12.06.2014

Wärme in Russland

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Wärme in Russland

Das größte und älteste Heizungsnetz der Welt ist unterfinanziert und marode. Doch niemand saniert es von Régis Genté

Wärme in Russland
Info Kasten zu Wärme in Russland

Wenn im Winter die Temperaturen in der Hauptstadt auf minus 25 Grad sinken, tragen die Moskauer nur drinnen Unterwäsche oder leichte Sommerkleidung. In den Wohnungen ist die Hitze oft so erstickend, dass man durch einen Fensterspalt ein wenig eisige Luft hereinlassen muss.

Das städtische Fernwärmenetz, ein Erbstück der UdSSR, versorgt immer noch drei Viertel aller Haushalte in Moskau. Das Problem ist nur, dass sich die Temperatur in den Wohnungen nicht regeln lässt. Das größte und älteste Heizungsnetz der Welt wurde ohne große Rücksicht auf den sparsamen Verbrauch von Gas, Kohle oder Heizöl angelegt. Die Heizkraftwerke, die häufig an die Stromkraftwerke der Industriekombinate angeschlossen sind, verschlingen Unmengen fossiler Brennstoffe. Die Rohre, die den heißen Wasserdampf weiterleiten, wurden zwar unterirdisch, aber oft ohne jede Isolierung verlegt, was zu ungeheuren Energieverlusten führt. Auch am anderen Ende der Leitung, bei den Stadtplanern und Wohnungsbauern, stand Wärmedämmung nicht an erster Stelle. Das Ergebnis: Ein Drittel der in Russland produzierten Primärenergie geht für die Heizung drauf. Das Netz müsste dringend erneuert werden. Es ist veraltet und ineffizient, ständig gibt es Lecks, Haushalte drohen von der Versorgung abgeschnitten zu werden. Aber wie soll man diese riesige Infrastrukturmaßnahme finanzieren? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, und das liegt nicht nur an den hohen Kosten.

Heizung und Warmwasser ebenso wie alle anderen Dienstleistungen rund ums Wohnen gelten in Russland als Grundversorgung, ähnlich wie Gesundheit und Bildung. Seit Sowjetzeiten sind viele Bürger der Meinung, es sei die Aufgabe des Staates, jedem ein Dach über dem Kopf zu verschaffen und die kommunalen Dienstleistungen (Heizung, Wasser und Strom) günstig1 oder gar umsonst zur Verfügung zu stellen. Nach einer Studie des Allrussischen Meinungsforschungszentrums (WZIOM) von 2013 sorgen sich 58 Prozent der Befragten hauptsächlich um diese kommunalen Dienstleistungen. Sie haben auch allen Grund dazu: Anfang der 1990er Jahre gab ein russischer Haushalt durschnittlich nur 2 Prozent seines Einkommens dafür aus, heute sind es schon 8 bis 10 Prozent, in abgelegenen Regionen, wo die Löhne und Gehälter niedrig sind, noch mehr.

Das russische Gesetz legt fest, dass die Wohnnebenkosten 22 Prozent des Haushaltseinkommens nicht überschreiten dürfen. Alles, was diesen Betrag übersteigt, wird von der Allgemeinheit übernommen. In Moskau, einer sehr teuren Stadt mit einer sehr reichen Stadtverwaltung, wurde diese Grenze auf 10 Prozent herabgesetzt. Manche Bevölkerungsgruppen wie Rentner oder Kriegsveteranen genießen Vorzugstarife: Sie werden von den kommunalen Gebühren befreit, öffentlicher Nahverkehr, Gesundheitsversorgung und Medikamente sind für sie teilweise oder vollständig kostenlos. Die Leute hängen an diesen Errungenschaften: Im Jahr 2005 wollte die Regierung diese „Lgoti“ („Vergünstigungen“) genannten sozialen Sachleistungen durch eine monetarisierte Sozialhilfe ersetzen.2 Daraufhin gingen in etwa hundert Städten über 500 000 Menschen auf die Straße, um ihr System sozialer Dienstleistungen zu verteidigen. Es waren die ersten Massendemonstrationen seit 1991.

