Auf Trip in Amazonien
In Peru boomt der Schamanen-Tourismus von Jean-Loup Amselle
Seit Jahrzehnten schon reisen Touristen aus aller Welt in das peruanische Amazonasgebiet auf der Suche nach dem ultimativen halluzinogenen Zaubertrank: Ayahuasca, unter Aufsicht von Schamanen getrunken, soll nicht nur Visionen hervorrufen, sondern auch Krankheiten heilen können.
Inzwischen ist der in den Ländern des Westens angesagte Schamanen-Tourismus zu einem regelrechten Industriezweig geworden. Da es keine offizielle Statistik gibt, kann man die Touristenströme nicht messen, zumal die meisten als Individualreisende kommen und verschiedene Orte in dem weiträumigen Gebiet ansteuern. Man schätzt, dass es jedes Jahr mehrere hundert, vielleicht sogar tausend sind. Sie reisen aus Europa und den USA an, aber auch aus Lateinamerika, etwa aus Argentinien oder Chile.
Die Schamanen nehmen die Besucher für ein paar Tage oder auch ein paar Monate auf und beherbergen sie in Urwaldcamps, sogenannte Lodges oder Albergues, in der Nähe von größeren Städten wie Iquitos, Pucallpa oder Tarapoto. Diese Unterkünfte, ausgestattet mit für Amazonien typischen Pflanzen und Tieren, bieten den Besuchern zugleich westlichen Komfort und das Ambiente von Ursprünglichkeit und wilder Natur. So wirbt das „Shamanic Ayahuasca Center & Retreat“ Blue Morpho bei Iquitos, das der US-amerikanische Schamane Hamilton Souther leitet, auf seiner Website mit dem „Zauber des Amazonasdschungels“, Sauberkeit und Sicherheit.1
Jenseits des eigentlichen Schamanismus tummelten sich im Ayahuasca-Tourismus schon immer verschiedene Akteure: Zunächst sind da die Missionare des schamanischen Glaubens, die ihre Botschaft auf sämtlichen Medien verbreiten. Sie sind überzeugt von der Existenz „lehrender Pflanzen“, vertrauen auf prophetische sowie übernatürliche Kräfte und ganzheitliche Medizin. Viele stützen sich auch auf die Schriften berühmter Konsumenten halluzinogener Substanzen, wie Antonin Artaud, Aldous Huxley, Allen Ginsberg, William Burroughs oder Carlos Castaneda. Derzeit sind vor allem der kanadische Ethnologe Jeremy Narby und der Filmemacher Jan Kounen bei der Verbreitung schamanischen Wissens aktiv.
In seinem Buch „Die kosmische Schlange: Auf den Pfaden der Schamanen zu den Ursprüngen modernen Wissens“2 stellt Narby eine Parallele zwischen der DNA und der „kosmischen Schlange“ Anakonda her, eine Vision, die bei der Einnahme von Ayahuasca nahezu automatisch auftreten soll. Jan Kounens Dokumentarfilm „D’autres mondes, Other Worlds“3 verknüpft eine Reportage über das Ayahuasca-Universum im peruanischen Amazonasgebiet (vor allem in der Kultur der Shipibo) mit Interviews von Wissenschaftlern, um die These zu untermauern, dass die durch den Trank hervorgerufenen Halluzinationen anerkannt seien und bestimmte wissenschaftliche Entdeckungen vorweggenommen hätten.
Kounen hat auch einen Spielfilm gedreht: „Blueberry und der Fluch der Dämonen“; darin spielt Guillermo Arévalo, einer der wichtigsten Schamanen-Unternehmer in Peru, sich selbst. Der Film basiert auf der französisch-belgischen Comicserie „Leutnant Blueberry“ (1963–1990), an der auch der Zeichner Jean Giraud (1938–2012) alias Gir beziehungsweise Moebius beteiligt war. Giraud war seit einer Mexikoreise in seiner Jugend, die sein Werk stark beeinflusst hat, ebenfalls ein Anhänger bewusstseinserweiternder Substanzen.
