14.01.2011

Drei ungleiche Brüder

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Drei ungleiche Brüder

In der Elfenbeinküste streiten die Erben des Staatsgründers schon lange um die Macht von Vladimir Cagnolari

Vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen in der Elfenbeinküste tönte Amtsinhaber Laurent Gbagbo: „Wenn man durch das Land fährt, sieht man das, was Houphouët aufgebaut hat, und das, was Gbagbo aufgebaut hat. Dazwischen gibt es nichts.“1 Der Spruch war auf seine Gegenkandidaten Henri Konan Bédié und Alassane Dramane Ouattara gemünzt, die sich wie Gbagbo auch auf das Erbe des „Vaters der Nation“ berufen.

In der Elfenbeinküste konnte nie richtig geklärt werden, wer sich als legitimer Nachfolger von Houphouët-Boigny, den 1993 nach 33 Jahren Alleinherrschaft verstorbenen Präsidenten, präsentieren und durchsetzen kann. Das macht im Kern die Krise aus, in der das Land seit 17 Jahren steckt. Die Herren Gbagbo, Bédié und Ouattara kennen sich und verkehren seit Jahrzehnten in denselben Kreisen: mal als Verbündete, mal als Gegner in einem politischen Wechselspiel, das dieses wirtschaftliche Machtzentrum Westafrikas mit der Zeit erschöpft hat.

Unter den drei mutmaßlichen Erben des ersten Präsidenten gilt Bédié als der gleichsam „natürliche Sohn“. Der heute 76-Jährige gehört wie sein verstorbener Mentor zum Volk der Baoulé. Nach dem Studium in Frankreich wurde er im Unabhängigkeitsjahr 1960 zum ersten ivorischen Botschafter in den USA und bei der UNO ernannt. Die Bevölkerung hat ihn aber vor allem als Finanzminister in Erinnerung. Seine elfjährige Amtszeit war die Ära des „ivorischen Wunders“, als das Geld aus dem Kakaogeschäft in Strömen floss, zum Teil auch direkt in die Taschen des Ministers.

Als das herauskam, wurde Bédié von Houphouët-Boigny entlassen. Drei Jahre später war er schon wieder Präsident der Nationalversammlung. Das Parlament war zwar zur Zeit der Einheitspartei – der Demokratischen Partei der Elfenbeinküste (Parti démocratique de la Côte d’Ivoire, PDCI) – nichts als eine Zustimmungsmaschine, sein Präsident ist laut Verfassung im Falle eines Machtvakuums als Interimspräsident vorgesehen. Damit sah sich Bédié im Nachfolgerennen auf der Poleposition und konnte zu träumen beginnen.

Doch dann tauchte im Kreis der Erben plötzlich ein Außenseiter auf. Alassane Ouattara war der Seitenspross einer Vernunftehe, die Houphouët-Boigny mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) eingegangen war.2 Ouattara war in diesem Fall eine Art „verlorener Sohn“. Er war 1941 in der Elfenbeinküste geboren, hatte in Obervolta (heute Burkina Faso) Abitur gemacht und dann Wirtschaftswissenschaften in den USA studiert. Nach einem hervorragenden Abschluss wurde er einer der Stellvertretenden Geschäftsführenden Direktoren des IWF in Washington. Als ihn Houphouët-Boigny 1990 zum Premierminister berief – das einzige Mal, dass der Präsident dieses Amt schuf –, stand das ivorische Wunder kurz vor seinem Ende: Die Kakaopreise waren abgestürzt, die Staatsschulden explodierten, und der müde „Alte“ (wie Houphouët-Boigny genannt wurde) musste sein Land in Richtung eines Mehrparteiensystems lenken. In dieser Situation hatte „Alassane, der Amerikaner“ als Technokrat den Vorteil, über dem politischen Gerangel und den Palastintrigen zu stehen. Der Adoptivsohn des „Alten“, den niemand kannte, hätte die Thronfolger eigentlich nicht beunruhigen müssen. Aber es kam anders, als Houphouët-Boigny, inzwischen Dauerpatient in Schweizer und französischen Kliniken, eine Verfassungsänderung erließ, damit sein Premierminister in seiner Abwesenheit regieren kann.