In Europa sind die meisten Menschen beunruhigt, weil sie einen wachsenden Anteil ihres Einkommens für den Kauf oder die Miete einer Wohnung aufwenden müssen. In Russland, wo die meisten Mieter nach 1991 einfach zu Wohnungseigentümern erklärt wurden3 , gelten alle Sorgen der Heizkosten-, Wasser- und Stromrechnung. „Wladimir Putin hat ein sehr wachsames Auge darauf, vor allem in den kleinen Provinzstädten, etwa in Sibirien. Dort lebt der Kern seiner Wählerschaft“, sagt der Soziologe Lew Gudkow, Direktor des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum.

Seit Ende der 1990er Jahre und dem ersten Amtsantritt von Präsident Putin im Jahr 2000 konnte Russland mit seinen Einkünften aus dem Verkauf fossiler Brennstoffe, deren Weltmarktpreis schnell anstieg, die Heizkosten in den Städten und weitere Unterstützungen für sozial Schwache subventionieren. Die Gebühren, die die Haushalte zahlen, decken nur zwei Drittel der tatsächlichen Kosten für die Produktion der Heimwärme. Die öffentliche Verwaltung stellt lieber mithilfe von Subventionen kurzfristig niedrigere Rechnungen aus, als in Energieeffizienz zu investieren und so die Kosten langfristig zu senken.

Die staatliche Sozialpolitik hat unbestreitbare Erfolge bei der Bekämpfung der Armut erzielt: Laut Lewada-Zentrum ist der Anteil der Russen, die nach eigenen Angaben von ihrem Einkommen nicht leben können, von 15 bis 20 Prozent Mitte der 1990er Jahre auf heute 5 bis 6 Prozent gesunken. Die staatliche Unterstützung vermag aber nur die Auswirkungen der Marktwirtschaft auf die ärmsten Bevölkerungsschichten abzumildern. An der exzessiven Privatisierungspolitik und dem bis zur Erstarrung durchbürokratisierten System ändert sie nichts.

Wer in Russland eine Rente oder eine Gesundheitsversorgung anstrebt, die diesen Namen auch verdient, muss ohnehin teure private Versicherungen abschließen. „Sicher hat Putin die Gebühren für kommunale Dienstleistungen erhöht“, erklärt die Politologin Maria Lipman vom Carnegie Moscow Center. „Aber seine rote Linie bleibt, die breite Wählerschaft nicht zu belasten, von deren Unterstützung er profitiert. Im Grunde erkauft er sich den sozialen Frieden.“

Die Privatwirtschaft, die im Jahr 2005 ein Viertel der städtischen Wärmeversorgung sicherstellte, träumt davon, mit solchen sowjetisch geprägten Rücksichtnahmen aufzuräumen und den Großteil der kommunalen Dienstleistungen an sich zu reißen. Die Finanzierung wollen die Unternehmen gern übernehmen, aber sie fordern mehr Gestaltungsspielraum bei den Gebühren. „Kein Investor will sein Geld in einem Sektor aufs Spiel setzen, wo er nicht selbst über den Preis entscheiden kann, zu dem er sein Produkt verkauft“, bemerkt Konstantin Simonow, Direktor des nationalen Fonds für Energiesicherheit, einer Beratungsfirma, die zahlreiche Studien zur russischen Wärmeversorgung durchgeführt hat. „Ein Geschäftsmann will wissen, in welcher Zeitspanne sich sein Einsatz rentieren wird.“ Schließlich geht es um große Summen, die investiert werden müssten: Nach einem offiziellen Dokument mit dem Titel „Russische Energiestrategie bis 2030“ sind zwischen 65 und 70 Prozent der Infrastruktur veraltet und 15 Prozent von akuten Havarien bedroht.

