Die Frauen von Saskatchewan
Kanadas Indigene im Kampf gegen die Ausbeutung ihrer Reservate von Philippe Pataud Célérier
Eat the rich!“ Ein Dutzend Demonstranten stehen vor dem neueröffneten Restaurant Pidgin in Downtown Eastside, der „ärmsten Postleitzahl Kanadas“. Das alte Viertel im Zentrum von Vancouver wird von zwei großen Verkehrsadern durchzogen, der Main und der Hastings Street, die man hier „Pain and Wastings“ („Leid und Verfall“) nennt. Um die tausend Obdachlose, die meisten sind Indigene, sieht man hier täglich mit verängstigtem Blick und wie aufgezogen hinter ihren Einkaufswagen um die heruntergekommenen Wohnblocks ziehen. Gleich nebenan liegen die Touristenviertel Gastown und Chinatown.
Drogen, Alkohol, Prostitution – das soziale Elend der Indianer ist in fast jeder kanadischen Großstadt unübersehbar. Ihre Arbeitslosenquote ist doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt (15 Prozent), die Frauen sterben mit 76,6 Jahren fünf Jahre früher als der Durchschnitt, bei den Männern mit 68,9 Jahren sind es sogar neun Jahre.1
„Idle No More!“ („Nicht länger tatenlos!“), rufen die Demonstranten. Diesen Slogan, der sich gegen die Regierung des konservativen Premierministers Stephen Harper richtet, hört man dieser Tage vom Atlantik bis zum Pazifik auf jeder Kundgebung. „Gestern haben sie uns unser Land genommen, heute enteignen sie uns. Und morgen?“, fragt Karen, die zum indianischen Volk der Salish gehört.
Das kanadische Verfassungsgesetz von 1982 erkennt drei große autochthone Gruppen an: Die „First Nations“, also Nordamerikas indianische Völker, die Métis – das sind die Nachfahren von europäischen Pelzhändlern und Frauen indianischer Abstammung – sowie die Inuit. 2011 waren von den insgesamt 1,4 Millionen Ureinwohnern Kanadas 61 Prozent First Nations, 32 Prozent Métis und 4 Prozent Inuit, die restlichen 3 Prozent sind andere Ethnien. Insgesamt machen die Ureinwohner 4,3 Prozent der kanadischen Bevölkerung aus.2
Die Protestbewegung Idle No More wurde 2012 von vier Frauen aus der Prärieprovinz Saskatchewan gegründet: Sylvia McAdam, Jessica Gordon, Nina Wilson und Sheelah McLean. Auslöser des Protests waren die Gesetze Bill C-45 und Bill C-38, die am 14. Dezember 2012 ohne viel Federlesen verabschiedet worden waren: Bill C-45 modifizierte den „Indian Act“ von 1876 insofern, als der Staat seither ohne Zustimmung der Ureinwohner die Böden in den Reservaten pachten oder kaufen kann. Und die Bill-38 schränkt den Naturschutz für schiffbare Gewässer auf 97 Seen und 62 Flüsse ein, das sind weniger als ein Prozent der gesamten Süßwasserflächen Kanadas.
Die Gesetze sollen das Land für ausländische Investoren noch attraktiver machen und ihnen Zugang zu den gewaltigen Mengen an Erdöl verschaffen, die sich aus Ölsanden gewinnen lassen.3 Die Vorkommen liegen genau dort, wo sich einst die Ureinwohner aus dem Süden niedergelassen haben, nachdem sie von den europäischen Siedlern vertrieben worden waren. Und mit der Aussicht auf enorme Gewinne verschärft sich die Frage, wer das Recht auf Grund und Boden hat.
„Die Verträge, die mit den autochthonen Völkern in Kanada geschlossen wurden, hatten vor allem zum Ziel, sie dazu zu bringen, ihre territorialen Rechte aufzugeben. Im Gegenzug erhielten sie winzige Reservate zugeteilt, die durch den Indian Act streng reglementiert waren“, erklärt Jean Leclair, Juraprofessor von der Universität Montreal.4 Bereits vor Inkrafttreten des Verfassungsgesetzes von 1982 wurden die „angestammten Rechte“ der Autochthonen zunehmend berücksichtigt. Allerdings mussten die Richter bei jeder territorialen Streitigkeit neu festlegen, wie die schwammige Formulierung „angestammte Rechte“ zu verstehen sein soll.
