Das alte Elend von Haiti
Die Häuser sind zerstört, die Fundamente der Gesellschaft nicht erschüttert von Christophe Wargny
Haitis internationaler Flughafen Toussaint L’Ouverture ist mit seinem blitzsauberen und beinahe einladenden Ambiente kaum wiederzuerkennen. Auf Fahrsteigen und Rolltreppen gelangt man vom Flugzeug aus an den noblen Duty-free-Boutiquen vorbei direkt in die Ankunftshalle.
Vor dem Erdbeben hat es das alles nicht gegeben. Der Flughafen macht dem Ankömmling Hoffnung: Offenbar hat der Wiederaufbau begonnen, die ersten der versprochenen Milliarden kommen endlich dort an, wo sie gebraucht werden. Man stellt sich schon all die Planierraupen, Bagger und Muldenkipper vor, die das Land umkrempeln. Und man erwischt sich bei dem Gedanken, dass sie es sind, die für den blokus sorgen, diesen irrwitzigen Dauerstau in der Hauptstadt Port-au-Prince, von dem der Taxifahrer schon beim Einsteigen sagt, dass er im Grunde nie aufhört.
Aber der erste Eindruck täuscht. Sieht man von der Räumung der wichtigsten Verkehrsadern ab, ist der Wiederaufbau des Flughafens das einzige abgeschlossene Großprojekt der vergangenen 12 Monate. Die Herrschaft der Eliten, die das Land seit 200 Jahren im Würgegriff halten, hat – im Gegensatz sogar zu den solidesten Gebäude der verwüsteten Innenstadt – das Beben vom 12. Januar 2010 unbeschadet überstanden. Die Kleptomanie der politischen Klasse macht nicht einmal vor den Worten Halt: Sie hat sich auch den Begriff refondation gekrallt, der eigentlich einen radikalen Neuanfang bezeichnen sollte, einen gesamtgesellschaftlichen Aufbruch und tiefgreifenden Umbau der staatlichen Strukturen. Diese Bedeutung ist völlig verloren gegangen: Das Wort refondation steht für nichts anderes als Kontinuität.
Die Zahlen sind zur Genüge bekannt: 300 000 Tote, ebenso viele Verletzte, weit mehr als eine Million Obdachlose, von denen die meisten in einem der hunderten Zeltlager rund um die Hauptstadt gestrandet sind. Aber diese makabre Bilanz geht auch auf die Trägheit (oder Gewissenlosigkeit?) eines Staates zurück, der nur eine Karikatur seiner selbst ist: ohne funktionierende Strukturen, ohne finanzielle Mittel und ohne politische Legitimität. Das Chaos in Haitis Städten und das Fehlen einer Infrastruktur, die diesen Namen verdient, ist für das Elend ebenso verantwortlich wie die Plattentektonik in der Karibik.
Die Fernsehberichte aus Port-au-Prince zeigten vor allem spektakuläre Katastrophenbilder und vermittelten den Eindruck, dass die Stadt bis auf die Grundmauern zerstört wurde. Diese Darstellung ist zwar falsch, die Realität aber deshalb nicht weniger tragisch. Nur wenige Quartiere sind völlig zerstört, in den alten Wohnvierteln der Innenstadt und des westlichen Port-au-Prince haben drei von vier Häusern dem Beben mehr oder weniger standgehalten. Eingestürzt sind vor allem mehrstöckige öffentliche Gebäude. Bei den Häusern an den umliegenden Hängen (je höher die Lage, desto reicher die Besitzer) sind die Schäden eher gering. Diesen Eindruck bestätigt die Klassifikation der Gebäudeschäden, die hunderte haitianische und ausländische Bauingenieure nach dem Beben vorgenommen haben. Sie malten die Buchstaben MTPCT (Abkürzung für das Bauministerium) an die Wände, und zwar in Grün (bewohnbar) oder Gelb (Bauarbeiten erforderlich) oder Rot (unbewohnbar/Abriss). Je weiter man die Hänge hinaufsteigt, umso mehr dominiert das Grün. Dagegen ist das Zentrum unten überwiegend rot – und die Mehrzahl seiner Bewohner in den Lagern.
Diese Lager sieht – und riecht – man sofort nach der Ankunft. Viele liegen um den Flughafen, in den Vororten Croix des Bouquets und Tabarre und in der gesamten Cul-de-Sac-Ebene. Dichte Reihen von Plastikplanen, die vom Wind gebläht wie riesige blau-weiße Wellen anmuten, locker gesprenkelt mit Farbtupfern von irgendwelchen Schutzanstrichen. In diesen Lagern haben vor allem die Menschen Zuflucht gefunden, die entlang der Küste oder auf den Hügeln in den seit Jahrzehnten wuchernden Elendsquartieren gewohnt haben, denen die Zeltlager bereits zu ähneln beginnen.