Als liberaler Ökonom setzte Ouattara auf Privatisierung und Kürzung der öffentlichen Ausgaben. Zugleich begann er den Kampf gegen die staatliche Misswirtschaft und eine Reform des Steuersystems, mit der er sich all jene zu Feinden machte, die erstmals Steuern zahlen mussten. Auch bedrohte er die üppigen Pfründe einiger Höflinge des Regimes. Der Premier war weder charismatisch noch populär und bekam schon damals den Vorwurf zu hören, kein echter Ivorer zu sein. Am Ende sah sich Houphouët-Boigny gezwungen, die „Ivorité“ seines Schützlings öffentlich zu bestätigen.

Mit dem Tod des Staatschefs am 7. Dezember 1993 kam der untergründige Konkurrenzkampf der Thronprätendenten zum offenen und öffentlichen Ausbruch. Während Ouattara noch im Radio das Ableben des Präsidenten verkündete, gelang es Bédié, im Fernsehen seinen Anspruch auf die Interimspräsidentschaft anzumelden, wie es die ursprüngliche Verfassung vorgesehen hatte. Tags darauf erklärt Ouattara gegenüber der französischen Presseagentur AFP, er werde nicht zurücktreten. Am Ende musste er doch – unter internationalem und insbesondere französischem Druck – auf sein Amt verzichten. Diese Pattsituation ließ für die Zukunft Böses ahnen.

Ouattara kehrte auf seinen IWF-Posten zurück, hielt sich aber für die Wahl von 1995 bereit. Dann wurde ihm seine Kandidatur durch das umstrittene Konzept der Ivoirité3 verbaut, das Bédié genau zu diesem Zweck eingeführt hatte. Daraufhin tat sich der vormals liberale Premierminister mit dem Sozialisten Gbagbo zusammen. Dieser hatte sich bei den Präsidentschaftswahlen von 1990 profiliert, als er gegen den Vater der nationalen Unabhängigkeit angetreten war und in einer historischen Abstimmung immerhin 18 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Allerdings entschlossen sich Ouattara und sein neuer Verbündeter angesichts der Manöver der Machthaber zu einem Wahlboykott. Damit wurde Bédié 2005 mit 96,44 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt.

Seitdem mussten die verfeindeten Brüder Bédié und Ouattara mit einem dritten Rivalen rechnen. Der studierte Historiker Laurent Gbagbo ist gewissermaßen der rebellische Sohn. Der 1945 im Herzen des Landes der Bété geborene Gbagbo kam über den studentischen Syndikalismus in die Politik. Wegen seiner Opposition gegen die Vorherrschaft der PDCI an den Universitäten wanderte er mehrmals ins Gefängnis: zuerst 1969, mit anschließendem zweijährigen Militärdienst als „Erziehungsmaßnahme“ (1971 bis 1973), dann 1992 auf Geheiß von Premierminister Ouattara, dem Statthalter des immer noch an der Macht klebenden Houphouët-Boigny.

1982 gründet Gbagbo im Untergrund die Ivorische Volksfront (Front Populaire Ivoirien, FPI), die der Sozialistischen Internationalen beitrat. Im Pariser Exil nahm ihn die Sozialistische Partei auf, in deren Reihen er bis heute gewisse Sympathien genießt. Präsident François Mitterand hat ihn jedoch nie empfangen, weil er seinen Verbündeten Houphouët-Boigny, den Paris zum Hüter der „frankoafrikanischen“ Einflusssphäre auserkoren hatte, nicht verärgern wollte.

