Der ewige Berlusconi
Was von der Politik übrigbleibt, wenn der Staat zur Firma wird von Peter Kammerer
Man wird ihn nicht los. Staatspräsident Napolitano, sicher kein Freund Berlusconis, äußert den Wunsch, die 2008 begonnene Legislaturperiode möge ohne Neuwahlen bis zu ihrem geplanten Ende 2013 kommen. Also weiter mit Berlusconi? Kann dieser ohne Fini auf eine tragfähige Mehrheit bauen? Kann er das konservative katholische Lager an sich ziehen? Eine neue Partei gründen? Die politische Taktik hat Hochkonjunktur. Personalien. Bettgeschichten. Geldgeschichten. Karrieren. Der Palazzo, wie Pasolini die selbstreferenziellen Machtstrukturen Italiens genannt hatte, ist in Aufruhr. Im Januar soll sich alles entscheiden, fordert die Lega Nord. Was dann kommt, weiß man nicht. Oder besser: Alle wissen, dass es weitergehen wird wie bisher.
Auch eine neue Regierungsbildung und selbst Neuwahlen ändern daran nicht viel. Parteien und Wähler sind Geiseln eines Wahlrechts, das selbst diejenigen, die es Ende 2005 durchgesetzt haben (die Lega Nord), als una porcata, „eine Sauerei“ bezeichnen. Es hat dem Wähler die Möglichkeit genommen, Präferenzen auszudrücken. Die Parteispitzen verfügen über die Listenplätze und können damit quasi „handeln“ (etwa Leuten aus der gegnerischen Partei einen Platz anbieten, eine Spezialität Berlusconis), die Wähler können keinen Kandidaten bevorzugen. Zudem gewinnt die siegreiche Partei (oder das Parteienbündnis) automatisch 55 Prozent der Sitze, die absolute Mehrheit.
Die Notwendigkeit, schon vor Wahlen möglichst große Koalitionen zu schmieden, um diese Mehrheitsprämie zu ergattern, begünstigt nicht die Regierbarkeit des Landes, sondern faule Kompromisse und politische Termingeschäfte. Also Berlusconi. Mit dem Blick auf die Beute werden zukünftige Posten gehandelt wie Futures an der Börse. Von den lukrativen Listenplätzen bis zum Amt des Staatspräsidenten, das im Mai 2013 frei wird. Spekulationen darüber bilden den Hauptbestandteil dessen, was derzeit politisch diskutiert wird.
Als Berlusconi versprach, den Staat wie ein Unternehmen zu führen, und erst seine Anwälte und Manager, später telegene Frauen in höchste Ämter hievte, hat er eine Metamorphose des politischen Systems eingeleitet. Dass sich die neue Dynamik schnell und ohne nennenswerten Widerstand entfalten konnte, ist dem Kahlschlag der Mani pulite1 in den Jahren 1992 bis 1994 zu verdanken, der die gesamte politische Klasse unter Korruptionsverdacht gestellt und mit Unterstützung der Justiz ausgeschaltet hat. In das entstandene Vakuum stieß nicht nur Berlusconi, sondern auch die 1989 gegründete Lega Nord.
Das neue Personal, das durch die Lega zur Politik kam, vertritt den abstiegsgefährdeten Mittelstand und das kleinbürgerliche Arbeitermilieu Norditaliens. Ressentiments gegen Süditalien, Einwanderer und das korrupte Rom bilden den ideologischen Kitt. Ihr aktiver Lokalpatriotismus macht die Partei bürgernah. Dritter im Bund sind die Neofaschisten, denen Berlusconi ein neues Kleid geschneidert hat.
Gegen dieses aggressive Gemisch aus skrupellosen Managern, populistischen Emporkömmlingen und umfrisierten Neofaschisten wirkt die Opposition aus Exkommunisten und linken Christdemokraten bieder und fantasielos. Nach dem Verlust ihrer Ursprungsparteien hat sie Schwierigkeiten, eine Identität zu finden, etwas darzustellen. Und so starrt sie auf den größten Darstellungskünstler der italienischen Gegenwart, auf Silvio Berlusconi. Sie kämpft mit ihm um die Macht über die Medien und übersieht dabei, dass er nur deshalb so stark ist, weil er den Erfordernissen der Massenmedien am „natürlichsten“ entspricht. Politik kann sich nur noch nach deren Regeln und deren Ästhetik artikulieren. Eine falsche Krawatte kann die Wahl kosten. Halb gewillt, halb gezwungen, Berlusconi auf seinem eigenen Terrain Konkurrenz zu machen, haben die Zauberlehrlinge der Opposition neben den ökonomischen auch die medialen „Sachzwänge“ verinnerlicht. Politik ist, was übrig bleibt. Ein Rest.
