Alles Tafta
Dossier: Freihandel
Kommt die größte Freihandelszone der Welt? von Serge Halimi
Ein amerikanischer Freihandelsadler fliegt über den Atlantik, um eine Herde schutzloser europäischer Lämmer zu reißen. Dieses Bild hat sich im EU-Wahlkampf festgesetzt. So eingängig es sein mag, politisch ist es riskant.
Denn es blendet zum einen die Erkenntnis aus, dass auch US-Kommunen schon bald zu Opfern neuer Regeln werden könnten, die es ihnen noch schwerer machen werden, Arbeitsplätze, Umwelt und Gesundheit zu schützen. Zum anderen lenkt es die Aufmerksamkeit von europäischen Unternehmen ab, wie etwa den französischen Veolia- oder den deutschen Siemens-Konzern, die genauso wie die US-Unternehmen darauf aus sind, Staaten rechtlich zu belangen, bei denen sie sich einbilden, sie bedrohten ihre Profite (siehe den Artikel auf Seite 19). Und drittens unterschlägt das Bild vom amerikanischen Adler die Rolle der europäischen Institutionen und Regierungen.
Die Kritik am Transatlantischen Freihandelsabkommen (Transatlantic Free Trade Agreement, Tafta) sollte also nicht nur auf einen einzelnen Staat zielen. Die Herausforderungen sind viel größer, und zwar genauso groß wie die Ambitionen der Tafta-Befürworter: Es geht um die neuen Privilegien, die die Investoren aller Länder einfordern; vielleicht, um sich für die Wirtschaftskrise zu entschädigen, die sie selbst heraufbeschworen haben. Ein klug geführter globaler Kampf könnte die Solidarität der internationalen demokratischen Kräfte festigen, die heute schwächer ausgeprägt ist als die Solidarität aufseiten des internationalen Kapitals.
In Sachen Tafta sind wir gut beraten, gewissen Begriffspaaren zu misstrauen, die bei manchen als unzertrennlich galten: zum Beispiel Protektionismus und Fortschritt oder Demokratie und offene Grenzen. Die Geschichte hat gezeigt, dass Handelspolitik keine politische Farbe hat.1 Unter Napoléon III. etwa optierte der autoritäre Staat für den Freihandel (siehe den Artikel auf Seite 18). Während fast zur gleichen Zeit die Republikanische Partei in den Vereinigten Staaten vorgab, sich um die Arbeiterschaft zu sorgen, nur um die Interessen der Trusts besser verteidigen zu können, jener „Raubritter“ des Stahls, die um Zollschutz bettelten.2
Im Wahlprogramm der Republikaner von 1884 hieß es: „Da die Republikanische Partei aus dem Hass auf die Sklavenarbeit und dem Wunsch entstanden ist, alle Menschen mögen wirklich frei und gleich sein, ist sie unwiderruflich dagegen, unsere Arbeiter mit jeder Form von Arbeitsknechtschaft, ob im In- oder im Ausland, in Wettbewerb treten zu lassen.“3 Die Kritik galt den kalifornischen Eisenbahngesellschaften, die Arbeiter zu Tausenden aus Asien importierten, um sie für einen Hungerlohn schuften zu lassen.
Ein Jahrhundert später hat sich diese Haltung zur internationalen Arbeitsteilung deutlich verändert, und Demokraten und Republikaner priesen nun den Freihandel. Am 26. Februar 1993, kurz nach seinem Einzug ins Weiße Haus, begann Präsident Clinton seine Kampagne für das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta), das ein Jahr später unterzeichnet wurde. Clinton räumte zwar ein, dass im Zeitalter des „Global Village“ die Arbeitslosigkeit in den USA ebenso zunahm wie der Niedriglohnsektor. Dennoch wollte er auf demselben Weg weitermachen: „Dies ist die Wahrheit unserer Zeit, und sie muss es auch sein: Offenheit und Handel werden uns als Nation reicher machen. Das spornt uns zu Innovationen an. Es zwingt uns, uns der Konkurrenz zu stellen. Es sichert uns neue Kunden. Es befördert das globale Wachstum. Und es garantiert den Wohlstand unseres produzierenden Gewerbes, das seinerseits Dienstleistungen und Rohstoffe konsumiert.“
Dabei waren bereits zuvor die Zolltarife im Zuge der Liberalisierung des internationalen Handels etappenweise drastisch gesenkt worden: von durchschnittlich 45 Prozent im Jahr 1947 auf 3 Prozent im Jahr 1993. Aber es musste immer weitergehen – im Namen von Frieden, Wohlstand und Demokratie.