Die Zelte stehen so dicht aneinander, dass kaum ein Plastiktisch dazwischen passt. Die extreme Enge macht das Leben vor allem in der Regenzeit nahezu unerträglich. Daran ändert auch die „sofortige“ und „umfassende“ Hilfe aus dem Ausland nichts. Noch bevor man überhaupt das Zentrum von Port-au-Prince erblickt, wird die Ahnung zur Gewissheit: Wenn es bei dem jetzigen Tempo der Entscheidungen bleibt, werden die „Notquartiere“ noch eine Ewigkeit existieren.
Das beste Flüchtlingslager ist am Golfplatz
Am Golfplatz im Nobelvorort Pétionville, wo die besseren Kreise früher unter sich waren, ist ein Lager für 30 000 Menschen entstanden. Seine Bewohner sind in mehrerer Hinsicht privilegiert, denn die Landschaftsplaner haben hier, um es den Golfspielern möglichst angenehm zu machen, für ausreichend Baumschatten und breite Wege gesorgt. Die Bäume bieten den Bewohner zwischen den Regengüssen einen Schutz vor der stechenden Sonne, die Wege regulieren das chaotische Gewühl, das in anderen Lagern zum Alltag gehört. Auch sind entlang der Wegränder lange Reihen von Sandsäcken aufgeschichtet, die das Regenwasser ableiten, es gibt eine improvisierte Schule, eine Kinderklinik und genügend Trinkwasser für alle. An manchen Tagen hat sogar ein Internetcafé geöffnet. Außerdem leben die Bewohner von Pétionville nicht weit von ihren angestammten Vierteln, aus denen das Erdbeben sie vertrieben hat.
Diverse Nichtregierungsorganisationen (NGOs) stellen die Trinkwasserversorgung sicher, leisten die medizinische Grundversorgung und leeren die Latrinen. Wie in vielen anderen Krisengebieten ist auch in Haiti die UNO mit ihrer Mission des Nations Unies pour la stabilisation d’Haiti (Minustah) im Einsatz. Das ist sie allerdings nicht erst seit dem Erdbeben, sondern schon seit dem Sturz von Präsident Jean-Bertrand Aristide im Gefolge der französisch-amerikanischen Militärintervention von 2004. Und wie in anderen Krisenländern scheint auch in Haiti der Staat kaum zu existieren. „Einen Minister habe ich hier nie gesehen“, versichert ein Bewohner, der sich in der Selbstverwaltung des Lagers engagiert. „Vielleicht haben die Politiker Angst vor dem Zorn der Leute.“
Zwar ist Pétionville privilegiert, in vielen Lagern herrschen weit schlimmere Zustände. Aber auch hier halten die Zeltplanen den Regenstürmen oft nicht stand. Auch hier gibt es Myriaden von Stechmücken, aber auch Ratten und andere Parasiten. Trotz dieser Widrigkeiten äußert sich der Lebens- und Überlebenswillen der Menschen im Handel mit frischem Zuckerrohr, Coke, dem Zuckerrohrschnaps Clairin oder Seife. Einige Imbissbuden sind entstanden, dazu zaghafte Ansätze handwerklichen Gewerbes. Und in den stinkenden Zeltgassen floriert der Kleinhandel.
Nachdem die Cholera seit fast einhundert Jahren von der Insel verschwunden war, kann sich die Seuche heute wieder über das verschmutzte Wasser ausbreiten. Dabei lässt sich die Krankheit im Grunde ganz leicht eindämmen; mit sauberem Wasser und ausreichenden Gelegenheiten zum Händewaschen wäre schon viel erreicht. Dennoch sind in Haiti seit Mitte Dezember bereits 100 000 Menschen erkrankt. Etwa ein Drittel von ihnen musste im Krankenhaus behandelt werden; 2 200 Menschen sind gestorben.
Am 5. November wütete der Wirbelsturm „Tomas“ auf der Insel. Damit wurde die Ausbreitung der Cholera-Erreger noch mehr begünstigt, denn der starke Regen lässt die Sickergruben überlaufen. Weil sich deren Inhalt mit dem fortgeschwemmten Müll vermischt, verwandeln sich die Lager in riesige Kloaken, in denen die Cholera-Erreger prächtig gedeihen.
