12.06.2014

Scheitern als Prinzip

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Scheitern als Prinzip

Wie Israel die Friedensgespräche mit den Palästinensern zur Farce macht von Alain Gresh

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Die Verhandlungen hätten eigentlich mit der Entscheidung zum Stopp des Siedlungsbaus beginnen sollen. „Aber wir dachten, dass das mit einer Regierung Netanjahu in dieser Zusammensetzung nicht zu machen ist. Also haben wir darauf verzichtet“, erklärte einer der US-Vermittler im Interview mit dem bekannten israelischen Journalisten Nahum Barnea von der Tageszeitung Jediot Acharonot.

Im Rahmen der Gespräche über die gescheiterten israelisch-palästinensischen Verhandlungen, die US-Außenminister John Kerry im Juli 2013 in Gang gebracht hatte, plauderte der anonym gebliebene Mann weitere Einzelheiten aus: „Wir haben nicht kapiert, dass Netanjahu die Ausschreibungen für Bauprojekte in den Siedlungen brauchte, um das Überleben seiner Regierung zu sichern. Und uns war ebenfalls nicht klar, dass die Fortführung der Bauprojekte den Ministern die Gelegenheit bot, die Verhandlungen sehr erfolgreich zu sabotieren.“ Erst nach dem Scheitern der Gespräche habe man erfahren, dass der beschlossene Bau von mehr als 14 000 Wohneinheiten „eine Enteignung von Land in großem Maßstab“ bedeutet.

Der US-amerikanische Unterhändler wurde gefragt, ob er überrascht gewesen sei, als er merkte, dass die Israelis sich nicht wirklich für den Verlauf der Verhandlungen interessierten. Die Antwort: „Ja, wir waren überrascht. Als euer Verteidigungsminister Mosche Jaalon erklärte, John Kerry habe doch nur seinen Friedensnobelpreis im Sinn, war das eine schlimme Beleidigung. Denn wir tun das für euch.“

Zwar sind Barneas Quellen anonym, aber man weiß, dass der Journalist Zugang zu allen Unterhändlern hatte – also auch zu Martin Indyk, der von Präsident Obama mit der Oberaufsicht über die israelisch-palästinensischen Verhandlungen betraut wurde, die im Juli 2013 wiederaufgenommen wurden und für neun Monate geplant waren. Am 29. April 2014 hätten sie abgeschlossen sein sollen. Die Hauptaussage von Obamas Leuten, mit denen Barnea gesprochen hat, lässt sich in vier Worten zusammenfassen: „Wir haben nichts gewusst.“ Wir haben nicht gewusst, was der Siedlungsbau bedeutet, und wir haben nicht gewusst, dass der Regierung Netanjahu die Gespräche egal waren.

Die Vereinigten Staaten, die engsten Verbündeten Israels und seit vierzig Jahren in den „Friedensprozess“ involviert, sollen „nichts gewusst“ haben? Außenminister Kerry hat auf seinen zahlreichen Reisen hin und her über über den Ozean, bei zahllosen Stunden geheimer Verhandlungen, Telefongesprächen und Videokonferenzen, bei all den Treffen mit fast allen politischen Führern in der Region nichts gemerkt? Der US-Außenminister soll erst jetzt, nachdem er so viel Energie für die Lösung des Konflikts aufgewendet und darüber andere internationale Aufgaben vernachlässigt hat, gemerkt haben, dass die Israelis gar nicht an Verhandlungen interessiert waren?

Der „Oslo-Prozess“ ist schon seit über zehn Jahren tot, begraben unter israelischen Siedlungen. Seit 1993 haben sich mehr als 350 000 Siedler im Westjordanland und in Ostjerusalem niedergelassen. Und Washington will immer noch nicht kapiert haben, was da abläuft? Wie erklärt sich, dass Kerry trotz des längst absehbaren Scheiterns immer noch auf Verhandlungen beharrt?

