Machbare Solidarität
Das Erfolgsmodell der Mikro-Krankenversicherungen in Ghana von Frank Odenthal
Wenn man Tony Fiakpu nach seinem Arbeitsplatz fragt, zeigt er auf seinen orangefarbenen Opel Kadett, Baujahr 2003. Tony ist Taxifahrer in Accra, der Hauptstadt Ghanas, die mit ihren geschätzten fünf Millionen Einwohnern zu den größten Städten Westafrikas gehört. Seine ganze Familie hat Geld für den Wagen beigesteuert. Doch im letzten Februar hätte er ihn um ein Haar wieder verkaufen müssen. Knöchelbruch beim Fußballspielen, Krankenhaus, Operation. „Ein komplizierter Bruch“, erzählt er. „Unsere Ersparnisse hätten für die Behandlungskosten niemals ausgereicht.“
Zum Glück kam es anders. Tony Fiakpu war im letzten Jahr einer Mikro-Krankenversicherung beigetreten, die in seinem Stadtteil gegründet worden war. Die übernahm die Kosten für die Behandlung. Sein orangefarbenes Taxi konnte er behalten und fährt damit inzwischen wieder durch die verstopften Straßen Accras. „Zuerst wollte ich das Geld lieber sparen“, gesteht er, „heute bin ich froh, dass ich der Versicherung beigetreten bin.“
Tony Fiakpu hatte Glück im Unglück, sagt auch Andreas Grüb vom Centrum für Migration und Entwicklung (CIM). Seit über 23 Jahren hilft er beim Aufbau des ghanaischen Gesundheitswesens, ursprünglich im Auftrag der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), heute für das CIM. Er kennt auch andere Fälle. Vor allem junge Männer sehen oft nicht ein, warum sie Geld für eine Krankenversicherung ausgeben sollen, sagt Grüb. „Solange sie jung und gesund sind, glauben sie, ihnen passiere schon nichts. Wenn dann doch etwas passiert, bleibt ihnen oft nichts anderes übrig, als ihre Existenzgrundlage zu verkaufen, zum Beispiel ihre Rinder oder ihr Ackerland.“ Oder eben das gerade erworbene Taxi. Negativbeispiele gibt es in Afrika mehr als genug, nicht zuletzt weil in den meisten Ländern kein tragfähiges Gesundheitssystem existiert. Auf dem gesamten Kontinent sind nur knapp 2 Prozent der Bevölkerung krankenversichert.
Auch in anderen Entwicklungsländern gibt es das Problem, dass sich weite Teile der Bevölkerung eine Krankenversicherung kommerzieller Anbieter nicht leisten können. So drohen sie selbst bei eigentlich harmlosen Krankheiten noch tiefer in die Armutsfalle hineinzurutschen. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) müssen 85 Prozent der Behandlungskosten im Krankheitsfall aus eigener Tasche bezahlt werden, da kein Versicherungsschutz besteht, und oft werden dabei die Rücklagen der gesamten Familie aufgebraucht oder Arbeitsgeräte verkauft, die für das Einkommen der Familie unerlässlich sind.
Dabei gelten Krankenversicherungen längst als unverzichtbar, um der Armutsfalle zu entkommen. Es sind die Wechselwirkungen von Krankheit und Armut – gern als Teufelskreis beschrieben –, die die Lebensumstände von Millionen Menschen in Entwicklungsländern bedrohen. Menschen, die bei mangelhafter Ernährung und ohne sanitäre Grundversorgung harte, körperliche Arbeiten verrichten, sind für Krankheiten besonders anfällig. Umgekehrt werden Menschen, die sich mühsam einen Weg aus bitterster Armut erkämpft haben, aufgrund von Behandlungskosten oft wieder mittellos.
Die Mikro-Krankenversicherungen sollen helfen, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Sie richten sich an Menschen mit geringem Einkommen oder aus abgelegenen ländlichen Regionen, für deren Versicherung kommerzielle Anbieter erhebliche Risikozuschläge verlangen.