Seit den 1980er Jahren wurde nicht mehr großflächig in das Heizungsnetz investiert, und die letzte Finanzkrise hat die Lage noch verschlechtert: Die zur Modernisierung der Wärmeversorgung bereitgestellten Mittel wurden im Jahr 2007 halbiert und haben bis heute nicht mehr ihr ursprüngliches Niveau erreicht. Private Unternehmen erklären sich bereit, diese Investitionslücke zu füllen. Doch dann werden die Kosten unweigerlich auf die Bewohner umgelegt. Die russische Regierung sieht sich also zu einer heiklen Gratwanderung gezwungen, zwischen der Sorge um den Erhalt ihrer Wählerschaft, vor allem in der sibirischen Provinz, und der dringenden Notwendigkeit, einen veralteten Wirtschaftssektor zu modernisieren. Damit die Wähler nicht nervös werden, dürfen die Preise nur geringfügig steigen, für eine Modernisierung der Infrastruktur müssten sie aber kräftig erhöht werden.

Mit der Annahme des Gesetzes zur Wärmeversorgung im Juli 2010 hat der Kreml den Versuch unternommen, die staatliche Abgabenpolitik zu reformieren. Paragraf 9 schlägt vier verschiedene Möglichkeiten zur Tarifberechnung vor, um eine Balance zwischen Sozialverträglichkeit und Rentabilität der Investitionen zu finden. Für den Verbraucher sollen Zuverlässigkeit und Qualität der Versorgung verbessert und ein leichterer Zugang gewährt werden, denn nur so lassen sich die höheren Kosten rechtfertigen: Die Rechnung soll nämlich den Marktpreis widerspiegeln. Und den Unternehmen erlaubt das Gesetz, ihre Renditeerwartungen in die Preisberechnung einzubeziehen. Doch der Gesetzestext ist noch längst nicht in der Wirklichkeit angekommen.

Bei der Präsidentschaftswahl 2012, als Putin für eine dritte Amtszeit antrat, spielte die Wärmeversorgung wieder eine wichtige Rolle. Die Fälschungen bei den Parlamentswahlen im Dezember 2011 und die Unterdrückung der darauf folgenden Demonstrationen hatten einen Keil zwischen den Präsidenten und einen Teil der 143 Millionen Bürger Russlands getrieben. Als Putin spürte, dass sein solides Wählerfundament zu bröckeln begann, beschloss er, die konservativen Kräfte unter seinen Anhängern zu stärken. Außenpolitisch fand diese Entscheidung ihren spektakulären Ausdruck in der Ukrainekrise. Innenpolitisch vollzog der Herrscher des Kremls eine konservative ideologische Wende4 und begann, die materiellen Erwartungen seiner Wähler zu erfüllen, auch auf die Gefahr hin, die Liberalisierungsambitionen der Energieversorger auszubremsen.

Im Dezember 2011 rückte die Heizungsfrage anlässlich einer Ministerratssitzung zum Wohnungswesen auf der politischen Agenda wieder ganz nach oben. Putin studierte vor laufender Kamera mit misstrauischer Miene die Gebührenabrechnungen gewöhnlicher Haushalte, die man ihm vorgelegt hatte, und empörte sich, als er eine Erhöhung um 2 000 Rubel (40 Euro) „entdeckte“. Eine beträchtliche Summe in einem Land, in dem die Hälfte aller Einkommen im selben Jahr unter 530 Euro lag und Rentner sich oft mit weniger als 200 Euro im Monat begnügen müssen.

Kurz nach seinem fernsehgerechten Wutanfall schasste der Kremlchef mehrere Leiter öffentlicher Energiebetriebe. Die Regierung verabschiedete außerdem eine Verordnung, die alle Energieversorgungsunternehmen dazu verpflichtet, die Namen ihrer wirklichen Besitzer zu veröffentlichen, denn viele Firmen sind inzwischen in Steueroasen registriert.