Ein weiteres Problem sind die skrupellosen Grundbesitzer. In Pétionville haben sie Flüchtlinge bedroht und von den Grundstücken am Golfplatz vertrieben. Die Auseinandersetzungen nehmen immer häufiger gewalttätige Formen an, denn die Parzellen werfen große Gewinne ab und bei explodierenden Baulandpreisen treibt die Spekulation fantastische Blüten. Das Erdbeben hat zahlreiche Archive vernichtet, viele Besitztitel lassen sich nicht belegen, da es im ganzen Land kein Kataster gibt, was zu unzähligen Rechtsstreitigkeiten um das Eigentum an Land und Immobilien führen wird.
Die Wohnungsmieten haben sich als Folge des verringerten Angebots und der hohen Nachfrage in kurzer Zeit verdreifacht. Ausländische NGOs haben es eilig und können meist nicht lange feilschen. Mancher Haitianer hat so ein Vermögen verdient – und die Position der alten Oligarchen wird konsolidiert. „Die Solidarität der ersten Tage ist längst verpufft“, bestätigt ein Arzt. „Inzwischen hat sich die Entwicklung umgekehrt: Die Ungleichheit verschärft sich noch.“ Sie ist in Haiti schon jetzt größer als in jedem anderen Land Amerikas.
Das oberste Gebot heißt immer noch: aufräumen. Aber statt mit Baggern und Kränen kämpfen Männer in T-Shirts mit den Aufdrucken diverser NGOs mit Schaufel und Besen gegen den Schutt – eine Sisyphusarbeit, denn oft schwemmt der tropische Regen die aufgeschütteten Haufen über Nacht wieder fort. Dass die Arbeit nur langsam vorangeht, ist eine krasse Untertreibung. Jeder hier weiß es und sagt es: Wenn die Aufräumarbeiten in diesem Tempo weitergehen, werden Trümmer und Müll auch in zehn Jahren noch herumliegen.
Trümmer werden mit Schaufel und Besen geräumt
Der Weg aus den Zeltstädten soll für die Obdachlosen zunächst in provisorische Behausungen führen, genannt „T-Shelters“. Das sind Hütten aus Holz, Plastik und Blech, die etwa drei bis fünf Jahre halten. Eine solche Behausung ist 15 Quadratmeter klein und kostet 1 500 Euro. 140 000 dieser Hütten sind vorgesehen, das Geld dafür ist da. Aber wo soll man sie hinstellen? Auf welche Grundstücke? Und wie bekommt man die? Durch Enteignung? Durch Kauf unter der Hand? In Haiti spielen bei der „Wohnungspolitik“ fünf verschiedene Ministerien mit, entsprechend sind die Resultate. Tatsächlich existiert keinerlei kohärente Strategie: Trotz des riesigen Bedarfs wurden in den vergangenen 11 Monaten nur 11 000 T-Shelters aufgestellt. Wenn die letzte Hütte endlich steht, müssen die ersten schon wieder abgerissen werden – und die Bewohner der Zeltlager werden nicht weniger.
Nach dem Erdbeben im Januar 2010 floh fast eine halbe Million Menschen aus der Stadt und suchte Schutz auf dem Land. Die Provinzen versuchten – gemeinsam mit ansässigen NGOs und den (mittellosen) Gemeinden – Schulen, Wohnraum, ärztliche Hilfe, Nahrungsmittel und psychologische Betreuung für sie bereitzustellen. Familien drängten sich auf engstem Raum, um die Verwandten aus der Stadt aufzunehmen, und verbrauchten nicht selten ihre gesamten Ersparnisse. Infolge dieser Massenflucht sind die Landgemeinden heute noch ärmer als zuvor. Der extremen Zentralisierung des Landes, einem sehr alten politischen Übel, hat man nun noch weniger entgegenzusetzen.
Nach wenigen Monaten kehrten 80 Prozent der Hauptstädter wieder nach Port-au-Prince zurück. Trotz aller Schwierigkeiten ist die Versorgungssituation in der Hauptstadt sogar im Zeltlager immer noch besser als in einer einsamen Hütte auf dem Land. So stellte sich bald wieder das übliche Muster der Binnenmigration ein, die Landflucht. Das wird die Existenz der Lager in Port-au-Prince zusätzlich verstetigen.