Ursprünglich entwickelten sich die Micro Health Insurances (MHI) aus Selbsthilfe-Initiativen: Mitglieder einer Kommune werfen ihr verfügbares Einkommen in einen Topf, im Bedarfsfall werden daraus die anfallenden Behandlungskosten beglichen. Einerseits hat dieses System den Vorteil, dass die Versicherung in der Gemeinde verwurzelt ist und die Gruppenkontrolle den Missbrauch reduziert. Andererseits geraten die Kleinstversicherungen bei externen Schocks, etwa einer Epidemie, wegen der geringen Mitgliederzahl schnell in Zahlungsschwierigkeiten. Inzwischen drängen auch kommerzielle, global tätige Versicherungskonzerne auf den Markt, etwa die deutsche Allianz-Versicherung, da sie in den bevölkerungsreichen Entwicklungs- und Schwellenländern einen lukrativen Absatzmarkt vermuten.
Wahlversprechen gefährden das Gesundheitssystem
Das im Vergleich zu seinen westafrikanischen Nachbarn politisch stabile Ghana ist auch bei der Gesundheitspolitik einen Schritt voraus. Seit 2004 existiert eine gesetzliche Krankenversicherung, die Beiträge sind bezahlbar, die Versicherungsleistungen entsprechen westlichen Standards.
Nach der Unabhängigkeit Ghanas 1957 war die ärztliche Versorgung für die Bevölkerung jahrzehntelang kostenlos, das heißt steuerfinanziert. 1983 gab das Land dem Drängen von Internationalem Währungsfonds und Weltbank nach und erhob Gebühren auf Gesundheitsleistungen, die fortan für viele Menschen unerschwinglich wurden.1
In den 1990er Jahren bildeten sich deswegen erste Selbsthilfegruppen, deren Mitglieder ihr bisschen Geld zusammenlegten und davon anfallende Behandlungskosten bezahlten – die ersten Mikro-Krankenversicherungen waren ins Leben gerufen. Anfang des neuen Jahrtausends gab es landesweit 47 Selbsthilfe-Krankenversicherungen.
Der Erfolg blieb auch den Behörden nicht verborgen. 2004 übernahm das Gesundheitsministerium das Konzept der Selbsthilfegruppen und baute es zu einer landesweiten staatlichen Krankenversicherung aus.2 Die vielen Kleinstversicherungen wurden zu Gruppen gebündelt, um über die jeweiligen Regionen hinaus alle 145 Landesdistrikte abzudecken. Wo sich bisher keine Selbsthilfegruppe gebildet hatte, gründete der Staat eine Mikro-Krankenversicherung.
2009 waren gut 61 Prozent der Ghanaer krankenversichert. Ein beachtlicher Erfolg, findet auch Andreas Grüb vom CIM. „Dass aus kleinen Selbsthilfegruppen ein erfolgversprechendes Modell für ein landesweites Gesundheitssystem und ein Vorbild für den ganzen Kontinent werden würde, damit hätten auch wir nicht gerechnet.“
Dennoch sieht er dunkle Wolken aufziehen, weil dem System zusehends das Geld ausgeht. Schon heute muss der Staat massiv zuschießen, drei Viertel der Einnahmen kommen aus Steuern. Nur 38 Prozent der Mitglieder zahlen Beiträge, Kinder sind mitversichert, wer völlig mittellos ist, bekommt eine beitragsfreie Mitgliedschaft. Vor allem bei kleinen Gruppen stehen den Ausgaben einfach viel zu wenig Einnahmen gegenüber. Tatsächlich meldeten 2008 mehrere Distrikt-Krankenversicherungen erstmals Zahlungsschwierigkeiten. Trotzdem gibt es Pläne, die ohnehin üppigen Gesundheitsleistungen noch auszuweiten.3
Ein Grundproblem des ghanaischen Gesundheitswesens ist der Fachkräftemangel, über den nicht nur die Krankenhäuser in abgelegenen Regionen, sondern auch die vielen Kleinstversicherungen klagen. Junge Leute, die viel Geld für ihre Berufsausbildung ausgegeben haben, zieht es nicht in die tristen Dörfer der ghanaischen Provinz. Sie suchen ihr Glück in Accra, in der Hoffnung, irgendwann die Schulden loswerden zu können, die sie für ihre Ausbildung angehäuft haben. In den Straßen der Hauptstadt wimmelt es inzwischen von gut ausgebildeten Ärzten und Lehrern, die ihre Tage ohne Arbeit verbringen.
