Datenbanken des alten Wissens
von Clara Delpas und Pierre-William Johnson
Bei Verhandlungen zum Schutz der Biodiversität wurden indigene Völker lange Zeit kaum beteiligt. Erst im Jahr 1992 hat die UNO in der Deklaration von Rio erklärt, dass ihnen „wegen ihres Wissens und ihrer überlieferten Bräuche eine grundlegende Rolle bei der Bewirtschaftung der Umwelt und der Entwicklung“ zukomme.1 Dem hat sich schließlich auch die internationale Wissenschaftsgemeinde angeschlossen. So unterstrich der im Jahr 2005 erschienene Abschlussbericht der großen UN-Studie „Millenium Ecosystem Assessment“2 die Relevanz solcher Überlieferungen, und der 5. Bericht des Weltklimarats (IPCC) vom März 2014 fordert explizit dazu auf, sie miteinzubeziehen.
Dank ihres tradierten Wissens konnten etwa die Moken und die Urok Lawai in Thailand, die Ong in Indien und die Simeulue in Indonesien den verheerenden Tsunami vom Dezember 2004 vorhersehen. Sie kannten die Geschichte vom „smong“ – einem Erdbeben, auf das ein Rückzug des Meeres unterhalb des üblichen Ebbepegels folgt – und zogen sich deshalb ins Landesinnere zurück. Ein anderes Beispiel sind die landwirtschaftlichen Gemeinden im Offintal in Ghana (Afrika), die ihre Wasserversorgung sichern, indem sie Regen- oder Waschwasser auffangen und Bäume so pflanzen, dass die Erosion des Bodens verhindert wird.
Die Erfassung des traditionellen Wissens folgt zunächst einem hehren Ziel: Man will verhindern, dass es verloren geht, und mit seiner Hilfe den Verlust der Artenvielfalt, Wüstenbildung, verschiedene Krankheiten und die Folgen des Klimawandels bekämpfen. Dafür hat die Unesco 2010 in Florenz das Internationale Zentrum für traditionelles Wissen (ITKNET) ins Leben gerufen. Das Herzstück dieses Projekts ist der Aufbau einer globalen Datenbank des traditionellen Wissens (Traditional Knowledge World Bank, TKWB), um es der wissenschaftlichen Community verfügbar zu machen. Der Inhalt der Datenbank ist urheberrechtlich geschützt und nur registrierten Nutzern zugänglich.
In den Überlieferungen finden sich Kenntnisse über eine ganze Reihe von Produkten und Substanzen – Fasern, Farb- und Konservierungsstoffe, Öle, Parfüme, tierische oder pflanzliche Gifte, Medikamente und Saatgut –, die für die Industrie interessant sind. Dementsprechend sind die Unternehmen sehr erpicht auf Patentschutz oder andere urheberrechtliche Maßnahmen (Intellectual Property Rights, IPR).
In der Ende 1993 verabschiedeten UN-Biodiversitätskonvention (Convention on Biological Diversity, CBD, Artikel 8, Absatz j) verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten – parallel zur völkerrechtlich nicht verbindlichen Rio-Deklaration –, „Kenntnisse, Innovationen und Gebräuche indigener und lokaler Gemeinschaften mit traditionellen Wirtschaftsformen, die für die Erhaltung und nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt von Belang sind“, zu achten, zu bewahren und zu erhalten, ihre „Anwendung im größeren Maßstab“ mit Billigung und unter Beteiligung ihrer Träger zu fördern sowie für eine „gerechte und ausgewogene Beteiligung an den Vorteilen, die sich aus ihrer Nutzung ergeben“, zu sorgen.3
Das überlieferte Wissen wird hier also als wirtschaftlich wertvolle Ressource anerkannt. Kurz darauf verordnete das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum (Trips) der Welthandelsorganisation (WTO) jedem Unterzeichnerstaat ein gesetzliches System zum Schutz geistigen Eigentums. Einige Länder des globalen Südens, indigene Völker und zahlreiche NGOs kritisieren seither, dass der Artikel 8j in den Ländern, in denen keine entsprechende Gesetzgebung existiert, praktisch den Gratiszugang zu genetischen Ressourcen und traditionellem Wissen legitimiere.
Bei der 4. Konferenz der Unterzeichnerstaaten der Biodiversitätskonvention 1998 in Bratislava wurde deshalb eine Arbeitsgruppe gegründet, die Expertisen zur Umsetzung des Artikels 8j liefern sollte. Zur gleichen Zeit verbündete sich die Weltorganisation für geistiges Eigentum (Wipo), die eigentlich Teil der UNO ist, mit der WTO, um die Gewinne aus geistigem Eigentum, das sich genetischen Ressourcen und traditionellem Wissen verdankt, auf „neue Zielgruppen“ wie die indigenen Völker auszudehnen. Doch diese verweigerten sich in großer Zahl einer solchen Herangehensweise und verließen häufig die Verhandlungen, da sie sich kein Gehör verschaffen konnten.