Als in den frühen 1990er Jahren das Einparteiensystem beendet wurde, wollte Gbagbo die offizielle Opposition repräsentieren. Während der Vater der Unabhängigkeit seine ländliche Anhängerschaft ansprach, wandte sich der sozialistische Professor vor allem an die verarmte städtische Bevölkerung, die von einer besseren Zukunft träumte: deklassierte Jugendliche und Studierende, die vom „Houphouetismus“ nichts mehr wissen wollten. Er betrieb die Gründung der Studentenvereinigung Fesci, wörtlich: Schülerföderation der Elfenbeinküste (Fédération estudiantine et scolaire de Côte d’Ivoire), die zum entscheidenden Vehikel für seinen politischen Aufstieg wurde. Generalsekretär der Fesci war seit 1995 Guillaume Soro, der von 2002 bis 2006 die bewaffnete Rebellion anführte und 2007 unter Gbagbo zum Premierminister wurde. Nach der umstrittenen Präsidentenwahl von 2010 wechselte Soro das Lager und wurde von Ouattara zum Premierminister ernannt.

Das Gift der Ivorité

Houphouët-Boigny hinterließ seinem Land also drei rivalisierende Brüder: Bédié, das verwöhnte Kind, Ouattara, den verlorenen Sohn, und Gbagbo, den Rebellen. Die Konkurrenz dieser drei trat Ende 1999 in eine neue Phase: Am 24. Dezember wurde Bédié durch einen Staatsstreich junger Offiziere gestürzt. Neuer Machthaber wurde General Robert Gueï, der dem korrupten und unbeliebten Regime und damit der PDCI-Ära ein Ende setzte.

Eine Hinterlassenschaft von Bédié war das Konzept der Ivoirité, das zum Nährboden einer gesellschaftlichen Teilung wurde und insofern einen Verrat am Erbe von Houphouët-Boigny bedeutete. Der Vater der Unabhängigkeit hatte stets auf ein relatives Gleichgewicht bei der Machtverteilung geachtet, das alle Ethnien mit ihrem jeweiligen demografischen Gewicht berücksichtigte. Zudem war es den drei bis vier Millionen Ausländern (ein Viertel der Bevölkerung), auf deren Arbeitskraft das „ivorische Wunder“ beruhte, bis 1994 gestattet, ihre Stimme für Houphouët-Boigny abzugeben.4

Nachdem er Zweifel am Prinzip der Ivorité angedeutet hatte, trat General Gueï im Jahr 2000 entgegen seinen ursprünglichen Absichten zu den Präsidentschaftswahlen an. Zuvor hatte er mit einigen juristischen Tricks dafür gesorgt, dass seine Hauptrivalen nicht antreten konnten. Im Wahlkampf wurde dann der Vater der Nation kaum noch erwähnt. Die Ivorer wollten einen Schlussstrich unter vierzig Jahre PDCI-Herrschaft ziehen, deshalb nahmen sie den Ausschluss der zwei aus dem „Ancien Régime“ hervorgegangenen verfeindeten Brüder, Bédié und Ouattara, weitgehend gelassen hin – abgesehen von der Bevölkerung im Norden.

Doch die Ivoirité wirkt wie ein schleichendes Gift, das nicht so leicht wieder ausgeschieden werden kann. Und die politischen Gräben haben die ethnischen Bruchlinien weiter vertieft. Der Ausschluss von Ouattara mit der Begründung, dass er ein Burkiner sei, schloss automatisch gut ein Drittel der Wähler – die des Nordens – aus.

Damit war Gbagbo bei den Wahlen vom 22. Oktober 2000 der einzige Gegenkandidat des Putschgenerals. Der ließ am Wahltag, als sich seine Niederlage abzeichnete, die Stimmenauszählung stoppen und die Mitglieder der Wahlkommission verhaften. Er selbst begab sich zum staatlichen Sender RTI (Radio-Télévision Ivoirienne, RTI) und erklärte sich zum Wahlsieger.

Am 24. Oktober mobilisierte Gbagbo seine Anhänger über die internationalen Medien – besonders wichtig war dabei Radio France Internationale (RFI) – mit dem Satz: „Von nun an bin ich der Staatschef der Elfenbeinküste.“ Als seine Aktivisten auf die Straße gingen und auf das RTI-Gebäude zu marschierten, kam es zu blutigen Kämpfen mit dem General ergebenen Militäreinheiten. Der Kampf wurden durch die paramilitärische Gendarmerie entschieden, die sich auf die Seite Gbagbos stellte. Dieselbe Gendarmerie half anschließend mit, die Anhänger von Ouattara niederzuknüppeln, als diese ebenfalls – aber für Neuwahlen – demonstrierten.