Dieser Regierungsstil, den Lew Gudkow und andere Beobachter als Sozialkonservatismus oder Regierungspaternalismus bezeichnen, geht dennoch mit einer marktorientierten Politik einher. Wie Thane Gustafson, ein US-amerikanischer Experte für die postsowjetische Wirtschaft, schreibt, hat die russische Führung aus dem Chaos der 1990er Jahre den Schluss gezogen, dass „nicht das Privatunternehmen an sich verantwortlich ist, [sondern] die mangelnde Führung durch den Staat. Die Lösung besteht in einer pragmatischen öffentlich-privaten Partnerschaft, in der der Staat die Führungsrolle bei der Festlegung der Strategie einnimmt“. Putins Wirtschaftspolitik sei geprägt von einer „entschieden merkantilistischen, nationalistischen und patriotischen“ Vision.5

So wurde die russische Wärmeversorgung zum Teil privatisiert, aber profitieren konnten davon vor allem russische Unternehmen, die teilweise vom Staat kontrolliert werden: der öffentliche Gasriese Gazprom, der mehr oder weniger wie ein Privatkonzern funktioniert, Onexim und die Renova-Gruppe, die den Oligarchen Michail Prochorow beziehungsweise Wiktor Wekselberg gehören, und eine Vielzahl von Unternehmen im Besitz von Geschäftsleuten aus der Provinz, die teils von ihren Beziehungen zu gut positionierten Beamten profitieren konnten. Im Gegenzug „verbleiben zahlreiche nicht rentable Unternehmen im öffentlichen Besitz, sei es regional oder auf Gemeindeebene“, versichert Oleg Schein, ehemaliger Duma-Abgeordneter aus Astrachan und Mitglied der Leitung des russischen Gewerkschaftsdachverbands sowie der „Vereinigung der Einwohner“.6

Die Privatisierungen haben bislang jedenfalls nicht dazu beigetragen, die Geschwindigkeit der Modernisierung des Heizungsnetzes zu erhöhen. Gerade einmal ein Prozent des Netzes wird pro Jahr erneuert. Dabei drohen jetzt schon Pannen mit dramatischen Folgen, und die Bevölkerung zeigt sich immer unzufriedener mit ihrer Wärmeversorgung und mit den öffentlichen Dienstleistungen insgesamt.

Zum Teil sind die Missstände auch auf die Produktionsweise zurückzuführen. Die großen Stromkraftwerke sichern mit ihrer Abwärme etwa die Hälfte der Wärmeversorgung. Manche wurden nach 2003 privatisiert, und ihre Besitzer kümmern sich nicht um die Wärmeproduktion, weil sie weniger rentabel ist als die Stromproduktion. Die andere Hälfte des heißen Wasserdampfs stammt aus kleinen Heizkraftwerken, die an private Betreiber verkauft oder verpachtet wurden. Der Dampf läuft durch Rohre, die wiederum von Transport- und Vertriebsgesellschaften betrieben werden. Weil es auch hier an Investitionen fehlt, sind die Leitungen überdimensioniert und schlecht isoliert, wodurch ein Viertel der Wärme unterwegs verloren geht. In Finnland sind es beispielsweise nur 6 Prozent.

Auch die Leiter der in öffentlichem Besitz verbliebenen Heizkraftwerke beklagen den Investitionsstau, den sie auf ihre Abhängigkeit vom Nachschub zurückführen: „Das ist unser Hauptproblem. Wir sind abhängig von unserem Brennstofflieferanten und können nur darauf hoffen, dass dessen Profitgier auf höherer politischer Ebene gebremst wird“, berichtet Nikolai Birjukow, der im Rathaus von Mytischtschi, einer Großstadt im Nordosten Moskaus, für die kommunalen Dienstleistungen verantwortlich ist. „Im Endeffekt erzielen wir keinerlei Gewinn und können unsere Infrastruktur nur auf einem gerade noch akzeptablen Funktionsniveau erhalten“.