Einige Länder – wie Indien, China und Peru – begannen daraufhin nationale Datenbanken anzulegen, hauptsächlich um zu verhindern, dass Firmen missbräuchlich Patente erwerben (Biopiraterie oder „missbräuchliche Aneignung“ im UN-Sprachgebrauch).
Indien war das erste Land, das seine überlieferten Wissensbestände, die größtenteils seit mehreren Jahrtausenden in schriftlicher Form vorlagen, in eine Datenbank überführte. Das Land wollte sich damit vor Biopiraterie schützen, wie man sie seit den 1990er Jahren mehrfach erlebt hatte: Mit unrechtmäßigen Patenten auf Basmatireis, Kurkuma oder Niem hatten ausländische Firmen den Indern den Handel mit ihren ureigensten Produkten untersagt. „Im Jahr 2001 beschloss die Regierung, diese Wissensbestände den Patentämtern zur Verfügung zu stellen“, berichtet Vinod Kumar Gupta, Leiter der Traditional Knowledge DataBase Library (TKDL). So analysierte und erfasste man systematisch die Inhaltsstoffe der Pflanzen, die auf der Basis tradierten Wissens eingesetzt werden. 277 000 Einträge können die Patentprüfer bereits abrufen.
Ein probates Mittel gegen Biopiraterie
Mithilfe der Datenbank können strittige Fälle schnell geklärt werden. So ist es schon gelungen, missbräuchlich erworbene Patente, zum Beispiel für die Pharmaindustrie, zu löschen oder einzuziehen. Die Datenbank kostet weit weniger Zeit und Geld als ein Gerichtsverfahren: Gupta erinnert daran, dass „der Biopiraterie-Prozess um den Basmatireis zwischen 1996 und 2005 1,5 Millionen Dollar an Anwaltskosten verursacht hat. Mit der TKDL konnten in zehn Jahren 1 100 strittige Anträge geklärt werden, und der personelle Aufwand hat insgesamt nur 3 Millionen Dollar gekostet!“
Auch Peru hat 2002 damit begonnen, das bislang nur mündlich überlieferte Wissen zu archivieren. Solche nationalen Datenbanken machen Schule: Im März 2011 fand in Neu-Delhi eine internationale Konferenz der Wipo zum „Einsatz der TKDL als Modell zum Schutz traditionellen Wissens“ statt. Nur vor Hackerangriffen muss man sich noch besser schützen: „Es wurden schon mehrere Versuche entdeckt, illegal in unsere Datenbank einzudringen“, berichtet Gupta.
Tatsächlich gibt es jedoch noch ältere Datenbanken, die von NGOs oder wissenschaftlichen Institutionen aufgebaut wurden. Manche wollen ihre Erkenntnisse, die allen nützlich sein können, teilen, wie etwa die Plant Resources of Tropical Africa (Prota), die von einer gemeinnützigen Organisation in den Niederlanden angelegt wurde und den Einsatz von etwa 7 000 Pflanzen der afrikanischen Tropen für jedermann zugänglich im Internet dokumentiert. Das indische Netzwerk HoneyBee sammelt seit Anfang der 1990er Jahre von Bauern überliefertes Wissen und pflegt eine Datenbank über Medizinpflanzen. Und die Tekpad, eine Datenbank für traditionelles Umweltwissen, aufgebaut von der American Association for the Advancement of Science (AAAS), sammelt alle online und als Public Domain verfügbaren Publikationen über indigene Kenntnisse und den traditionellen Einsatz von Pflanzen.
Da sie bereits veröffentlicht sind, müssten die Inhalte solcher online verfügbaren Datenbanken eigentlich ausreichen, um missbräuchliche Patente zu verhindern. Doch die Vielzahl der Datenbanken – nach einer bis 2002 zurückgehenden, umfassenden Erhebung der Wipo gibt es mehr als hundert solcher Register – erschwert die systematische Nachverfolgung durch Patentprüfer.
2010 einigten sich die Vertragsstaaten der Biodiversitätskonvention im Nagoya-Protokoll, den Zugang und Vorteilsausgleich für genetische Ressourcen und traditionelles Wissen zu regeln (Access and Benefit Sharing, ABS). In diesem Protokoll wird zwar in Artikel 2 die Definition von „genetischen Ressourcen“ auf alle Derivate (Pflanzenextrakte) ausgedehnt, aber Artikel 7 weicht die Notwendigkeit einer „vorherigen, in Kenntnis der Sachlage erteilten Zustimmung“ der indigenen und lokalen Gemeinschaften auf, indem er den Staaten, denen diese Gemeinschaften angehören, das Recht überträgt, die Nutzung dieser Ressourcen zu genehmigen.
Bis heute verfügen gerade einmal ein Dutzend Länder über eine eigenständige Gesetzgebung, die den Zugang zu ihren traditionellen Wissensbeständen regelt. Da es keine international gültige Gesetzgebung gibt, haben Industrieunternehmen weiterhin reichlich Spielraum, mit den indigenen Gemeinschaften zu verhandeln, deren Wissen aufzuzeichnen und patentierbare Produkte daraus zu entwickeln.