„Philosophen von Thukydides bis Adam Smith haben immer wieder festgestellt, dass die Regeln des Handels im Gegensatz zu denen des Kriegs stehen“, erläuterte Clinton in seiner Rede. „So wie Nachbarn, die sich gegenseitig beim Bau ihrer Scheunen geholfen haben, schwerlich zu Brandstiftern werden, dürften sich auch Menschen kaum bekriegen, die ihren Lebensstandard durch wechselseitigen Handel steigern. Wenn wir an die Demokratie glauben, müssen wir uns entschließen, die Handelsbeziehungen zu stärken.“ Diese Regel galt freilich nicht für alle Länder: Im März 1996 unterzeichnete der US-Präsident ein Gesetz zur Verschärfung der Handelssanktionen gegen Kuba.
Zehn Jahre später erklärte EU-Handelskommissar Pascal Lamy – ein französischer Sozialist, der anschließend Generaldirektor der Welthandelsorganisation WTO wurde – ganz im Geiste von Bill Clintons Analyse: „Aus historischen, ökonomischen und politischen Gründen glaube ich, dass ein offener Handel mit dem Fortschritt der Menschheit einhergeht; dass es weniger Unglück und Konflikte provoziert, wenn der Warenaustausch sich offen vollziehen kann, als wenn er geschlossen ist. Wo Handel betrieben wird, schweigen die Waffen. Montesquieu hat das besser formuliert als ich.“4
Im 18. Jahrhundert konnte Montesquieu allerdings nicht wissen, dass sich ein Jahrhundert später die chinesischen Märkte öffnen sollten – und zwar nicht wegen der Überzeugungskraft der Enzyklopädisten, sondern im Gefolge des Opiumkriegs, unter dem Eindruck europäischer Kanonen und der Plünderung des kaiserlichen Sommerpalasts. Auch Pascal Lamy sollte das wissen.
Barack Obama mag nicht so enthusiastisch werben wie sein Amtsvorgänger und demokratischer Parteigenosse. Aber auch er hat das Freihandelscredo der US-Multis übernommen – das freilich das Credo der Konzerne auch in Europa und in aller Welt ist. Auch Obama legt sich für Tafta ins Zeug: „Ein Abkommen könnte die Exporte um einige zehn Milliarden Dollar in die Höhe treiben, könnte Hunderttausende zusätzliche Jobs schaffen – sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in der Europäischen Union – und das Wirtschaftswachstum auf beiden Seiten des Atlantiks ankurbeln.“5
Die geopolitische Dimension des Abkommens spielte in Obamas Erklärung keine Rolle. Die aber ist weit bedeutsamer als die – mutmaßlichen – segensreichen Folgen für Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand. In langfristiger Perspektive will Washington mittels Tafta nicht so sehr den Alten Kontinent erobern. Das Abkommen dient vielmehr als Instrument, um den Europäern ein für allemal die Annäherung an Russland zu verwehren. Und vor allem, um China in Schach zu halten.
Aber auch in diesem Punkt herrscht vollkommene Einigkeit mit den europäischen Führungszirkeln. „Man sieht den Aufstieg dieser Schwellenländer, die eine Gefahr für die europäische Zivilisation darstellen“, meint zum Beispiel der ehemalige französische Premierminister François Fillon. „Und unsere einzige Antwort darauf soll sein, dass wir uns auseinanderbewegen? Das ist doch Wahnsinn.“6
Ähnlich sieht es der Europaabgeordnete Alain Lamassoure, wenn er sagt, Tafta werde es den atlantischen Verbündeten erlauben, „sich über gemeinsame Normen zu verständigen, die man dann den Chinesen aufzwingen könnte“.7 Die von Washington seit Jahren geplante Transpazifische Partnerschaft (TPP), zu der Peking nicht eingeladen ist, hat genau dies zum Ziel.