Vor etwa 20 Jahren, als immer mehr Touristen nach Peru kamen, verdrängte das Wort „Schamane“ (Spanisch: chamán) die in den Amazonaswäldern von Peru traditionelle Bezeichnung „curandero“ (Heiler). Die Herkunft der heutigen Schamanen spielt nur insofern eine Rolle, als sie dazu dienen kann, sich auf dem international expandierenden Ayahuasca-Markt zu behaupten. Arévalo gehört zum Volk der Shipibo, die für die Macht ihrer Schamanen berühmt sind; manche seiner Kollegen aber sind Mestizen oder Nordamerikaner. Es gibt sogar einen französischen Arzt, Jacques Mabit, der in seinem Therapiezentrum Takiwasi in Tarapoto europäische und peruanische Drogenabhängige behandelt.
Die großen Veranstalter von Schamanenreisen machen ihre Profite, indem sie den Touristen für die Unterbringung teilweise üppiges Entgelt berechnen (zwischen 50 bis 170 Dollar pro Tag), aber den Schamanen und anderen peruanischen Angestellten, die in den Camps arbeiten, nur einen mageren Lohn zahlen.
Es gibt drei Arten von Touristen: Die Fans des Spirituellen kommen nach Amazonien, um sich zu amüsieren und Visionen von Jaguar und Anakonda zu erleben. Die Medizintouristen gehen in die Therapiezentren, um von physischen oder psychischen Leiden geheilt zu werden. Für die unheilbar Kranken, die an Krebs, multipler Sklerose oder Aids leiden, ist die Reise nach Amazonien oft ein letzter verzweifelter Versuch. Das Hauptgeschäft machen diese Zentren mit der Behandlung von Stress, nach Ansicht der Schamanen die wahre Krankheit des Westens. „Ihr Westler habt den Reichtum, wir peruanischen Schamanen haben die Weisheit“, bekommt man hier häufig gesagt.
So heilt also der Süden den Norden. Da die Gesundheitskosten in den überalterten Industriegesellschaften ständig steigen, kann man sich durchaus vorstellen, wie aus diesem Winkel des Amazonasgebiets ein großes Altersheim mit angeschlossenem Therapieangebot wird. Einige Veranstalter von Schamanenenreisen bewegen sich jedenfalls schon in diese Richtung: Sie haben den Ayahuasca-Tourismus hinter sich gelassen und Kliniken aufgebaut, die eine ganze Palette „traditioneller“ Heilmethoden anbieten.
Ayahuasca, der Zaubertrank
Die dritte große Gruppe sind Touristen, die die Ayahuasca-Medizin erlernen und Schamanen werden wollen. Viele größere Behandlungszentren bilden inzwischen auch aus. Sobald die Schüler die Medizin der „lehrenden Pflanzen“ vom Amazonas erlernt haben, widmen sie sich der Weiterverbreitung des Wissens ihrer Meister und lassen sich als „Pflanzenheiler“ in der ganzen Welt nieder. Patienten, die mit ihren körperlichen oder seelischen Problemen nicht fertig werden oder sich aus einer Drogenabhängigkeit befreien wollen, schicken sie in die amazonischen Therapiezentren.
Diese Pflanzenheiler bilden mit ihren weltweiten Netzwerken eine Art Sekte, weshalb der amazonische Ayahuasca-Schamanismus in die Kritik von Sektenbeobachtern geraten ist.4 Diese Organisationen weisen darauf hin, dass der New-Age-Schamanismus indoktriniert und anfällig für Scharlatane macht. Guy Rouquet, der Vorsitzende des französischen Vereins Psychothérapie Vigilance, meint: „Der Schamanismus hat sich zu einem Markt entwickelt, auf dem sich Marktschreier, Taschenspieler und Hochstapler tummeln, sehr zum Schaden derjenigen, die das uralte Wissen und die überlieferte Weisheit ihrer eigenen Völker zum Nutzen des Planeten bewahren möchten.“5
Im Jahr 2008 wurde Ayahuasca in Frankreich endgültig verboten. In Deutschland fällt der Hauptwirkstoff DMT (Dimethyltryptamin) unter das Betäubungsmittelgesetz. Dennoch erkennen die Kritiker den traditionellen Schamanismus an, der von der peruanischen Regierung als kulturelles Erbe unter Schutz gestellt wurde. Die Regierung verhält sich allerdings nicht ganz eindeutig, da sie den „authentischen Gebrauch“ von Ayahuasca bei den indigenen Gemeinschaften des Amazonasgebiets verteidigt, zugleich aber die Entwicklung des Ayahuasca-Tourismus als willkommene Einnahmequelle inklusive Nebenrisiken fördert.