Nachdem General Gueï seinen Rücktritt erklärt hatte, verkündete die Wahlkommission, dass Gbagbo mit 60 Prozent der Stimmen gewonnen hatte – bei einer Wahlbeteiligung von nur 37 Prozent. Bei den Unruhen nach der Wahl soll es 300 Tote gegeben haben. Der neue Präsident musste später zugeben, dass seine Wahl unter „unheilvollen Bedingungen“ stattfand.5 Frankreich war damals eines der ersten Länder, das den Sieg des sozialistischen Akademikers anerkannte. Bald darauf nahm Paris die nach dem Staatsstreich von Weihnachten 1999 unterbrochene Zusammenarbeit mit seiner ehemaligen Kolonie wieder auf.

Der Lauf der Dinge nach den Wahlen im Dezember 2010 mutet an wie das seitenverkehrte Spiegelbild der Ereignisse im Oktober 2000. Jetzt versucht Gbagbo nach Kräften, die Arbeit der Wahlkommission zu behindern, und er nutzt das RTI als Propagandainstrument und zur medialen Inszenierung seiner Vereidigung. Und es ist Gbagbos Gegenspieler Ouattara, der sich auf RFI (und in der ausländischen Presse) als Sieger proklamiert und seine Anhänger aufruft, auf die Straße zu gehen, um ihm die Macht zu sichern. Damit droht ein neuer verheerender Konflikt. Genau wie nach den Wahlen vor zehn Jahren, die zu der bewaffneten Rebellion vom September 2002 und zur faktischen Teilung des Landes geführt hatten – eine Reaktion auf die Ausgrenzung des Nordens, für den der Ausschluss Ouattaras von den Wahlen des Jahres 2000 als Symbol steht.

Aber der Bürgerkrieg (2002–2006) und der anschließende „bewaffnete Frieden“6 haben den Geist von Houphouët-Boigny wieder aufleben lassen. Die Herrschaft des „Alten“, die auf florierenden Kakaoexporten basierte, hatte mittels einer geschickten Verteilung von Vergünstigungen für Frieden und Wohlstand gesorgt. Die Ivorer sind immer noch auf dieses „verlorene Paradies“ fixiert. So wie es der „Alte“ immer mit dem Satz beschworen hatte, der seinerzeit als Motto jeder Nachrichtensendung vorangestellt war: „Das wahre Glück weiß man erst zu schätzen, wenn man es verloren hat.“

Die Ivorer verdrängen dabei natürlich, dass die Verschlechterung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse schon lange vor 1993 eingesetzt hatte, zumal seit der von IWF und Weltbank verordneten Rosskur des „Strukturanpassungsprogramms“. Tatsache bleibt aber, dass das Land seit 1993 keine Verbesserung mehr erlebt hat. Heute sind die Ivorer den endlosen Erbfolgekrieg leid und wollen nichts als Frieden. Die drei „Söhne“ haben dies sehr wohl verstanden – und vertiefen doch ständig die Trennlinien, statt sich um eine einträchtige Lösung zu bemühen.

Seit Mai 2005 haben sich Bédié und Ouattara – der eine von der Macht verjagt, der andere von ihr ferngehalten – zu einem Bündnis zusammengetan. Der Name der Allianz klingt nach einer Wiederauferstehung der PDCI: „Houphouetisten für Demokratie und Frieden“ (Rassemblement des houphouétistes pour la démocratie et la paix, RHDP). Das bedeutet, jenseits aller Taktik, auch eine Wiederbelebung der Allianz zwischen der Bevölkerung des Nordens (Senufo, Malinké oder Dioula) und den Baoulé. Zusammengenommen machen diese Ethnien, die schon Houphouët-Boigny zur Basis seiner Herrschaft gemacht hatte, die Mehrheit der ivorischen Bevölkerung aus.