Es ist gewiss kein Zufall, dass der verbissenste akademische Tafta-Befürworter Richard Rosecrance ist. Der Professor leitet in Harvard ein Forschungszentrum über US-chinesische Beziehungen. Neuerdings verbreitet er die These, dass die gleichzeitige Schwächung der beiden großen atlantischen Blöcke diese dazu bringen sollte, angesichts der aufstrebenden Mächte Asiens enger zusammenzurücken. „Wenn die beiden Hälften des Westens nicht zusammenfinden und in den Bereichen Forschung, Entwicklung, Konsum und Finanzen eine Einheit bilden, werden sie beide an Boden verlieren“, mahnt Rosecrance. „Die Staaten des Ostens, angeführt von China und Indien, werden den Westen bei Wachstum, Innovationskraft und Einkommen überrunden – und schließlich auch in ihrer Fähigkeit, militärische Macht aufzubauen.“8
Solche allgemeinen Überlegungen erinnern an die berühmte Theorie der Wachstumsstadien, die der Ökonom Walt W. Rostow entwickelt hat: Nach dem wirtschaftlichen Aufstieg eines Landes verlangsamt sich seine Fortschrittsgeschwindigkeit, weil die am schnellsten zu erzielenden Produktivitätsgewinne (etwa mittels Bildung und Urbanisierung) bereits realisiert sind.
Die Wachstumsraten in den alten Industrieländern werden schon heute von China oder Indien übertroffen. Angesicht dessen bleibt dem Westen als einziger echter Trumpf nur noch ein engeres Bündnis zwischen den USA und Europa. Dann könnte man den ungestümen, aber zerstrittenen Emporkömmlingen weiterhin die Regeln diktieren.
Wie in der Periode nach dem Zweiten Weltkrieg soll die Beschwörung einer äußeren Bedrohung – gestern die politische und ideologische durch die Sowjetunion, heute die wirtschaftliche und kommerzielle durch das kapitalistische Asien – alle Schäflein unter der Obhut des guten (US-amerikanischen) Hirten versammeln. Denn es könnte ja sein, dass der Schlussstein der neuen Weltordnung bald nicht mehr in Washington, sondern in Peking liegt.
Diese Angst ist laut Rosecrance umso berechtigter, als „historisch gesehen die hegemonialen Übergänge von einer Macht auf die andere im Allgemeinen zu großen Konflikten geführt haben“. Jedoch gebe es einen Weg, der verhindern könne, dass die „Übernahme der Führungsrolle der Vereinigten Staaten durch eine neue Hegemonialmacht“ in einen „Krieg zwischen China und dem Westen“ mündet.
Weil man nicht davon ausgehen könne, dass sich die beiden wichtigsten Staaten Asiens mit den im Niedergang befindlichen atlantischen Partnern verbünden, gelte es die Rivalität zwischen China und Indien auszunutzen und sie mit japanischer Hilfe in ihrer Region in Schach zu halten. Denn die Angst Japans vor China habe das Land auf derart endgültige Weise mit dem westlichen Lager zusammengeschweißt, dass es zum „östlichen Widerlager“ des Westens geworden sei.
Auch wenn in dieser ausholenden geopolitischen Vision die Kultur, der Fortschritt und die Demokratie beschworen werden, bezeugen die benutzten Metaphern auch eine weniger hehre Inspiration: „Der Produzent, der eine bestimmte Ware nicht gut verkaufen kann“, meint Rosecrance, „wird sich häufig mit einer ausländischen Firma zusammentun, um sein Angebot zu erweitern und größere Marktanteile zu ergattern. So wie es Procter & Gamble getan hat, als es Gilette aufkaufte. Solche Anreize gibt es auch für Staaten.“
Bislang hat allerdings noch kein Volk seinen Staat und sein Territorium als Konsumartikel betrachtet. Deswegen steht der Kampf gegen Tafta mit Sicherheit erst am Anfang.
2 Siehe Howard Zinn, „Au temps des ‚barons voleurs‘ “, Le Monde diplomatique, Paris, September 2002.
Was wann geschah
22. November 1990 In der Transatlantischen Erklärung werden zur Förderung des Freihandels jährliche Gipfeltreffen zwischen der EG und den USA vereinbart.
1992 Gründung des Transatlantic Policy Networks (TPN), dem Konzerne sowie Abgeordnete aus Europaparlament und US-Kongress angehören.
1995 Unter Federführung der Europäischen Kommission und des US-Handelsministeriums wird ein Transatlantischer Wirtschaftsdialog (Transatlantic Business Dialogue, TABD) eingerichtet, der die Interessen der multinationalen Konzerne beiderseits des Atlantiks vertritt.