In Wahrheit haben sich Kerry und Obama, wie alle ihre Vorgänger, die israelische Sichtweise so sehr zu eigen gemacht, dass sie die Realität nicht mehr sehen und den Standpunkt der Palästinenser nicht verstehen. Der palästinensische Chefunterhändler Saeb Erekat wirft der israelischen Seite vor: „Ihr seht uns nicht, wir sind für euch unsichtbar!“2 Denselben Vorwurf könnte er an die USA richten. Auch Washington hält sich an den bewährten Grundsatz: „Was mir gehört, gehört mir. Und was dir gehört, darüber muss man verhandeln.“

Die 1967 von Israel besetzten Territorien werden als „umstrittene Gebiete“ bezeichnet, und alle Rechte der Palästinenser sind verhandelbar, ob sie nun Ostjerusalem oder die Siedlungen betreffen, die Sicherheit, die Rückkehr der Flüchtlinge oder die Verteilung des Wassers. Alle Konzessionen gehen also zulasten der Besetzten, nicht der Besatzer. Und Israel kann verkünden, dass, falls es bereit wäre, 40 Prozent des Westjordanlands zurückzugeben, dieses schmerzliche Zugeständnis die Sicherheit des Staats und das Recht des „jüdischen Volks“ auf das Land Israel infrage stelle.

Mit dieser Haltung kann die israelischen Regierung immer neue Hindernisse entdecken und ein Zugeständnis nach dem anderen verlangen – und keines ist je genug. Haben die Palästinenser den Staat Israel anerkannt – die umgekehrte Variante gibt es nicht –, wird als Nächstes eingefordert, dass dieser Staat als ein jüdischer anerkannt werden müsse. Dergleichen wurde weder von Ägypten noch von Jordanien3 verlangt, und noch während der ersten Amtszeit Netanjahus (1996–1999) auch nicht von den Palästinensern.

Diese arrogante Unnachgiebigkeit hat allerdings in jüngster Zeit bei den US-Vermittlern offensichtlich für Unmut gesorgt. Selbst Präsident Obama hat erklärt, dass es zur Zweistaatenlösung keine Alternative gebe, es sei denn, man wolle einen einheitlichen Staat auf dem gesamten Gebiet des historischen Palästina. Und John Kerry warnte vor einem „Apartheidstaat“, was er jedoch kurz darauf wieder zurücknahm.

Anfangs hatte sich Washington über den Verlauf der Verhandlungen zufrieden geäußert. Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) akzeptierte zahlreiche Einschränkungen der Rechte, die ein unabhängiger Staat besitzt: die Entmilitarisierung des zukünftigen palästinensischen Staats und die Präsenz israelischer Soldaten am Jordan, die nach fünf Jahren durch US-Truppen abgelöst werden sollten. Sie willigte zudem ein, dass die Siedlungen in Jerusalem unter israelische Kontrolle gestellt werden, und akzeptierte einen Austausch von Territorien, mit dem 80 Prozent der Siedlungen im Westjordanland in den israelischen Staat integriert würden. Schließlich sollte die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge der Einwilligung Israels bedürfen.4 Kein anderer palästinensischer Führer hat jemals so viele Zugeständnisse gemacht wie Mahmud Abbas. Und es ist sehr unwahrscheinlich, dass sich in Zukunft jemand finden wird, der diese harten Bedingungen akzeptiert.

Kontrolle über das Westjordanland – für immer

Auf all diese Vorstöße (beziehungsweise, von der anderen Seite her betrachtet, Zurücknahmen) antwortete die israelische Seite mit einem schallenden „Nein“. Als Israel im Zuge der Verhandlungen seine Sicherheitsbedürfnisse im Westjordanland darlegte, forderte es, wie ein US-Teilnehmer Barnea erzählte, „die totale Kontrolle über die Gebiete“.5 Das hieß für die Palästinenser, „Israel würde die Kontrolle über das Westjordanland für immer ausüben“.

Dabei ist die Sicherheitskooperation zwischen Israel und der PA heutzutage enger als je zuvor. Die Israelis konnten sich noch nie sicherer fühlen – zulasten der Sicherheit der Palästinenser, die wegen der Zerschneidung der besetzten Gebiete wie in einem Käfig gefangen sind, ständig durch Kontrollen schikaniert und in Gaza oder im Westjordanland durch die israelische Armee an Leib und Leben bedroht werden. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation B’Tselem wurden 2013 insgesamt 36 Palästinenser durch israelische Sicherheitskräfte getötet.

