12.06.2014

Die Wiederentdeckung Eurasiens

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Die Wiederentdeckung Eurasiens

Putin erhebt eine alte Idee zur geopolitischen Doktrin von Jean-Marie Chauvier

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Am 29. Mai gründeten Russland, Weißrussland und Kasachstan die Eurasische Union, die im Januar 2015 in Kraft treten soll. Das Zusammenrücken der wichtigsten Länder der ehemaligen Sowjetunion ist Teil des strategischen Konzepts, Russland wieder als regionale Vormacht zu etablieren. Das Projekt erfährt in der russischen Öffentlichkeit breite Zustimmung. Diese nährt sich aus – unterschiedlich motivierten – nationalistischen Ideologien, auf deren Klaviatur Präsident Putin geschickt und variabel zu spielen versteht. Die einflussreichste Ideologie stammt von dem 52-jährigen Philosophen Alexander Dugin, der eine Theorie des „Eurasismus“ entworfen hat.

Diese ideologische Strömung, die auf die Größe Russlands abhebt, hat eine lange und widersprüchliche Geschichte. Entstanden ist der Eurasismus im Gefolge der Revolution von 1917 unter einer Generation von Emigranten. Damit rekurriert Dugin auf „eine persönliche Erfahrung: die Ablehnung Europas“, wie die Historikerin Marlène Laruelle schreibt. Diese Ablehnung habe sich in einem doppelten Bruch artikuliert: in der Absage an den Monarchismus und an den westlichen Verfassungsstaat (vor dem Hintergrund des bolschewistischen Experiments).1

Den Emigranten ging es vor allem darum, auf dem besonderen, östlichen Charakter des russischen Wegs zu bestehen. In den 1930er Jahren betonten die Linguisten der Prager Schule, Nikolai S. Trubetzkoy und Roman Jacobson, die Verbundenheit Russlands mit Asien, seine komplexe Ethnogenese aus dem Kontakt mit finnougrischen, turkotatarischen Völkern in der Zeit des mongolischen Reichs der Goldenen Horde. Anfang der 1940er Jahre schlagen sich die Eurasier der Emigration auf die Seite der Sowjetunion. Damit endete die erste Phase des Eurasismus.

Wiederentdeckt wurde das Thema erst in den 1950er Jahren von Lew Gumiljow (1912–1992), dem Sohn der Dichterin Anna Achmatowa und des 1921 wegen eines „monarchistischen Komplotts“ exekutierten Nikolai Gumiljow. Der Ethnologe hatte nach seiner Lagerhaft von 1949 bis 1956 die Kulturen der Turkvölker Mittelasiens studiert und meinte eine turkoslawische Schicksalsgemeinschaft entdeckt zu haben. Gumiljows Schriften, die in der Sowjetunion verboten war, fanden während der 1990er Jahre in Moskau reißenden Absatz. Die Eurasische Universität in der kasachischen Hauptstadt Astana trägt sogar seinen Namen. Doch erst in der Version von Dugin gewann der Eurasismus – genauer: der Neoeurasismus – an Einfluss, indem er in die Rhetorik Putins aufgenommen wurde.

Bis es so weit war, hatte die Ideologie mehrere Etappen durchlaufen. Eine der wichtigsten war die Entstehung der Nationalbolschewistischen Partei Russlands (NBP), die nach ihrer 1992 erfolgten Gründung durch den Schriftsteller Eduard W. Limonow2 zum Sammelbecken der „Rotbraunen“ wurde.

Eine Allianz der Gegensätze stellt auch die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) dar.3 Der Staatspatriotismus wurde nach 1991 zur wichtigsten ideologischen Alternative für diejenigen, die zwar das Ende der UdSSR zur Kenntnis nahmen, den vorherrschenden Ultraliberalismus aber nicht akzeptieren wollten. Hauptträger dieser Ideologie wurde die Nationalpatriotische Front innerhalb der KPRF. Sie schaffte es, die Oktoberrevolution ebenso zu feiern wie die Versöhnung von Roten und Weißen (Kommunisten und Zaristen), sich auf den Marxismus zu beziehen und zugleich der orthodoxen Kirche anzunähern, Joseph Stalin zu rehabilitieren und „Respekt für die Demokratie“ einzufordern, bei der Protestbewegung gegen Putin mitzumachen und die prowestliche Orientierung zu bekämpfen.