Schon seit langem erwarten die Haitianer öffentliche Dienstleistungen nicht mehr vom Staat, sondern von internationalen Hilfsorganisationen. Schon vor dem Erdbeben hielt das Welternährungsprogramm der UN (WFP) fast zwei Millionen Haitianer am Leben, ebenso viele leben von den Rücküberweisungen der haitianischen Emigranten.1 Diese Abhängigkeit ist durch das Erdbeben nun noch größer geworden. Ob einem das gefällt oder nicht: In Port-au-Prince sind die NGOs absolut notwendig für das Überleben.
Neben den verschiedenen Missionen der Vereinten Nationen sind 10 000 Hilfsorganisationen und Solidaritätsverbände aus aller Welt damit beschäftigt, Haiti am Leben zu halten. Mehr als tausend von ihnen arbeiten vor Ort. Den Behörden ist die Hälfte von ihnen unbekannt, aber jeder Haitianer erkennt ihre Logos auf den ersten Blick.
Wie ehemals die Kolonialmächte kommen sie von beiden Seiten des Atlantiks, aus den Vereinigten Staaten und aus Europa. Sie sind in fast jedem Lager vertreten und tragen mit ihren luxuriösen Fuhrparks und der aufwendigen Logistik wesentlich zum Dauerstau im Großraum Port-au-Prince bei. Die NGOs beschäftigen mehr als 100 000 Haitianer für Aufräumarbeiten und zahlen dafür 200 Gourdes (knapp 4 Euro) pro Tag – ein Lohnniveau, das Präsident René Préval noch 2009 als zu hoch für die haitianische Wirtschaft einschätzte und trotz anhaltender Proteste beharrlich ablehnte. Doch in Haiti sind die Hilfsorganisationen mächtiger als der Staat.
Die Entwicklungshilfe ist in Haiti ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. 2009, im Jahr vor dem Erdbeben, machte sie ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts aus. Hunderttausende Haitianer leben seit langem direkt oder indirekt von den NGOs. Auch viele blan (kreolisch für Ausländer) leben sehr gut vom Geschäft mit der Hilfe. Der einfache Haitianer erkennt das an den schicken Restaurants und dem Inhalt der Mülleimer von Pétionville, der so üppig ist, dass die Armen sich davon ernähren.
Wer in Haiti über eine brauchbare Ausbildung verfügt, versucht entweder auszuwandern oder eine Anstellung bei einer Hilfsorganisation zu ergattern.2 Im Jahr 2009, nach jahrelanger Hilfe aus dem Ausland, die eigentlich zur Entwicklung Haitis hätte beitragen sollen, musste der reguläre Staatshaushalt Haitis immer noch zu 60 Prozent durch Gelder von internationalen Organisationen ausgeglichen werden. Trotz gewisser Fortschritte bei der Steuereintreibung sind die Einnahmeausfälle durch Korruption riesig. 2008 und 2009 verschwanden 300 Millionen US-Dollar, die Venezuela im Rahmen des Petrocaribe-Abkommens über Erdöllieferungen an Haiti rückerstattet hatte. In ähnlicher Größenordnung bewegen sich die Verluste durch Korruption bei der Vergabe öffentlicher Aufträge.
Neben den Hilfsorganisationen sind immer mehr Kirchen im Land aktiv, von denen einige gleichzeitig als Hilfs-NGO auftreten. Der Mangel an staatlichen Versorgungsleistungen beschert Evangelikalen, Pfingstlern und anderen Sekten einen Riesenerfolg.
Eines Nachmittags versammeln sich die Gläubigen zu Tausenden in Carrefour, einem Vorort von Port-au-Prince. Aus den Lautsprechern beschallt rhythmische Musik das ganze Viertel. Ein Teil der Menge beginnt zu tanzen. Predigten amerikanischer Pfarrer werden ins Kreolische übersetzt, es wird gesungen und frohlockt, aus der Bibel vorgelesen und der Auslegung örtlicher Prediger gelauscht, die ihre Ausbildung in weniger als einem Jahr absolviert haben. Zahlreiche Kranke hoffen auf Heilung durch Handauflegen, auch Wunder sind geboten. Doch vor allem dankt man dem Herrn für das tägliche Brot, das er einem über die evangelikalen Streiter zukommen lässt. „Glaubet, und ihr werdet erlöset!“
Neben den Evangelikalen und Pfingstlern sind in Haiti auch Zeugen Jehovas und Siebenten-Tags-Adventisten aktiv. Dazu kommen immer mehr neue Priester mit selbst geschaffenen Kulten. Diese ganze himmlische Heerschar versteht sich als religiöse Avantgarde und Wächter des rechten Glaubens: „Nieder mit den Voodoo-Tempeln, diesen Heimstätten des Teufels!“ Und dass Gott vor allem die öffentlichen Gebäude und den Dom hat untergehen lassen, dass er den Erzbischof aus seiner Residenz hat stürzen lassen, das sei doch kein Zufall.