Eine Mikro-Krankenversicherung lebt von der Qualifikation ihrer Mitarbeiter. Und eine Selbsthilfe-Initiative vom Engagement ihrer Mitglieder. Den Selbsthilfegruppen in Ghana, die sich zu Mikro-Krankenversicherungen zusammengeschlossen haben, fehlte es zunächst nicht an Begeisterung. Endlich konnten auch sie sich gegen existenzbedrohende Krankheiten absichern. Die Organisation lag in ihren Händen, sie handelten eigenverantwortlich Verträge mit Krankenhäusern und Gesundheitsdienstleistern aus. Doch als der Staat Mitte der Nullerjahre das Konzept aufgriff und landesweit einheitliche Konditionen durchsetzte, nahm er ihnen die Möglichkeit, Verträge individuell zu gestalten – und damit die Motivation, sich persönlich für die Mikro-Krankenversicherung zu engagieren. Auswärtige Mitarbeiter mussten her, mit der nötigen Qualifikation zur Leitung einer Krankenversicherung – in den abgelegenen Regionen Ghanas eine kaum lösbare Aufgabe.
Mit ähnlichen Schwierigkeiten kämpfen jene Mikro-Krankenversicherungen, die der Staat in den Gemeinden eingepflanzt hat. Wo die Begeisterung, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, bisher nicht entfacht war, konnte auch der Staat kein Engagement für die gesetzliche Krankenversicherung hervorrufen. „Als der Staat das Ruder in die Hand nahm, verloren viele Mitglieder die Motivation“, sagt auch Gerald Leppert vom Seminar für Genossenschaftswesen der Universität Köln. „Man hat einfach nicht bedacht, wie Selbsthilfegruppen ticken.“
Hier setzt ein Projekt des Kölner Lehrstuhls an, das 2008 ins Leben gerufen wurde.4 Projektkoordinator Leppert erklärt: „Ziel des Projekts Pro MHI Africa ist es, allen Beteiligten, den lokalen Leitern der vielen Mikro-Krankenversicherungen vor Ort, aber auch den staatlichen Stellen, beratend zur Seite zu stehen und sie mit nötigem Fachwissen auszustatten.“ Lehrpläne wurden ausgearbeitet und Workshops vorbereitet, die zum einen grundlegendes versicherungstechnisches Know-how vermitteln sollen und zum anderen über Charakteristika und Dynamiken von Selbsthilfegruppen informieren. Absolventen erhalten ein Zertifikat, das ihnen die Fähigkeit zur Leitung einer Mikro-Krankenversicherung bescheinigt.
„Das Interesse ist riesengroß“, erzählt Leppert stolz. „Bei den Workshops werden uns die Broschüren geradezu aus den Händen gerissen.“ Das Projekt der Kölner Uni, mit 500 000 Euro von der EU gefördert, lief im April 2010 aus. Ob sich der Aufwand gelohnt hat, wird die langfristige Entwicklung des ghanaischen Gesundheitssystems zeigen.
Andreas Grüb vom CIM gibt zu bedenken, dass in Ghana bald Wahlen stattfinden und dass das Thema Gesundheit im Wahlkampf eine wichtige Rolle spielen könnte. Tatsächlich sind es immer wieder Versprechungen von höchsten Regierungsstellen, die den ausländischen Fachleuten Sorgen bereiten. Den gegenwärtigen Gesundheitsminister Benjamin Kunbuor hält Grüb für einen Technokraten. „Er hat viel Geld in ein satellitengestütztes System investiert, das die Informationen auf den Versicherungskarten blitzschnell im ganzen Land verfügbar machen soll.“ Dabei hapert es schon an der Verteilung der Karten und an einem Buchhaltungsprogramm, das zuverlässig Auskunft darüber gibt, wer seine Beiträge gezahlt hat und wer nicht.
Im letzten Wahlkampf hat der seit Januar 2009 amtierende Präsident John Atta-Mills die Einführung eines einmaligen Pauschalbetrags angekündigt. Wer den bezahlt, soll sein Leben lang krankenversichert sein. Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein – und bereitet den Experten Grüb und Leppert Bauchschmerzen. „Wenn diese Einmalzahlung nicht gewissenhaft und exakt kalkuliert wird“, so Leppert, „steht die Zahlungsfähigkeit des gesamten Systems schon in wenigen Jahren auf der Kippe.“ Hoffentlich arbeitet bis dahin wenigstens das Buchhaltungsprogramm fehlerfrei.