Dass Ministerpräsident Netanjahu lediglich Zeit zu schinden versuchte, wurde bereits Wochen vor Ablauf der Verhandlungsfrist deutlich. Ende März brach er sein Versprechen, die vierte und letzte Gruppe palästinensischer Gefangener freizulassen, die vor 1993 inhaftiert worden waren. Die PA ratifizierte daraufhin eine Reihe internationaler Verträge, darunter die Genfer Konventionen, in denen die Pflichten von Besatzungsmächten geregelt sind, die Israel seit 1967 fortlaufend verletzt. Noch nicht ratifiziert wurde allerdings das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), das es erlauben würde, israelische Amtsträger wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verfolgen.

Als die israelische Regierung ihre Entschlossenheit bekräftigte, die Kontrolle über das Westjordanland „auf immer und ewig“ aufrechtzuerhalten,6 entschloss sich Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, der innerhalb der Fatah stark umstritten und wenig beliebt ist, zu einem weiteren Schritt. Er beendete die seit 2007 andauernde innerpalästinensische Spaltung, die den Israelis in die Hände gespielt hatte. Die Einigung mit der Hamas wurde möglich, weil auch die Hamas durch politische Entwicklungen geschwächt worden war: Israel und die neue ägyptischen Führung praktizieren gemeinsam die Blockade des Gazastreifens, hinzu kommt eine massive antipalästinensische Kampagne in Kairo und verschärfte innere Konkurrenz für die Hamas durch den Islamischen Dschihad und al-Qaida-nahe Gruppen.

Vor diesem Hintergrund ließ sich die Hamas auf das Angebot von Abbas ein. Am 23. April unterzeichneten beide Seiten ein Abkommen über die Bildung einer von Präsident Abbas geführten „Technokraten“-Regierung und die Durchführung von Parlaments- und Präsidentschaftswahlen binnen sechs Monaten. Wahlen sind auch innerhalb der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) vorgesehen, der die Hamas nun ebenfalls beitreten will. Dieses Abkommen entspricht der Vereinbarung von Kairo aus dem Jahr 2011, die 2012 in Doha bestätigt, jedoch niemals umgesetzt wurde.

Obwohl die Einigung von der Europäischen Union begrüßt und auch in Washington unaufgeregt zur Kenntnis genommen wurde, nahm Israel die innerpalästinensische Annäherung zum Anlass, erst die Gespräche abzubrechen, die ohnehin in einer Sackgasse steckten. Abbas müsse sich zwischen einem Frieden mit Israel und der Aussöhnung mit Hamas entscheiden, erklärte Netanjahu.7 Dabei hatte er zuvor die „Repräsentativität“ der Fatah in Zweifel gezogen. Am 5. Juni verkündete Bauminister Ariel, dass Israel als „angemessene zionistische Antwort auf die palästinensische Terrorregierung“ 1 500 neue Siedlungshäuser im Westjordanland und Ostjerusalem plant.

Abbas konterte Netanjahus Erklärung mit dem Hinweis, dass die zukünftige Regierung aus Technokraten und Unabhängigen bestehen werde: „Die Israelis fragen: Wird diese Regierung Israel anerkennen? Ich antworte: Natürlich. Wird sie dem Terrorismus abschwören? Natürlich. Erkennt sie die internationale Legitimität an? Natürlich.“8

Dieselben Fragen könnte man auch Netanjahu stellen und den Parteien der Regierungskoalition, wie der rechtsradikalen Siedlerpartei „Jüdisches Heim“ von Wirtschaftsminister Naftali Bennett, die mit 12 Abgeordneten (von 120) in der Knesset vertreten ist.9 Würden sie einen unabhängigen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 anerkennen oder die UN-Resolutionen akzeptieren? Natürlich nicht.

Ein längerer Verhandlungsstopp wäre jedoch weder für Israel noch für die USA von Nutzen: „Für Israel könnte der Versuch, Wirtschaftssanktionen gegen die Palästinenser durchzusetzen, ganz konkret und unmittelbar bedrohlich werden“, meinte ein US-Vertreter gegenüber Nahum Barnea und sprach von einem möglichen Bumerang-Effekt: Sanktionen könnten zur Auflösung der PA führen, „und dann müssten die israelischen Soldaten das Leben von 2,5 Millionen Palästinensern verwalten, zur großen Verzweiflung ihrer Mütter. Die Geberländer würden ihre Zahlungen einstellen, und die Rechnung in Höhe von 3 Milliarden Dollar müsste euer Finanzminister begleichen.“10