Dezember 1995 Beim EU-Gipfel in Madrid wird mit der Annahme der Neuen Transatlantischen Agenda (NTA) das Projekt einer transatlantischen Freihandelszone aus der Taufe gehoben.
18. Mai 1998 Gemeinsame Erklärung von Europäischer Union und USA über die Transatlantische Wirtschaftspartnerschaft. Zentrales Ziel ist die Förderung von Handel und bilateralem Austausch.
29. Juni 2005 Die EU-US-Initiative zur Förderung der transatlantischen Wirtschaftsintegration setzt das Projekt der transatlantischen Freihandelszone wieder auf die Tagesordnung.
1. Juni 2006 Das Europaparlament empfiehlt die Konzipierung eines neuen transatlantischen Partnerschaftsabkommens zur „Verwirklichung eines ‚transatlantischen Marktes ohne Schranken‘ bis 2015“.
9. November 2006 Laut der Nachrichtenagentur Europa Press lädt die US-Regierung zur zweiten informellen EU-USA-Ministerkonferenz ein. Gesprächsthema Nummer eins ist die transatlantische Wirtschaftsintegration.
30. April 2007 Beim EU-USA-Gipfel in Washington beschließen Kommissionspräsident José Manuel Barroso, Bundeskanzlerin Angela Merkel (damals Vorsitzende des Europäischen Rats) und US-Präsident George W. Bush die Rahmenvereinbarung zur Vertiefung der transatlantischen Wirtschaftsintegration. Das erklärte Ziel ist der Abbau von Handelshemmnissen und die Stärkung der transatlantischen Wirtschaftsintegration. Außerdem gründen die Gipfelteilnehmer den Transatlantischen Wirtschaftsrat (Transatlantic Economic Council, TEC), der dafür sorgen soll, die Gesetzgebung in den EU-Staaten und den USA aufeinander abzustimmen.
8. Mai 2008 In einer Entschließung formuliert das Europäische Parlament seine Auffassung, dass „das Konzept des transatlantischen Markts von ausschlaggebender Bedeutung sein könnte, um anhaltende Impulse für die weltweite Handelsintegration zu geben“.
6. Mai 2009 Auf dem EU-Kanada-Gipfel in Prag wird der Beginn der Ceta-Verhandlungen verkündet. Das bilaterale Freihandelsabkommen Ceta gilt als Blaupause für Tafta.
4. November 2009 Ein neuer EU-USA-Energierat soll die Zusammenarbeit in Energiefragen stärken.
20. November 2010 Beim EU-USA-Gipfel in Lissabon wird eine Arbeitsgruppe zum Thema Cybersicherheit und Cyberkriminalität eingerichtet.
28. November 2011 Die Teilnehmer des EU-USA-Gipfels in Washington gründen eine hochrangige gemeinsame Arbeitsgruppe (HLWG) zum Thema Beschäftigung und Wachstum, die Vorschläge zum weiteren Ausbau des transatlantischen Handels unterbreiten soll.
Juni 2012 In ihrem Zwischenbericht empfiehlt die Arbeitsgruppe die schrittweise Beseitigung von Zöllen und Einfuhrquoten.
13. Februar 2013 US-Präsident Barack Obama, der Präsident der EU-Kommission, José Manuel Barroso, und der Präsident des Europäischen Rats, Herman Van Rompuy, verkünden die Einleitung von Verhandlungen über eine Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP).
12. März 2013 Die EU-Kommission legt ihre „Empfehlungen“ für die kommenden Verhandlungen vor.
29. Mai 2013 Die französische Nationalversammlung fordert, ein Mechanismus zur Investor-Staat-Streitschlichtung dürfe nicht Teil des Verhandlungsmandats der EU-Kommission sein, sondern müsse im souveränen Recht der Staaten verbleiben. Damit lehnt sie Schiedsgerichte für solche Streitfälle ab.
14. Juni 2013 Die EU-Mitgliedstaaten billigen die Empfehlungen der Kommission und übertragen ihr damit offiziell das Mandat für Verhandlungen mit Washington. Das Mandat umfasst auch das Streitschlichtungsverfahren.
19. bis 23. Mai 2014 Im Washingtoner Vorort Arlington findet die fünfte TTIP-Verhandlungsrunde statt.