehnten jede wirtschaftliche und soziale Einmischung des Staats ab. Wider die abstrakten Argumente der Freihändler stellten sich deren konservative Gegner als „Verteidiger der nationalen Arbeit“ dar und gaben sich als Anwälte der kleinen Produzenten und Arbeiter, die es vor den katastrophalen Folgen der Marktöffnung zu schützen galt.
In einem damals populären satirischen Roman3 erstickt ein Strickwarenhändler fast vor Empörung, als er von der „industriellen Untersuchungskommission“ gefragt wird, ob die Stoffe vielleicht von besserer Qualität wären, wenn man sie aus feinerer Wolle aus Spanien oder Sachsen spinnen würde: „Aber die frrranzösischen Schäfer, Monsieur le Président! Und die frrranzösischen Weiden! Und die frrranzösischen Hunde! Da sind meine Überzeugungen unverrückbar: Es leben die frrranzösischen Schafe!“
Im „Wörterbuch der politischen Ökonomie“4 rügte der Publizist Gustave de Molinari alle „prohibitionistischen Sophismen“, die gegen die löbliche Doktrin der „Handelsfreiheit“ ins Feld geführt würden. Der Freihandel werde eine ganze Nation unter das Joch des Auslands pressen? – Unfug, denn kein Land könne sich gänzlich isolieren. Mittels Zöllen ließen sich die Steuern für die nationale Produzenten senken? – Blödsinn, das System der Schutzzölle bestrafe vor allem Produzenten und Konsumenten, die mehr für Rohstoffe und damit für den eigenen Lebensunterhalt zahlen müssten.
Die Gegner des Freihandels beanspruchen außerdem, „die nationale Arbeit zu schützen, um den Rückgang der Arbeitsplätze und der Produktion durch den Druck der ausländischen Konkurrenz zu verhindern und den Arbeitern das Überleben zu garantieren“. De Molinari drehte den Spieß um: „Das Schutzzollsystem macht alles teurer und vermindert dadurch den Konsum, also die Produktion, also die Zahl der Arbeitsplätze.“ Dagegen sei Handelsfreiheit ein Synonym für billig, also würde sie den Konsum und mit ihm die Produktion ankurbeln.
Aber würde die Einführung der Handelsfreiheit nicht das gesellschaftliche Gleichgewicht gefährden? Für Molinari der Einwand eines Senilen: „Soll man auf neue Maschinen, neue Methoden, neue Ideen verzichten, weil sie die alten Maschinen, die alten Methoden, die alten Ideen gefährden?“ Jeder Fortschritt gehe mit einer Krise oder einer Störung einher, den Preis müsse man eben bezahlen.
Die Vertreter der jungen Arbeiterbewegung hatten für diesen Glaubenskrieg nicht viel übrig: Die Verteidiger der „nationalen Arbeit“ hatten das Gesicht der Reaktion, aber auch die Freihändler widersetzten sich jedem Fortschritt in der Sozialgesetzgebung.
Dann aber beschloss Napoleon III. ganz plötzlich und unerwartet, sein Land für den Freihandel zu öffnen. Der Kaiser wollte unbedingt die Industrie modernisieren. Der Aufschwung des Handels ging mit dem Ausbau des Transport- und Verkehrssystems einher. Die Öffnung würde die Verbraucherpreise und die Kosten einiger Rohstoffe senken und die Industrie anspornen, ihre Technik weiterzuentwickeln, redeten ihm die Apostel des Freihandels ein. Das waren vor allem die Brüder Émile und Isaac Péreire, die die Eisenbahngesellschaft Paris-Saint-Germain und den Crédit Mobilier gegründet hatten, und Michel Chevalier, ein früherer Anhänger Saint-Simons, der es zum Staatsrat und Hofökonomen des autoritären Regimes gebracht hatte.
Der Kaiser beauftragte einige Vertraute, unter größter Geheimhaltung ein Handelsabkommen mit England vorzubereiten, das am 23. Januar 1860 unterschrieben wurde. Weitere Verträge folgten. Gestützt auf das ländliche Frankreich, das von der Konkurrenz kaum betroffen war, konnte der Kaiser riskieren, die bonapartistischen Industriellen zu verärgern.
Michel Chevalier triumphierte. Für ihn war das Handelsabkommen die Fortsetzung der Französischen Revolution, die der Menschheit den Weg zur allgemeinen Aufklärung wies. Dank der Handelsfreiheit „kommen sich die Nationen zu ihrem Wohle näher; sie schütteln allmählich die engen Gedanken ab, [und] überwinden Vorurteile und Hassgefühle“. Und zwar nicht, um zu einer „monotonen und sterilen Einheit“ zu verschmelzen, sondern um zum allseitigen Vorteil „ihre Gefühle, ihre Ideen und die Produkte ihrer industriellen Arbeit auszutauschen“.
In allen Kontroversen über den Handel, die die französische Republik bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bewegten, bemühten sich die Sozialisten, eine ganz eigene ideologische Position einzunehmen. In einer Parlamentsdebatte erklärte Jean Jaurès, der Sozialismus schließe Freihandel wie Schutzzölle gleichermaßen aus: Das erste Prinzip sei nur „die internationale Form der Wirtschaftsanarchie“, während von dem zweiten nur „die Minderheit der Großgrundbesitzer profitieren“ könne.5 Jaurès forderte stattdessen eine Diskussion über die soziale Organisation der Produktion und die Frage der Besteuerung von Kapital, die von den Herrschenden verweigert werde.
Dem Protektionismus erteilte Jaurès aber keine Absage. Vielmehr erklärte er, wenn eine Nation die sozialistische Idee verwirkliche, werde sie zwar „zahlreiche und ständig engere Kontakte mit dem Ausland pflegen“, aber auf Produkte aus dem Ausland „nur insoweit zurückgreifen, als sie ihrer eigenen Entwicklung dienen könnten“. Das sollte heißen: erst nach maximaler Entfaltung ihrer inneren Produktivkräfte.