Solange der vermeintliche „Friedensprozess“ jedoch andauert, sind Aufrufe zum Boykott und Forderungen nach Sanktionen gegen Israel unglaubwürdig. Es ist kein Zufall, dass die deutsche Regierung nach dem Abbruch der Verhandlungen beschlossen hat, den Kauf deutscher Raketenschnellboote durch Israel nicht zu subventionieren. Bei einem Deal mit (atomwaffenfähigen) U-Booten hatte sie noch ein Drittel der Kosten übernommen. Die israelischen Steuerzahler wird das nun einige Hundert Millionen Dollar mehr kosten.11 Auch die EU könnte am Ende doch noch Sanktionen beschließen, nachdem sie Israel so lange mit großer Nachsicht behandelt hat.

An einer Tatsache wird sich jedoch nichts ändern: Die USA werden Israel trotz aller Verstöße gegen das Völkerrecht weiterhin unerschütterlich unterstützen. Das unterstreicht auch Obamas Chefunterhändler Martin Indyk. Als einer, der die amerikanisch-israelischen Beziehungen seit Langem von innen kenne, könne er bezeugen, „wie tief und stark die Bindung zwischen unseren beiden Nationen heute ist. Wenn Präsident Obama mit begründetem Stolz diese Bindung als ‚unerschütterlich‘ bezeichnet, meint er, was er sagt. Und er weiß, wovon er spricht.“12

In diesem Sinne versicherte Indyk, dass Obama die militärischen Beziehungen zu Israel niemals einfrieren würde, wie es US-Präsident Richard Nixon nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973 getan hatte. Damals hatte Nixons Außenminister Henry Kissinger ein Abkommen zwischen Israel auf der einen und Syrien und Ägypten auf der anderen Seite ausgehandelt.

Die US-amerikanische Haltung lässt sich in der Kurzformel zusammenfassen: Morgen wird es einen Palästinenserstaat geben – aber immer erst morgen.12 Die USA werden einen Frieden in Nahost nie allein und nie ohne Druck zustande bringen – an dieser Einsicht führt kein Weg vorbei. Es bedarf eines von Staaten beschlossenen Sanktionspakets und eines von der Zivilgesellschaft unterstützten Boykotts, damit die Palästinenser „nächstes Jahr in Jerusalem“ feiern können.

Fußnoten: 1 Nahum Barnea, „Inside the talks’ failure: US officials open up“, 2. Mai 2014: www.ynetnews.com/articles/0,7340,L-4515821,00.html. 2 Zitiert in „The pursuit of Middle East peace: A status report“, Rede von Martin Indyk im Washington Institute for Near East Policy, Washington, D. C., 8. Mai 2014: www.washingtoninstitute.org/uploads/Documents/other/IndykKeynote20140508.pdf. 3 Sylvain Cypel, „L’impossible définition de l’Etat juif “: orientxxi.info/magazine/l-impossible-definition-de-l-etat,0583, 5. Mai 2014. 4 Siehe Charles Enderlin, „Les Américains rejettent la responsabilité de l’échec sur Israël“: geopolis.francetvinfo.fr/charles-enderlin, 3. Mai 2014. 5 Die US-Vermittler sprechen niemals von „besetzten“ Gebieten, obwohl dies der offizielle Begriff in der Resolution 242 des UN-Sicherheitsrats vom November 1967 ist. 6 In Anlehnung an die Formulierung im Alten Testament, Buch Daniel, 7,18. 7 Herb Keinon, „Netanyahu: Abbas must choose, peace with Israel or reconciliation with Hamas“, The Jerusalem Post, 23. April 2014. 8 Abbas im palästinensischen Fernsehen am 8. Mai 2014. Zitiert von BBC Monitoring, 10. Mai 2014. 9 Siehe Yossi Gurvitz, „Israël aussi …“, in: „Nouveaux visages des extrêmes droites“, Manière de voir, Nr. 134, April/Mai 2014. 10 Siehe Barnea (siehe Anmerkung 1). 11 Barak Ravid, „Germany nixes gunboat subsidy to Israel, citing breakdown of peace talks“, Ha’aretz, Tel Aviv, 15. Mai 2014. 12 Siehe Alain Gresh „Der versprochene Staat“, Le Monde diplomatique, Oktober 2011. Aus dem Französischen von Jakob Farah

Le Monde diplomatique vom 12.06.2014, von Alain Gresh