Die Oka-Krise von 1990 zeigte die Grenzen dieser vermeintlichen Rechtsgarantien auf. 78 Tage kämpften damals die Sicherheitskräfte von Québec und die hinzugezogenen Soldaten gegen die Mohawk-Irokesen aus Oka bei Montreal. Der Auslöser des Konflikts war die einsame Entscheidung des Bürgermeisters von Oka gewesen, einen Golfplatz auf Mohawk-Territorium und den dort gelegenen Ahnenfriedhof auszudehnen.
Die gleiche Wut treibt heute die Idle-No-More-Aktivisten an, deren Forderungen jedoch weit über die Landfrage hinausgehen. Theresa Spence, Stammesführerin des Cree-Reservats Attawapiskat im Norden von Ontario, ist eine der Galionsfiguren der Bewegung. Am 11. Dezember 2012 trat sie in den Hungerstreik, um auf die katastrophale Situation in Attawapiskat aufmerksam zu machen: unzuverlässige Trinkwasserversorgung, Arbeitslosigkeit, miserable Wohnverhältnisse und verwahrloste Schulen.
Knapp 100 Kilometer entfernt liegt auf dem Territorium der Cree die Edelsteinmine Victor, die seit 2008 der weltgrößte Diamantenproduzent, das südafrikanische Unternehmen De Beers, betreibt. De Beers wird mit der Mine voraussichtlich 6,7 Milliarden Dollar verdienen, das Reservat hat bisher 90 Millionen bekommen.
Hungerstreik gegen die doppelte Diskriminierung
Der Hungerstreik von Theresa Spence sorgte landesweit für Schlagzeilen. Die Idle-No-More-Bewegung bekam immer mehr Zulauf und organisierte Blockaden und Demonstrationen. Bemerkenswert ist, dass die Bewegung von Frauen getragen wird und nicht von der Versammlung der First Nations, die die insgesamt 617 vom kanadischen Staat anerkannten Stämme vertritt.
„Das ist gar nicht so nicht überraschend“, sagt Viviane Michel, eine Inuk, die die Vereinigung „Femmes autochtones du Québec“ leitet. „Die Frauen haben viel Unrecht erlitten. Jetzt fordern sie nur das, was ihnen zusteht. Sie können viel aktiver und kämpferischer sein, weil sie mit den diplomatischen Verbindungen, die den Handlungsspielraum der Clanchefs einengen, ohnehin nichts zu tun haben. Indigene Frauen sind in der Regel doppelt diskriminiert.“
„In den Negativstatistiken sind wir immer führend“, bestätigt Karen. „Sagt Ihnen der Name Robert Pickton etwas?“ Der 2002 verhaftete Serienmörder ist zum Symbol für frauen- und indigenenfeindliche Gewalt geworden. Im Jahr 2007 wurde Pickton wegen Mordes an sechs Frauen verurteilt, nachdem er zunächst sogar 49 Morde gestanden, seine Aussage dann aber wieder zurückgezogen hatte. Seine Opfer, zumeist Prostituierte aus Vancouver, wurden „zweimal im Stich gelassen, von der Gesellschaft und von der Polizei“, sagt der ehemalige Generalstaatsanwalt Wally Oppal, der von 2010 bis 2013 die Untersuchungskommission zu dem Fall geleitet hat. Die Kommission kam zu dem Ergebnis, dass bei der Polizei „negative Vorurteile und Verallgemeinerungen“ bestehen.5
Pickton mag ein extremer Fall gewesen sein, aber einzigartig war er nicht. Dutzende indigene Frauen und Mädchen wurden in British Columbia entlang des Highway 16, der den Beinamen „Highway der Tränen“ trägt,6 ermordet. Maryanne Pearce, Juristin an der Universität Ottawa, spricht von 880 Frauen und Mädchen, die in den letzten 40 Jahren verschwunden sind.7
Die Diskriminierung begann 1876 mit dem Indian Act. Jahrzehntelang verloren Indianerinnen, die einen Nichtindianer geheiratet hatten, all ihre Rechte und wurden aus ihren Gemeinden ausgeschlossen. Weder sie noch ihre Kinder konnten mehr Familienbesitz erben. In der Folge passten sich die seit jeher matriarchal und matrilineal organisierten indigenen Gesellschaften immer mehr den patriarchal geprägten Kolonialmächten an. „Wir dürfen nicht vergessen, dass die Frauen vor der Ankunft der Europäer wirklich etwas zu sagen hatten, sie haben die Entscheidungen gefällt“, erklärt die Ethnologin Carole Lévesque vom Institut national de la recherche scientifique (INRS) in Montréal.