Auch in der NBP traten die Widersprüche immer häufiger zu Tage, zumal ihr Gründer Limonow ein Außenseiter ist: Der Pionier der neuen erotischen Literatur ist alles andere als ein Konservativer und engagiert sich eher für die musikalische Subkultur der „Metalisty“. Die NBP wurde 2005 verboten; danach schloss sich Limonow dem Oppositionsbündnis Das Andere Russland an.

Alexander Dugin, Protagonist eines „Nationalbolschewismus ohne Limonow“, rief 2011 die Eurasia-Bewegung ins Leben, der orthodoxe Christen, Muslime und Juden angehören. 2012 publizierte er seine „Vierte politische Theorie“4 , in der er Kommunismus und Faschismus für gescheitert erklärt. Deshalb habe die dritte Theorie, der Liberalismus, triumphiert, was aber weder das „Ende der Geschichte“ noch der Ideologien bedeute. Dugins Konzept eines „aktiven Konservatismus“ ist antirationalistisch und antidemokratisch, denn die Eliten legitimieren sich ja aus ihrer Spiritualität. Es verachtet den Liberalismus, verweigert sich dem Fortschrittsgedanken und rechtfertigt den starken Staat (im Sinne Carl Schmitts).

Dugin verweist auf den klassischen Gegensatz zwischen einer maritimen Macht (Thalassokratie), sprich dem Atlantischen Bündnis, und einer Landmacht, sprich Eurasien mit dem Herzstück Russland. Im Zentrum seiner Kritik steht die angemaßte Universalität des westlichen Modells und die „exogene Modernisierung“, die nur ein Vorwand für Sklaverei, Kolonialismus und Rassismus sei. Als großen Gegenspieler sieht er die „Tradition“ (Religion, Hierarchie, Familie) im Sinne einer konservativen Revolution.

Ganz in diesem Sinne äußerte sich Dugin am 31. Mai 2014 als „Stargast“ einer streng abgeschirmten Konferenz im Stadtpalais des Fürsten Liechtenstein zu Wien, die von dem russischen Oligarchen Malofejew finanziert wurde. Dabei propagierte er vor Rechtsradikalen, christlichen Fundamentalisten, Monarchisten und Unternehmern aus ganz Europa, die der Gründung der „Heiligen Allianz“ vor 200 Jahren gedachten, ein „europäisch-asiatisches Bündnis unter Führung Russlands“.5

2013 veröffentlichte Dugin seine Gespräche mit Alain de Benoist als Buch. Seine erste Diskussion mit dem Vordenker der französischen Neuen Rechten hatte Dugin bereits 1992 in Moskau geführt. Weitere Teilnehmer waren damals Robert Steuckers, ein Theoretiker der belgischen Neuen Rechten, sowie der Vorsitzende der KPRF Gennadi Sjuganow und dessen Genosse Alexander Prochanow, Chefredakteur der Zeitschrift Djen. Das KP-Blatt hatte gerade ein gefälliges Interview mit dem Chef der Wallonischen Legion (ab 1944 SS-Division „Wallonien“), Léon Degrelle, veröffentlicht.

Zu dem destruktiven Chaos, in dem der „Dritte Weg“ damals in Russland versank, trugen noch andere nationalistische, ethnizistische, identitätspolitische, antisemitische und russozentrische Bewegungen bei. In diesem Lager herrschte der Glaube, die Revolution von 1917 sei das Werk von Juden und anderen Fremden gewesen, und die UdSSR habe Russland den Aufbau nationaler Institutionen verwehrt, die man nichtrussischen Volksrepubliken zugestanden habe. Und selbst in der Russischen Föderation sei der rossijanin, der russische Staatsbürger, nicht identisch mit dem russkij im ethnischen Sinn. Logischerweise wurde „Russland den Russen“ zum Slogan der „Russischen Märsche“, die seit 2005 jeden 4. November von der extremen Rechten initiiert werden und die immer wieder in mörderische Hetzjagden auf Immigranten umschlagen.