Schwitzen auf Staatskosten

Manche Energieunternehmen nutzen ihre marktbeherrschende Stellung, um die Heizkraftwerke gleich aufzukaufen: „Wenn Brennstofflieferant und Wärmeproduzent zur selben Firma gehören, haben sie keinerlei Interesse daran, den Energieverbrauch zu senken. Im Gegenteil, je mehr geheizt werden muss, desto höher der Verbrauch – und den bezahlen die Leute, sei es über Rechnungen oder über Steuern, aus denen die Heizsubventionen bestritten werden. Und desto höher auch die Profite der Unternehmen in dem Bereich“, schimpft Pjotr Falkow, ein Rentner, der sich durch sorgfältiges Studium seiner Gebührenabrechnungen zum Experten gemausert hat (siehe Kasten rechts).

Die lokalen Energieversorger, die sich zwischen Preisbindungspolitik einerseits und Rohstofflieferanten andererseits aufreiben, sehen sich zudem noch mit der Korruption unter Abgeordneten und Beamten konfrontiert. Anfang 2013 untersuchte Der Spiegel die Hintergründe des Mords an Michail Pachomow, einem aufsteigenden Star der Präsidentenpartei. Das Nachrichtenmagazin enthüllte, dass sich der junge Abgeordnete durch Schmiergeldzahlungen einen Großauftrag zur Erneuerung des Fernwärmenetzes in seiner Heimatstadt Lipezk für seine eigene Firma gesichert und damit Millionen Euro ergaunert hatte.7 Sein Leichnam wurde in einem Metallfass voller Zement gefunden. „Ein Grund dafür, dass man diesen Wirtschaftszweig unmöglich modernisieren kann, ist die Korruption“, sagt Michail Nikolski, der lange Zeit für den Energievertrieb in der Region Krasnojarsk verantwortlich war. „An einem Ort sorgt der Interessenkonflikt zwischen einem Abgeordneten und einem Gaslieferanten für überhöhte Preise, woanders schreibt der Chef der Vertriebsgesellschaft überhöhte Rechnungen für Ersatzrohre.“

Putins Wähler wollen nicht zahlen

Putin selbst beklagt regelmäßig diese Entwicklung und gibt nach medienwirksam inszenierten Wutanfällen unverzüglich Antikorruptionsuntersuchungen gegen ein paar kommunale Verwaltungschefs in Auftrag. „Das ist nicht nur Show“, erläutert die russische Büroleiterin von Transparency International, Elena Panfilowa. „Natürlich hat der russische Präsident eine stillschweigende Übereinkunft mit den Beamten, deren Zahl im Verlauf seiner Amtszeiten stark gestiegen ist.8 Er erlaubt ihnen, zu stehlen, wenn sie im Gegenzug loyal zu ihm stehen. Bei den Heizkosten hat er aber eine Grenze gezogen, die sie nicht überschreiten dürfen: Sie dürfen die kleinen Leute, die ihn wählen, nicht allzu sehr belasten. Mit anderen Worten, bei der Heizungsfrage muss er sich zwischen zwei Gruppen entscheiden, die beide treu zu ihm stehen.“

Wie soll man unter solchen Umständen die Energieeffizienz steigern, um künftig die Heizkostenrechnungen der Einwohner zu senken, und auch noch den Preis pro verkaufter Wärmeeinheit erhöhen? Das Gesetz vom 23. November 2009 zur Energieeffizienz schafft zumindest auf dem Papier die zwanzig Bedingungen dafür, dass die zentralen Heizkraftwerke weniger Primärenergie verschlingen. Neben der Optimierung durch Kraft-Wärme-Kopplung will man auch die Rohre isolieren, um die Leitungsverluste um zwei Drittel zu senken.