Demgegenüber gibt sich Gbagbo heute als Verteidiger der ivorischen Souveränität gegen ausländische – insbesondere französische – Einmischung. Er fordert bereits seit 2001 eine Revision der Verträge, von denen die Unternehmen der alten Kolonialmacht profitieren, mit der Houphouët-Boigny stets beste Beziehungen unterhalten hatte.

Die dritte Brücke von Abidjan

Gbagbo muss allerdings, um möglichst viele Ivorer für sich zu gewinnen, die sehr einflussreiche Ethnie der Baoulé auf seine Seite ziehen. Er kommt also nicht umhin, sich als Erbe Houphouët-Boignys darzustellen. Und das nicht nur, weil der alte Präsident ein herausragender Repräsentant der Baoulé war, sondern vor allem, weil er die nationale Eintracht verkörpert. Auch Gbagbo muss also paradoxerweise das Vorbild des „Alten“ beschwören, gegen dessen Politik und autoritäre Methoden er so lange gekämpft hat.

Im Wahlkampf 2010 trat der Präsident als der einzige echte Erbe des legendären „Alten“ auf. So hat er die Bauarbeiten wieder angekurbelt, die für den Umzug der Regierung nach Yamoussoukro erforderlich sind. In der im Zentrum des Landes gelegenen offiziellen Hauptstadt (seit 1983) wurde Staatsgründer Houphouët-Boigny geboren (in dem damaligen Dorf hatte er sich eine pharaonische Basilika errichten lassen). Alle Bauprojekte werden von dem Architekten Pierre Fakhoury geleitet, der auch für das Straßennetz in den Großstädten, für den Bau des neuen Präsidentenpalasts und die Errichtung des Houphouët-Boigny-Denkmals in Abidjan verantwortlich ist – sowie für die Laurent-Gbagbo-Brücke, die in Abidjan als dritte Brücke entsteht (die beiden ersten sind nach Houphouët-Boignys und Charles de Gaulles benannt). Gbagbo bemühte sich sogar, die Witwe des verstorbenen Präsidenten zu umgarnen: Er kaufte die Villa zurück, die Madame Thérèse Boigny mit ihrem Mann bewohnt hatte, bevor sie diese im Kasino verspielte.

Das Jahr 2010 erlebte den – vielleicht letzten – Wettstreit um das Erbe des Vaters der Nation. Doch jenseits der Worte und Symbole stellt sich die Frage, wie die Hinterlassenschaft des „Alten“ für die drei Nachfolgeprätendenten tatsächlich aussieht.

Beginnen wir mit Bédié. Der hat von seinem Mentor nur dieselben ethnischen Wurzeln mitbekommen: Der völlig uncharismatische Mann war zweifellos der am meisten verhasste Präsident der Elfenbeinküste. Am Ende seiner Amtszeit nannten man ihn nur noch den Säufer (n’zueba). Nach den zehn unheilvollen Jahren seit der Wahl vom Oktober 2000 füllte er jedoch für PDCI-Anhänger noch am ehesten das Image des Parteierben aus, zumal er so viele Jahre mit dem „Alten“ verbracht hatte.

Ouattara dagegen erinnert durch seinen Ruf als Ausländer, den seine Gegner ihm fälschlicherweise anhängen, an die „panafrikanische“ Berufung der Elfenbeinküste, also an den Panafrikanismus, den Houphouët-Boigny für den Staat Elfenbeinküste beanspruchte, ohne diesen exportieren zu wollen, wie es sein ghanaischer Widersacher Kwame Nkrumah versuchte.

Am schwierigsten scheint es, Gbagbo zu verorten. „O weh, du bis mir ähnlich“, soll der „Alte“ einmal zu ihm gesagt haben.7 Wenn das stimmt, lag er nicht ganz falsch. Immerhin hat Gbagbo die ethnische Geopolitik der ivorischen Nation am besten begriffen.