In den 1970er Jahren sind viele dieser gesellschaftlich Geächteten in die Städte gezogen. „Die Frauen fanden Zuflucht in den Begegnungsstätten für Ureinwohner, die schon in den 1950er Jahren eingerichtet wurden“, berichtet Lévesque. „Dort wurden verschiedene Hilfsprogramme angeboten, zu Gesundheit, Bildung, Arbeit und so weiter. Die Frauen wurden unterstützt, sie eroberten sich öffentliche Räume, und manche rüsteten sich zum Kampf gegen die systematische Diskriminierung.“
1985 bekamen die Frauen mit der Bill C-31 ihre Rechte zurück. Dennoch hat sich ihre Situation in den Reservaten kaum gebessert. „Bodenknappheit, Überbevölkerung, Arbeitslosigkeit, Geldnot, Alkoholismus, Selbstmorde – die Lebensbedingungen für die Frauen sind schwierig. Wer kann, sucht sich eine Zukunft außerhalb des Reservats“, berichtet Alanis Obomsawin, eine Angehörige der Abenaki, die zuletzt einen Film über die Idle-No-More-Bewegung gedreht hat.8
Viele Kanadier glauben immer noch, die Ureinwohner würden „privilegiert“. Dabei sind nur die in Reservaten lebenden First Nations von Steuern und Abgaben befreit. Wie tief die Vorurteile immer noch sitzen, illustriert etwa ein Kommentar in der Quebecer Le Huffington Post, der den Indianern in den Reservaten unterstellt, sie würden „die Einnahmen aus den Bodenschätzen nur einkassieren, um sich damit ihren Müßiggang zu finanzieren“.9 Der Verfasser behauptete außerdem, es gebe keine sozialen Ursachen für die weit verbreitete Alkoholsucht.
Zu einem Umdenken könnte auch die Aufarbeitung der furchtbaren Zustände an den „Indianer-Internaten“ beitragen. „Wenn die Wahrheits- und Versöhnungskommission Licht ins dunkelste Kapitel der kanadischen Geschichte bringt“, hofft Viviane Michel, „wird das zu einem größeren Verständnis unserer Probleme führen.“ Von den 1880er Jahren an bis 1996 wurden 150 000 Kinder im Alter von 6 bis 16 Jahren ihren Familien weggenommen und in 139 staatliche Heime unter kirchlicher Aufsicht gesteckt. Das erklärte Ziel dieser Einrichtungen war, „den Indianer im Kind zu töten“, wie sich Premierminister Harper ausdrückte, als er sich 2008 im Namen des kanadischen Volkes bei den Opfern entschuldigte.
Mindestens 4 200 Kinder sind in diesen „Residential Schools“ durch Kälte, Entbehrungen und Misshandlungen ums Leben gekommen, an einigen wurden wissenschaftliche Versuche vorgenommen, und fast alle wurden sexuell missbraucht. Von den 70 000 Überlebenden sprechen heute viele zum ersten Mal über ihr Martyrium.
Bis Juni 2015 sollen ihre erschütternden Berichte zusammengetragen sein. Dass zwischen dem Eingesperrtsein in solchen Heimen und den Alkohol- und Drogenproblemen der Opfer ein Zusammenhang besteht, ist inzwischen allgemein anerkannt. Die schwere Traumatisierung, die indirekt auch auf die nachfolgende Generation übertragen wird, könnte auch die hohe Selbstmordrate erklären, die fünfmal (bei jungen Inuit sogar elfmal) so hoch liegt wie im Durchschnitt.10
„Den Ureinwohnern den Stolz darauf zurückzugeben, was sie sind und woher sie kommen, ist eines der großen Verdienste von Idle No More“, meint Alanis Obomsawin. Aber wird sie auch über die Parlamentswahlen im kommenden Jahr hinaus Bestand haben? Was ist, wenn die Bewegung durch die Abwahl Harpers ihren gemeinsamen Gegner verliert?
Viele fürchten, dass sie dann wieder auseinanderbricht. Alle 617 Stämme unter einen Hut zu bringen, ist schier unmöglich. Die Interessen und der jeweilige rechtliche Status liegen dann doch zu weit auseinander. „Die Protestbewegung muss jetzt eine Bewegung des sozialen Wandels werden“, meint die Historikerin Carole Lévesque. Die Aktivistin Viviane Michel ist optimistisch: „Im Moment verschaffen wir uns Gehör, sogar weit über Kanada hinaus. Diese große Unterstützung zeigt doch, dass sich schon etwas verändert hat, oder nicht?“