Manche Städte, wie Mytischtschi im Nordosten von Moskau, bauen ein neues Versorgungssystem mit Blockheizkraftwerken, in dem jedes Haus seinen Verbrauch selbst regeln kann. Der Umbau kostet ungefähr 100 000 Euro pro Gebäudeblock, aber die Investition soll dann die Bewohner dazu bringen, Energie zu sparen. Konstantin Simonow ist enttäuscht, dass sein schöner Optimierungsplan so wenig Begeisterung hervorruft: „Selbst wenn sich die Investitionen relativ schnell amortisieren werden, ist das noch zu viel für unsere postsowjetische Mentalität. Die Russen fragen sich, warum sie ihr Geld rausrücken und sechs oder sieben Jahre lang höhere Rechnungen zahlen sollen, auch wenn die dann später wieder sinken, denn ihrer Meinung nach sollte Heizung eigentlich gratis sein.“ Der Experte des nationalen Fonds für Energiesicherheit schlägt daher vor, Anleihen auf Infrastrukturmaßnahmen auszugeben, um mehr Gelder als im Haushaltsplan vorgesehen einzuwerben. Diese Idee wird seit bald fünfzehn Jahren diskutiert – ohne Ergebnis.

Um den Widerspruch aufzulösen zwischen einem „privatisierten Wirtschaftssektor und Unternehmen, die gar nicht investieren können“, wie es Nikolai Birjukow von der Gemeindeverwaltung Mytischtschi formuliert, hat man auch neoliberale Rezepte wie etwa Public-private-Partnerships oder Konzessionssysteme, in denen öffentliche Hand und Privatwirtschaft zusammengebracht werden, ins Auge gefasst. Aber auch die sind über das Projektstadium nicht hinausgekommen.

Innerhalb der russischen Führung hat man inzwischen auch erkannt, dass die im Westen durchgeführten Privatisierungen Städte und Gemeinden in Abhängigkeit von den marktbeherrschenden Unternehmen gebracht haben. Die Privatisierung der Infrastruktur garantiert noch lange nicht ausreichende Investitionen, wie etwa der Fall der britischen Eisenbahn oder die Vergabe der städtischen Wasserversorgung an Großkonzerne in Frankreich gezeigt haben. Andererseits tritt ein Teil der russischen Elite, angeführt von Premierminister Dmitri Medwedjew, mit Verweis auf den Klimawandel plötzlich für weniger staatliche Lenkung und wirtschaftsliberale Reformen im Energiesektor ein. Beispielsweise wollte Medwedjew mit seinem Modernisierungsprogramm von 2009 die Wettbewerbsfähigkeit der russischen Wirtschaft erhöhen, indem er das ehrgeizige Ziel einer 40-prozentigen Verbesserung der Energieeffizienz bis 2020 festsetzte.

Da die russische Wirtschaft gerade schwächelt und der Präsident auf keinen Fall seine Unterstützung im Volk verlieren möchte, muss die Modernisierung der städtischen Heizungsnetze eben noch ein bisschen warten. Und die russischen Stadtbewohner dürfen noch einige Winter bei minus 20 Grad schwitzen und beten, dass die Heizung nicht ausfällt.

Fußnoten: 1 Jane R. Zavisca, „Housing New Russia“, Ithaca (Cornell University Press) 2012. 2 Vgl. dazu etwa www.aktuell.ru/russland/politik/demos_vor_der_duma_zur_sozialdebatte_2266print.html oder ausführlicher http://library.fes.de/pdf-files/id/02854.pdf. 3 Gesetz vom 4. Juli 1991 zur Wohnungsprivatisierung. 4 Siehe Jean Radvanyi, „Putins großes Spiel“, in: Le Monde diplomatique, Mai 2014, und den Text von Jean-Marie Chauvier auf Seite 11. 5 Thane Gustafson, „Wheel of Fortune: The Battle for Oil and Power in Russia“, Cambridge, Massachusetts (Belknap Press) 2012. 6 Siehe den Beitrag „The Political Metamorphosis Of Oleg Shein“ auf Radio Free Europe/Radio Liberty: www.rferl.org/content/political_metamorphosis_of_oleg_shein/24558401.html. 7 Matthias Schepp, „Der Stolz Russlands“, in: Der Spiegel, 27. März 2013: www.spiegel.de/spiegel/print/d-91675509.html. 8 Zwischen 2000 und 2012 ist die Zahl der Beamten von 1,16 auf 1,57 Millionen gestiegen (Quelle: Rosstat). Aus dem Französischen von Sabine Jainski Régis Genté ist Journalist.