Der Vorsitzende der Partei Heimat (Rodina), Dmitri Rogosin, von 2008 bis 2011 auch ständiger Vertreter Russlands bei der Nato in Brüssel, formulierte 2006 die eingängige Botschaft: „Die nationale Idee führt das russische Volk in seinen natürlichen Zustand zurück: Herr seiner selbst zu sein.“ Dieser russische Ethnizismus erinnert in gewisser Weise an die Neonazis in der neuen Kiewer Regierung, die sich direkt in die Tradition der ukrainischen Nazikollaborateure und der Waffen-SS stellen.6

Von solchen Tendenzen grenzt sich der Neoeurasismus allerdings inzwischen deutlich ab. Er gibt sich eher messianisch und offen und wirbt, über den eurasischen Raum hinaus, für eine transkontinentale Allianz der „Traditionen“ – bei aller Anerkennung der Unterschiede. Das „Große Europa“ darf dieser Allianz beitreten, nachdem es sich von der amerikanischen Bevormundung befreit hat.

Dugin hat also seine anrüchigen Freunde abgestoßen und sein Denken den ideologischen Erfordernissen der Putin-Ära angepasst. Der neue, von Putin verkörperte Staatskonservatismus will den ethnizistischen Nationalismus überwinden und den Kommunisten den „Patriotismus“ entwenden.7 Die neoeurasische Ideologie bietet sich als Kitt für die angestrebte Synthese an. Wenn Putin als Verteidiger von Familie, christlicher Moral und sexueller Sittlichkeit auftritt, bezieht er Positionen, die den Anhängern des Neoeurasismus sehr zusagen.

Wie stark Dugin den Kurs des Kreml beeinflussen kann, ist schwer zu beurteilen. Dugin selbst brüstet sich jedenfalls mit seinen engen Verbindungen zum Machtzirkel. Vera Nikolski, die über die NBP und den Neoeurasismus geforscht hat8 , weist darauf hin, dass einige von Dugins Bewunderern der Partei Einiges Russland und dem engeren Kreis um Präsident Putin angehören. Das gilt etwa für den patriotischen Starjournalisten Michail Leontjew, den Politikwissenschaftler Sergei Markow (seit 2007 Abgeordneter in der Staatsduma) und den Fernsehmoderator Iwan Demidow, der in der Partei für ideologische Fragen zuständig ist. Dugin durfte erstmals 2000 im Kreml vorsprechen. Seitdem verteidigt er die Linie des Präsidenten und beglückwünscht Putin, dass er näher an das „Volk“ – sprich an Dugin – herangerückt sei.

Konkret geht es bei der Eurasischen Union vor allem um den gemeinsamen Markt, der 80 Prozent des ökonomischen Potenzials auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion umfasst. Aber diese Union soll zugleich Eurasien in all seinen kulturellen Facetten repräsentieren: den slawischen, finnougrischen, turkmenischen und armenischen. Weshalb der muslimische Ideologe Geidar Dschemal schon von einer „Totgeburt“ spricht.9 Dugin hingegen ist überzeugt, dass Putin ein höheres, geopolitisches Ziel vor Augen hat: „die Schaffung einer supranationalen Einheit auf dem Gebiet des nördlichen Eurasien, die auf kultureller Zusammengehörigkeit beruht“.

Diese hochtrabenden Visionen vom Wesen Russlands gehen an den Problemen Hunderter Millionen eurasischer Einwohner vorbei. Aber das stört Dugin nicht, denn er will nur die Führungseliten erreichen. Der Einfluss der Neoeurasisten beschränkt sich auf diese Kreise und läuft über Netzwerke, die sich auf etwa zwanzig Länder erstrecken, wo sie mit der geballten US-amerikanischen Überzeugungsindustrie konkurrieren.

Die Eurasisten offerieren den Machthabern in diversen Hauptstädten Eurasiens ein breites Angebot an Ratschlägen, wie man dem Vordringen des westlichen Modells entgegentreten könnte – also dem, was die Eurasisten als „Anakonda-Strategie“ der USA bezeichnen. Wobei sie davon ausgehen, dass Washington nach der „Orangen“ und der „Rosen-Revolution“ und erst recht nach dem jüngsten „Staatsstreich“ in der Ukraine bereit wäre, den Russen auch mit militärischen Mitteln den Hals zuzudrücken.

