14.01.2011

Zwischen den Zeilen

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Zwischen den Zeilen

Wer zeitgenössische nordkoreanische Romane gegen den Strich liest, also die positiven Helden links liegen lässt, die stets, was auch geschehen mag, ihren Glauben an die Revolution bewahren, und sich nur auf das Umfeld konzentriert, in dem sich diese Helden bewegen, macht eine für den untergründigen Wandel der nordkoreanischen Gesellschaft bezeichnende Entdeckung: Zwischen den Zeilen der politisch korrekten Botschaft, die den Kampf gegen alle Widrigkeiten überhöht, wird eine andere Wirklichkeit sichtbar, in der Bestechung, Verlust der revolutionären Überzeugung, Arbeitsverweigerung und andere defätistische Vergehen den Alltag dominieren.

Hinter der offiziell zur Schau getragenen Anpassung an die Staatsdoktrin und deren Gleichschaltungs- und Disziplinierungsrituale wird das Bild einer Gesellschaft gezeichnet, in der es angesichts der zunehmenden Korruption immer mehr darauf ankommt, sich auf eigene Faust durchzuschlagen und die entsprechenden Kniffe zu kennen.

In den Hungerjahren von Mitte bis Ende der 1990er Jahre begannen viele Nordkoreaner den politischen Schulungen fernzubleiben, weil sie schlicht all ihre Zeit benötigten, um für sich und ihre Familien etwas Essbares aufzutreiben. Anfang der 2000er Jahre ging im Schnitt nur noch jeder Zweite zu den Pflichtveranstaltungen.1 Auch wenn die Anwesenheitskontrollen nach 2002 wieder strenger gehandhabt wurden, sind solche Vermeidungsstrategien inzwischen weit verbreitet.

Abweichungen von der doktrinären Norm und das Unterschlagen von öffentlichem Eigentum – Diebstahl in Fabriken und landwirtschaftlichen Kooperativen – sind inzwischen gang und gäbe. Und wegen ihrer Not nimmt man den Dieben ihre Taten nicht wirklich übel. Eine solche Geschichte wird zum Beispiel in dem 2004 veröffentlichten Roman „Der Schlüssel“ von Kim Hae Sung erzählt. Abgesehen von der Darstellung der Parteikader als mildtätige Gönner zeichnet er indirekt ein anschauliches Bild von der Unordnung in einem Land, in dem es kaum möglich ist, zu überleben, ohne gegen das Gesetz zu verstoßen.

„Die nordkoreanische Literatur hat verschiedene Phasen durchlebt“, sagt Patrick Maurus, Professor am Institut National des Langues et Civilisations Orientales (Inalco) in Paris, der den 1988 in Pjöngjang erschienenen Roman „Die Freunde“ von Baek Nam Ryong übersetzt hat.2 „Die Ära der Revolutionsromantiker und Regimehelden endete Anfang der 1990er Jahre. So wie in der Politik nicht mehr der Arbeiter, Bauer und Soldat als historisches Subjekt im Zentrum stehen, sondern der Wissenschaftler und Techniker, so spielen die Romane heute auch eher in der Welt des Wissens und der Produktion. ‚Die Freunde‘, eine Scheidungsgeschichte, ist dafür ein ausgezeichnetes Beispiel: Das Regime ist gut und interne Kritik erlaubt, solange es darum geht, das System zu verteidigen. In dem Roman werden die karrieristischen, heuchlerischen Kader sehr drastisch beschrieben, doch das ist in Ordnung so, weil sich auch Egoisten ändern können. Wir sind hier nicht weit entfernt vom Konfuzianismus, der die pädadogische Pflicht zur Zurechtweisung vertritt. Viele glauben, die Literatur Nordkoreas sei nur ferngesteuert. Aber man sollte nicht vergessen, dass jeder Text autonom ist: Selbst der politisch korrekteste Text erzählt immer noch etwas anderes.“

Die im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts veröffentlichten Romane thematisieren häufig die unterschiedlichen Weltsichten der Generationen. Unter anderem wird die Frage verhandelt, was aus der für die ältere Generation selbstverständlichen Opferbereitschaft gegenüber dem Gemeinwohl wird. Die jüngere Generation, die für Unternehmergeist und Pragmatismus steht, hat die „spirituelle Kraft“ der Veteranen verloren. Lim Soon Hee3 , Forscher am Korean Institute for National Unification in Seoul, meint, dass das Auftauchen dieser jungen Protagonisten in den Romanen den Wertewandel widerspiegelt. Die Generation der heute 20- bis 30-Jährigen, die in den Hungerjahren aufgewachsen ist, das Leiden also bewusst miterlebt hat und viele Verwandte sterben sah, die stets regimetreu waren, ist individualistischer als ihre Elterngeneration. Diese Geisteshaltung zeige, so Soon Hee, dass die kollektivistische Ideologie auf dem Rückzug ist.

Fußnoten: 1 Cho Jeong-Ah, „The change of everyday life in North Korea after their economic difficulties“, Seoul (Korean Institute for National Unification/Kinu), Mai 2007. 2 Übersetzung ins Französische in Zusammenarbeit mit Yang Jung Hee und Tae Cheong, erscheint demnächst bei Actes Sud. 3 Lim Soon Hee, „Value changes of the north korean new generation and prospects“, Seoul (Kinu), März 2007.

Le Monde diplomatique vom 14.01.2011