Abrechnung in „Schkch“

Am 3. Februar 2011 erlebte der 71-jährige Rentner Pjotr Falkow seine große Stunde. Denn er hatte einen Auftritt in „Schkch“, einer Sendung rund um das Thema Wohnen, die von der Schauspielerin Jelena Proklowa moderiert wird. Falkow klagte an. Er zeigte mit dem Finger auf die anwesenden Abgeordneten und Beamten und sprach: „Es gibt nur einen einzigen Paragrafen im Wohnrecht, in dem steht, dass ich meine Abrechnungen bezahlen muss. Und das ist der Paragraf 153.“ Die Hausfrauen im Publikum, die mit ihren Unterlagen ins Studio gekommen waren, spendeten Falkow tosenden Applaus, woraufhin der ehemalige Ingenieur nachlegte und weitere Paragrafen aus dem Gedächtnis zitierte.

Falkow sei ein typischer Amateurjurist, erklärt die Politologin Hélène Richard, die an einer Doktorarbeit über das kommunale Wohnungswesen in Russland arbeitet. Er habe seine Rechnungen überprüft, und da seien ihm eben merkwürdige Dinge aufgefallen. Jemanden wie Pjotr Falkow nennt man in Russland einen „engagierten Mann“. „Nach der Protestwelle von 2005 haben weniger spektakuläre Aktionen den Staffelstab übernommen. Einzelne oder in kleinen Gruppen organisierte Bürger berufen sich auf ihr Recht und nutzen die Gerichte, um mehr Transparenz in die Abrechnung ihrer Nebenkosten zu bringen“, erklärt Richard.

Man kann Falkow kaum folgen, wenn er einem die Feinheiten der russischen Heizkosten-, Wasser- oder Stromabrechnung erläutert. „Wer das verstehen soll, muss verrückt werden. Alles ist absurd und widersprüchlich, und zwar aus gutem Grund, denn in Wahrheit wird alles versteckt, damit man es nicht nachprüfen kann“, erklärt er uns mit blitzenden Augen. Er freut sich schon darauf, uns ein paar seiner Entdeckungen zu zeigen und damit die Lügen der Tschinowniki (Beamten) zu entlarven, die einer Erzählung von Gogol entsprungen sein könnten.

Jenseits der Gesetze und Vorschriften stieß Falkow auf eine Welt, wo Verluste, die eigentlich der Nachlässigkeit von Bürokraten oder Energieversorgern geschuldet sind, den Mietern aufgebürdet werden und wo das ganze Verfahren es schier unmöglich macht, die individuellen Kosten nachzuvollziehen.

Warum steckt er so viel Energie in die Interpretation seiner Heizkostenabrechnung? Weil er nicht möchte, dass seine Mitbürger im „gesellschaftlichen Infantilismus stecken bleiben“, sagt Falkow, den Schalk im Nacken. Er hat zwar keinen Verein gegründet, aber inzwischen ist rund um Falkow und seine Mitstreiter ein informeller Zirkel entstanden. Gemeinsam haben sie sogar schon Prozesse gewonnen, die eigentlich von Anfang an als verloren galten. Régis Genté

Le Monde diplomatique vom 12.06.2014, von Régis Genté