Von der Annahme ausgehend, dass die kulturelle Grenze durch die Ukraine verläuft und dass der russische Hass gegen den Westen ein ehernes Faktum ist, halten die Eurasien-Ideologen die Teilung des Nachbarlands für eine realistische Perspektive. In diesem Sinne hat Dugin nach der von ihm bejubelten Annexion der Krim am 18. März einen „Russischen Frühling“ verkündet und gefordert: „Moskau muss Truppen in die Ukraine entsenden.“ Dabei verwendete er das Wort „Noworossija“ (Neurussland) – eine historische Bezeichnung für die südliche und östliche Ukraine, die aus dem 18. Jahrhundert stammt und von Putin am 17. April sogleich übernommen wurde.

Aber Dugin zieht auch eine alternative Strategie in Betracht: Man müsse sich den harten nationalistischen Kern in der Westukraine vornehmen, den das liberale Europa unweigerlich ablehnen werde. Dann könne man diese „Ultras“ dazu bringen, ihre Russophobie zugunsten des „kleineren Übels“, der eurasischen Idee, aufzugeben.

Dieses Kalkül ist nicht aus der Luft gegriffen. Bei den Aufmärschen der Fundamentalisten, sowohl der russisch-orthodoxen wie der unierten ukrainischen Kirche, wird gleichermaßen gegen das degenerierte und „der Sodomie verfallene“ Europa gewettert. Die Gleichberechtigung von Homosexuellen in Westeuropa, Pussy Riot oder die Kiewer Gruppe Femen stoßen diese Traditionalisten vor den Kopf.

Die Vorstellung, Russland sei eine belagerte Festung, ist offenbar eine momentane Überreaktion. Dieser „Ruf zu den Waffen“ zielt auf die Bildung einer Koalition starker – slawischer und islamischer – Staaten. Im Verein mit einem möglichen Verbündeten China könnte man damit auf die Bedrohung durch den Westen wie durch die „Terroristen“ aus dem Süden reagieren. Der Eurasien-Ideologe Waleri Korowin schrieb Anfang 2014: „Der Krieg gegen Russland hat bereits begonnen.“10

Fußnoten: 1 Marlène Laruelle, „La triangulaire ‚Russie‘, ‚exil russe‘, ‚culture d’accueil‘: le prisme occidental inassumé de l’eurasisme“: russie-europe.ens-lsh.fr/article.php3?id_article=51. Siehe Alexander Höllwerth, „Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin. Diskursanalyse zum postsowjetischen Rechtsextremismus“, Stuttgart (Ibidem) 2007. 2 Vgl. Emmanuel Carrère, „Limonow“, Berlin (Matthes & Seitz) 2012. 3 Die KPRF wurde 1990 gegründet, im August 1991 nach dem versuchten Putsch gegen Gorbatschow verboten und 1993 neu gegründet. 4 Alexander Dugin, „Die Vierte politische Theorie“, Wien (Aurea Aetas) 2013. 5 An der Konferenz nahmen Vertreter des Front National und der bulgarischen Ataka teil, die FPÖ repräsentierte Parteichef Heinz-Christian Strache. Siehe Tagesanzeiger (Zürich), 3. Juni 2014. 6 Die Partei Swoboda und andere nationalistische Gruppen der Westukraine gedenken jedes Jahr am 28. April der Toten der SS-Division „Galizien“. Siehe: Emmanuel Dreyfus, „Stramm national in der Ukraine“, Le Monde diplomatique, März 2014. 7 Irina Scherbakowa, „Stalin starb gestern. Unter Putin werden die Geschichtsbücher erneut umgeschrieben“, Le Monde diplomatique, Mai 2013. 8 Vera Nikolski, „National-bolchevisme et néo-eurasisme dans la Russie contemporaine“, Paris (Mare & Martin) 2013. 9 Artogeia, Moskau, 12. August 2013. 10 Waleri Korowin, „Udar po Rossii. Geopolitika i predchuvstvie vojny“ („Anschlag auf Russland. Geopolitik und Vorahnung eines Krieges“), St. Petersburg (Piter) 2014. Aus dem Französischen von Dirk Höfer Jean-Marie Chauvier ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 12.06.2014, von Jean-Marie Chauvier