Wie Houphouët-Boigny ist Gbagbo der gewiefteste ivorische Politiker seiner Zeit, dabei viel eher Pragmatiker als Sozialist. Er kann sich mal die Nationalflagge umlegen und ein andermal den traditionellen Clanchef geben. Obgleich die Polygamie in der Elfenbeinküste verboten ist, hat er nach traditionellem Ritus eine zweite Frau geehelicht: die aus dem Norden stammende Nady Bamba. Für seine politischen Aussichten war das nicht ungünstig, denn seine zweite Frau war im Wahlkampf 2010 vor allem für die Kommunikation mit der Bevölkerung des Nordens zuständig. Hier war ihm auch ein eigens angeheuerter Berater von Nutzen: Issa Malick Coulibaly gehört zu einer sehr einflussreichen Familie, deren Patriarch der Gründer von Korhogo, der wichtigsten Stadt des Nordens war – und zugleich ein enger Verbündeter von Houphouët-Boigny.

Der Vater der Nation, der schon zu Kolonialzeiten die Abschaffung der Zwangsarbeit durchgesetzt hatte, war zugleich Erfinder des Wortes „Françafrique“. Für ihn war das ein positiver Begriff, der das nützliche Bündnis einer freien Elfenbeinküste mit Frankreich meinte. Für Gbagbo dagegen macht das Wort „Françafrique“ die ausländische Bevormundung kenntlich, die er zu beenden verspricht. Und während sich Houphouët-Boigny sein Leben lang um enge Beziehungen zu den französischen Präsidenten (von de Gaulle bis Chirac) bemühte, wettert sein Nachfolger gegen das „Françafrique de Papa“ und beschwört eine „zweite Unabhängigkeit“.

Solche Slogans klingen allerdings merkwürdig, wenn man an die französischen Freunde von Präsident Gbagbo denkt. Zum Beispiel an Vincent Bolloré, der 2003 die Konzession für den Hafen von Abidjan erwerben konnte und anschließend zum Kommandeur des nationalen Ordens der Elfenbeinküste ernannt wurde. Oder an Robert Bourgi, enger Freund und offizieller Afrikaberater Sarkozys. Und was sollen wir von Charles Blé Goudé halten, dem treuesten von Gbagbos Getreuen und Anführer der bewaffneten Allianz der „jeunes patriotes“, der gerade zum Jugendminister des Landes ernannt wurde? Der hatte keine Skrupel, ein von seiner Firma für „politische Kommunikation“ vermitteltes Musikevent zu organisieren – und vom französischen Telecom-Giganten Orange sponsern zu lassen.

Und war es nicht Frankreich, von dem Gbagbo 2002 unter Berufung auf die Verteidigungsabkommen von 1961 militärischen Beistand gegen die Rebellentruppen im Norden forderte? Die Elfenbeinküste des Monsieur Gbagbo darf man sich künftig als ein „Françafrique“ vorstellen, das sich statt auf die Pariser Regierung auf französische Privatunternehmen stützt.

Womöglich leidet Gbagbo unter dem „Syndrom des ewigen Oppositionellen“, der lange mit wenig demokratischen Mitteln von der Macht ferngehalten wurde, an die er sich jetzt umso verbissener krallt. Während seine Anhänger behaupten, dass er nur durch den Bürgerkrieg gehindert wurde, seine tollen Projekte zu realisieren.

Was Präsident Sarkozy betrifft, so achtet er beim Thema Elfenbeinküste auf eine gewisse Distanz – wohlwissend, dass alles, was vom Elysée-Palast kommt, für die Franzosen und ihre Unternehmen in der Elfenbeinküste schädlich sein könnte. Nach der Wahl vom Dezember 2010 hat sich der französische Staatschef bewusst erst nach Barack Obama zu Wort gemeldet – was Frankreich nicht davor bewahrt, von Gbagbos „Patrioten“ aufs Korn genommen zu werden.