Nach Einnahme des Tranks kam es bereits zu Todesfällen – folglich sind die peruanischen Behörden daran interessiert, die Berufsausübung des Schamanen gesetzlich zu regeln sowie sicherzustellen, dass die Touristen, die in Peru Ayahuasca konsumieren wollen, dem auch körperlich gewachsen sind.
Die Einnahme von Ayahuasca, die früher nur einigen indigenen Völkern des Amazonasurwalds vorbehalten war und nur zu ganz bestimmten Gelegenheiten stattfand, wie etwa der Initiation von Schamanen, hat sich im Lauf der letzten Jahrzehnte auf Kosten anderer psychoaktiver Substanzen, die früher bei Gemeinschaftsritualen oder zu therapeutischen Zwecken zum Einsatz kamen, stark ausgedehnt. Bei Touristen und Ayahuasca-Konsumenten im Westen (in Belgien, in den Niederlanden oder in Portugal ist das Getränk noch erlaubt) hat sich die mit einem „Geist“ begabte Pflanze zum Zentrum einer neuen Religion entwickelt, die ihre Anhänger ohne Umwege in eine außermenschliche Welt entführt, in diesem Fall in die Welt der Pflanzen.
Im amazonischen Schamanismus wird das Individuum von seiner sozialen Umgebung gelöst, sein Blick wird auf das Innere gelenkt und mit dem „Geist“ der Pflanze verbunden. Ähnlich wie bei anderen Psychotechniken, die einen wieder funktionsfähig machen sollen, könnte der Schamanismus angesichts des Niedergangs der „großen Erzählungen“ noch eine große Zukunft vor sich haben.
Der Ayahuasca-Bewegung liegt die Vorstellung zugrunde, dass der Mensch auf der Welt beengt lebt und sich anderen Welten zuwenden sollte. Es geht also darum, uns aus all dem wissenschaftlichen und technischen Geröll, das uns umgibt, herauszulösen und uns spirituellen und kosmischen Einflüssen zu öffnen, auch den geheimen Kräften der Mineralien, Pflanzen und Tiere. Das Ziel dabei ist es, mit dem Kosmos in Kontakt zu kommen und die spirituelle Energie der Inder und Indianer aufzusaugen. Schamanismus und New-Age-Tourismus greifen auf eine Denkfigur der Romantik zurück, in der die materielle Welt zerbrochen werden muss, um in spirituelle Dimensionen zu gelangen.
In den 1960er und 1970er Jahren betrachteten die Hippies den Konsum von LSD als Form der Befreiung von einer konservativen Gesellschaft. Der Ayahuasca-Konsum zeugt von einer ähnlichen Suchbewegung. Aber geht es im einen wie im anderen Fall nicht eher darum, dass manche Menschen Mittel finden, um sich der unbefriedigenden Welt, in der sie leben, anzupassen – anstatt diese zu verändern?
Der schamanische Tourismus um Ayahuasca spräche damit für eine Rückkehr des Irrationalen, das zwar seine Wurzeln in einer fernen Vergangenheit hat, aber gerade dadurch so wirkmächtig wird, als es so gut zum Kapitalismus der Gegenwart passt. Man könnte statt von „Spätkapitalismus“ auch von „Suchtkapitalismus“ reden, wenn man an die vielen Möglichkeiten zur Verführung des Individuums denkt (das gerade nicht als Bürger oder politischer Akteur betrachtet wird) – seien sie nun symbolischer Art wie bei der Verführung zum Konsum von Waren oder physischer Art wie beim Konsum halluzinogener Substanzen wie Ayahuasca.