Evangelikale Sekten haben immensen Zulauf
Nach Schätzungen des Religionssoziologen Laennec Hurbon sind heute nur noch 45 Prozent der Haitianer Katholiken – ein Rückgang von 30 Prozent in innerhalb von 25 Jahren. Mit ihren Wundern, Heilungen, Schuldbewusstsein und neuen Formen des Ablasshandels knüpft die evangelikale Bewegung auch festere Netze der Solidarität unter ihren Anhängern als die katholische Kirche. Bei den Evangelikalen und Zeugen Jehovas finden Jugendliche ohne Zukunft ein Sinnangebot, das erst einmal modern aussieht. Doch sie sind gegen jede Form der politischen Revolte und zerstören die Möglichkeit der Erneuerung der haitianischen Gesellschaft. Ihre Missionare bedienen sich der Vorstellungskraft ihrer Gläubigen, richten sie wie einen Schutzschild gegen die Realität. Sie füttern Emotionen und verhindern Reflexionen. In nur 30 Jahren hat Haiti hier einen langen Weg zurückgelegt: von der katholischen Befreiungstheologie, wie sie Präsident Aristide in den 1990er Jahren und der ersten Hälfte der 2000er Jahre verkörperte, zum Kult der Resignation.
Die Ausnahmezustand läuft bald aus – die Not aber nimmt zu. International wurden große Hoffnungen in die Interim Haiti Recovery Commission (IHRC) unter dem gemeinsamen Vorsitz des UN-Sondergesandten Bill Clinton und des haitianischen Ministerpräsidenten Jean-Max Bellerive gesetzt, die die Hilfe fortführen sollte. Die Erfolge der IHRC sind bisher allerdings mager: In 10 Monaten gab es lediglich drei Treffen auf höchster Ebene.
Nur wenige Projekte sind bisher angelaufen, und die Abstimmung unter den Geldgebern lässt zu wünschen übrig. Die haitianische Zivilgesellschaft wird kaum eingebunden, und hinter den Geldzusagen der Staaten steht oft vor allem der Wunsch der jeweiligen Regierung, die heimischen Firmen im Aufbaugeschäft unterzubringen. Die angekündigten 10 bis 15 Milliarden Dollar scheinen noch immer in weiter Ferne zu sein: Gerade einmal 10 Prozent der versprochenen Hilfszahlungen wurden bisher eingesammelt. Die Finanzierungen für die meisten begonnenen Projekte – wie die Erstellung eines Katasters, die Ausbildung von Lehrern, die Modernisierung der Landwirtschaft und der Krankenhäuser – sind unter solchen Umständen nicht gesichert.
Und Wahlen? Die meisten Haitianer haben andere Sorgen: Unterkunft, Nahrung, Hygiene, einen „djob“. Hinzu kommt der weitverbreitete Eindruck, dass Haiti gar kein selbstständiges Land mehr ist: „Se blan ki desid“ – die Ausländer entscheiden.
Wiederaufbau, Neuanfang, grundlegende Reformen – all das scheint viel zu hoch gegriffen. Viel wahrscheinlicher ist eine Zukunft als Flickwerk nach alter Manier. Wie soll man einen Staat stärken, dessen Funktionsweise strukturell völlig mangelhaft ist und der dem Land eigentlich eher schadet? Und wie sollen Entwicklungsgelder je zum Ziel führen, wenn sie in den Kanälen einer Klientelpolitik verschwinden, die das Fortbestehen der enormen Spaltung zwischen Arm und Reich garantiert?
Wer wissen will, wie es um die haitianische Gesellschaft steht, muss beim Warten im blokus nur einen Blick aus dem Taxifenster werfen: blitzblanke, klimatisierte Allradautos mit getönten Scheiben und Smartphones für einige wenige, barfuß laufen und Schubkarren für alle anderen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ändert sich die Oberschicht des Landes überhaupt nicht. Es ist, als hätte das Erdbeben zwar viele Häuser zerstört, aber die Fundamente der haitianischen Gesellschaft noch nicht einmal erschüttert.
Aus dem Französischen von Herwig Engelmann
Christophe Wargny ist Autor von „Haïti n’existe pas. Deux cents ans de solitude“, Paris (Autrement) 2008.