Für die ivorische Bevölkerung könnte es – trotz der unheilvollen aktuellen Entwicklungen – doch ein positives Vermächtnis geben, das ihnen der „Alte“ hinterlassen hat: das unbedingte Festhalten an der nationalen und damit auch territorialen Einheit der Elfenbeinküste. Die Frage ist, ob auch die drei verfluchten Söhne des Houphouët-Boigny noch zu diesem Ziel stehen.

Fußnoten: 1 Rede vom 4. Oktober 2010, nach: www.ladepechedabidjan.net. 2 Bedingung war auch im Fall Elfenbeinküste ein Programm struktureller Anpassungsmaßnahmen, die auf Privatisierungen, Freihandel und den Abbau staatlicher Dienstleistungen hinausliefen. 3 Restriktive Definition der nationalen Identität, die es jedem auferlegt, der an den Wahlen teilnehmen möchte – als Kandidat oder als einfacher Wahlbürger –, seine ivorische Herkunft zu beweisen. 4 1994 hat Bédié das Wahlrecht der Ausländer abgeschafft, aber auch Gbagbo sprach bereits seit 1990 von dem „Stimmvieh“, das sich der „Alte“ mit den Ausländern verschafft hatte. 5 www.gbagbo.ci. 6 Unter der Schirmherrschaft von Burkina Faso brachte das Friedensabkommen eine politische Übergangslösung, mit Soro als Premierminister unter Präsident Gbagbo. 7 So in der Parteizeitung Notre Voie („Unser Weg“) vom 4. November 2009.

Aus dem Französischen von Nicolai Röschert und Niels Kadritzke

Vladimir Cagnolari ist Journalist. Der Autor dankt Vanadis Feuille.

Was wann geschah

19. September 2002 Ivorische Militärs erobern von ihrem Exil in Burkina Faso aus den Norden des Landes, schaffen es jedoch nicht, die Hauptstadt Abidjan einzunehmen. Das Land ist zweigeteilt.

22. September 2002 Frankreich evakuiert seine Staatsangehörigen. Die bei dieser Operation „Einhorn“ eingesetzten Soldaten erhalten anschließend den Auftrag, die Kriegsparteien zu trennen.

23. September 2002 Die Wirtschaftsgemeinschaft der Staaten Westafrikas (Ecowas) bildet eine Friedenstruppe.

26. Januar 2003 Die Abkommen von Marcoussis (Paris) sehen eine Machtteilung vor.

27. Februar 2004 Die UN beauftragt die Unoci, eine 6 500 Mann starke Blauhelmtruppe (davon 4 000 Franzosen), mit der Friedenssicherung.

11. Oktober 2004 Demonstranten greifen die Unoci an, es gibt mehrere Verletzte.

6. November 2004 Die nationalen ivorischen Streitkräfte (Fanci) bombardieren die französische Basis in Boauké, dabei gibt es neun Tote und 37 Verletzte. Daraufhin zerstört Frankreich zwei Bomber und vier Kampfhubschrauber der ivorischen Luftwaffe. Anschließend kommt es in Abidjan zu Demonstrationen, die von französischen Truppen beschossen werden.

4. März 2007 Friedensabkommen von Ouagadougou (Burkina Faso). Der Rebellenchef Guillaume Soro wird an die Spitze einer Übergangsregierung berufen.

29. November 2009 Die für diesen Tag vorgesehene Präsidentschaftswahl wird verschoben.

31. Oktober 2010 Aus dem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl gehen Alassane Dramane Ouattara und Amtsinhaber Laurent Gbagbo als Sieger hervor. Der Drittplatzierte Henri Konan-Bédié empfiehlt seinen Anhängern, in der Stichwahl für Ouattara zu stimmen.

2. Dezember 2010 Die unabhängige Wahlkommission erklärt Ouattara zum Sieger der Stichwahl vom 28. November.

3. Dezember 2010 Der Verfassungsrat annulliert die Stimmen aus mehreren Departements des Nordens und erklärt Gbagbo zum Wahlsieger.

Le Monde diplomatique vom 14.01.2011, von Vladimir Cagnolari