Das französische Pharmaunternehmen Laboratoires Expanscience, das sich als Mitglied der Union for Ethical Biotrade (UEBT) freiwillig verpflichtet hat, bei der Beschaffung seiner Rohstoffe die Biodiversität zu achten, verkündete ganz stolz den 2011 begonnenen Aufbau einer Datenbank in Partnerschaft mit Wissenschaftlern und Ethnobotanikern vor Ort. Das offizielle Ziel ist, die Rechte der Einheimischen zu wahren – was Expansciences nicht daran hindert, einziger Patentinhaber der aus diesen Daten entwickelten Produkte zu sein. Das jüngste, 2012 angemeldete Patent der Firma betrifft eine Hautcreme aus Augenbohnen-Extrakt, die auf einer afrikanischen Heilpflanze basiert.
Dass ein angemessener rechtlicher Rahmen fehlt, macht letztlich auch alle Bemühungen von Staaten hinfällig, Artikel 32 der 2007 verabschiedeten UN-Deklaration über die Rechte der indigenen Völker4 umzusetzen. So mangelt es an Maßnahmen, deren Wissenschaften, Technologien und Gebräuche, zu denen auch genetische Ressourcen, Saatgut, Medizin, traditionelles Wissen über Fauna und Flora und mündliche Überlieferungen gehören, zu kontrollieren, zu schützen und weiterzuentwickeln.
Die UN-Institutionen, die das Schreckbild eines realen oder befürchteten Verlusts biologischer Vielfalt an die Wand malen, haben seit den 1970er Jahren den Aufbau von Naturaliensammlungen (Botanische Gärten, Museumssammlungen und Saatgutbibliotheken) unterstützt – und deren Verwaltung rechtskräftig den Vertragsstaaten des Nagoya-Protokolls übertragen. Seit 2008 ist der weltweite Saatguttresor Svalbard Global Seed Vault in der norwegischen Arktis eröffnet. Dort werden drei Millionen Proben aufbewahrt. Dieser Saatguttresor ist so gebaut, dass er eine globale Katastrophe überstehen kann, aber er ist dennoch nur den Eigentümern und Zulieferern zugänglich – den Mitgliedern des Welttreuhandfonds für Kulturpflanzenvielfalt (Global Crop Diversity Trust, GCDT), der von der Gates- und der Rockefeller-Stiftung sowie der Saatgutindustrie unterstützt wird.
Zuletzt haben die USA, Kanada, Japan und Südkorea dem Wipo-Ausschuss für geistiges Eigentum, genetische Ressourcen, traditionelles Wissen und Brauchtum (IGC), der Ende April 2013 zusammentrat, die Einrichtung eines gesicherten, von der Wipo verwalteten Internetportals vorgeschlagen, in dem das auf nationalen Datenbanken gespeicherte Wissen zusammengeführt wird. Doch die indigenen Völker protestieren dagegen, dass Staaten, die meist noch nicht einmal ihre Rechte anerkennen, nun das Recht haben sollen, über die Zukunft ihrer Wissensbestände zu entscheiden.
Um den urheberrechtlichen Mechanismen – etwa bei der Vermarktung von Saatgut – etwas entgegenzusetzen, hat Jack Kloppenburg, Professor für Umweltsoziologie an der Universität Wisconsin, ein Modell zum Schutz und zur Verbreitung der im Saatgut enthaltenen genetischen Ressourcen und des damit verbundenen Wissens erarbeitet: die General Public License for Plant Germplasm, die nach dem Modell der General Public License (GNU-GPL)5 für Freie Software funktioniert.
Die indigenen Völker sind in ihrer Mehrheit weit davon entfernt, ihr Wissen freizugeben – jedenfalls als Public Domain. Bei der letzten Versammlung des Wipo-Ausschusses haben die Delegierten der indigenen Völker erklärt: „Public Domain bedeutet eine Art Absaugpumpe, die mit der Zeit dazu beitragen kann, dass genetische Ressourcen und andere kulturelle Überlieferungen, die den Kern unserer Identität darstellen, enteignet [und] Unterschiede und kulturelle Identitäten eingeebnet werden. Sie kann so leicht zum Träger der Assimilation werden.“
Wie das Wissen der Indigenen verwaltet und in die internationale Debatte um geistiges Eigentum eingebettet werden könne, sei tatsächlich eine knifflige Angelegenheit, stellt Daniel Robinson fest, Professor am Institut für Umweltstudien der UNSW (University of New South Wales) in Australien und ehemaliger UN-Berater.6 Er hält viel von den „Biokulturellen Protokollen einer Gemeinschaft“ (Biocultural Community Protocols, BCP), um die Wissensbestände zu bewahren. Finanziert vom UN-Umweltprogramm (Unep) und mehreren Stiftungen, wurden sie bereits erfolgreich in Kenia, Kolumbien, Indien, Pakistan und Südafrika erprobt. Die Protokolle könnten ausgetauscht werden und sich gegenseitig bereichern, was nach dem starren Modell der Wipo nicht möglich ist.