Es gibt keinen Staub und keine Hoffnung, die Berlusconi in den letzten zwanzig Jahren nicht aufgewirbelt hätte. Insofern ist er eine Jahrhundertfigur, vergleichbar den Heroen, die die großen amerikanischen Vermögen aus dem Boden gestampft haben. Bis heute erzählt das Kino den Gründermythos: Landraub an den Indianern, Eisenbahnbau und die Gründung von Banken. Die industriellen Vermögen entwickelten sich erst später. Auch Berlusconis Karriere folgt diesem Muster. Zuerst das Mailänder und Schweizer Bau- und Immobiliengeschäft, in das der damals 25-Jährige 1961 einsteigt. Sein Vater arbeitet bei der Privatbank Rasini, die laut Michele Sindona die wichtigste Geldwaschanlage der Mafia in Norditalien war. Der 1986 im Gefängnis ermordete Sindona war der große Bankier, der jahrelang die Interessen der Mafia, der Vatikanbank und der amerikanisch-italienischen Geldinstitute koordiniert hat.
Zweifelhafte Karrieren begleiten seinen Weg
Von Berlusconi weiß man nur, dass er sein Kapital, dessen Ursprünge nicht ganz geklärt sind, tüchtig vermehrt hat und wie Sindona Mitglied der berüchtigten Geheimloge P 2 war. 1975 kann er seine Finanzierungsgesellschaft Fininvest gründen und kauft seinen heutigen Stammsitz, die Villa di Arcore. Cesare Previti, Vormund der minderjährigen Besitzerin und Anwalt Berlusconis, verkauft ihm den Besitz für einen Spottpreis. Jahrzehnte später wird Previti für kurze Zeit Verteidigungsminister, und Berlusconi wird eine Lex Previti im Parlament durchsetzen, um seinen wegen Betrügereien rechtskräftig verurteilten Freund vor dem Gefängnis zu retten.
1993 gründet Berlusconi Mediaset, das Flaggschiff seines in den 1980er Jahren aufgebauten Medienimperiums. Im selben Jahr beschließt er, Politiker zu werden. Notgedrungen. Der Sozialist Bettino Craxi, der Berlusconis Privatsender den Weg geebnet und seinem Freund auch bei anderen Geschäften Rückendeckung gewährt hat, ist über Korruptionsaffären gestürzt. „Wären wir damals nicht in die Politik gegangen, lägen wir heute als Clochards unter den Brücken oder säßen im Gefängnis“, erklärt einer der engsten Mitarbeiter Berlusconis der Repubblica.2 Denn bei den Gerichten häufen sich die Anklagen: Bilanzfälschung, illegale Parteienfinanzierung, Bestechung eines Richters, Verbindungen zur Mafia.
Die Politik wird für Berlusconi Rettung und neues Betätigungsfeld. 1994 ist er zum ersten Mal Ministerpräsident. Seitdem beschäftigen sich die Medien unermüdlich mit seinen Sprüchen, Geschäften, Eskapaden und Liebschaften. Manche schreiben aus oppositioneller Empörung, viele aus serviler Bewunderung. Letztlich verkommt beides zur Hofberichterstattung, die auch die Opposition zum Voyeur macht und der Politik Raum und Atem nimmt. Aber es lässt sich nicht leugnen: Die Berlusconi-Saga spielt der Nation eine Geschichte vor, die mit dem Wirtschaftswunder beginnt und mit der internationalen Finanzkrise nicht enden darf. Ein Heimatfilm für die Gewinner des Kalten Kriegs. Aufsteigerroman, Gesellschaftsroman, Justizroman, politisches Lehrstück und endlose Sexschleife für eine grandiose Fernsehserie. In Berlusconi, dem „Cavaliere“, dem Glücksritter und Geldgott, kann ein bedeutender Teil Italiens seinen Helden sehen. Einen Retter. Doch aus welcher Gefahr?
Berlusconi wird nicht müde, sie zu benennen: überall Kommunisten. Jenem alten Italien, das man im Jargon das „faschistisch-klerikale“ nennt, spricht er aus dem Herzen. Die italienischen Kommunisten mögen noch so national gesinnt, unbestechlich, kulturell aktiv und für die Emanzipation breiter Volksschichten ein Segen gewesen sein. Sie sind der Feind. Doch die eigentliche Stütze Berlusconis besteht aus dem antikommunistischen Ressentiment, das sich nach 1989 in Italien ausgebreitet hat. Ein Bild mag das verdeutlichen. Die Beerdigung des kommunistischen Parteisekretärs Enrico Berlinguer im Juni 1984 gehört zu den größten und bewegendsten Kundgebungen der italienischen Nachkriegszeit. Sieben Jahre später gibt die kommunistische Partei ihre Strukturen zum Abriss frei und sich einen neuen Namen. Wenig später will kaum mehr jemand Kommunist gewesen sein, und ein nicht unerheblicher Teil der linken Intellektuellen läuft zu Berlusconi über. In Norditalien übernimmt die Lega die Konkursmasse der PCI-Wähler.
Erst heute wird klar: Mit Berlinguer haben Millionen eine ganze Geschichte zu Grabe getragen. Aber nie wird das Scheitern der mit dieser Partei verbundenen Hoffnungen eingestanden. Nie wird es verarbeitet. Die Hoffnungen verwesen, ohne dass etwas Neues entsteht. Das Neue kommt von anderswo. Das Neue ist Berlusconi. Endlich scheint es möglich, in Italien ohne Kommunisten und Christdemokraten Politik zu machen. Berlusconi ist der Retter, der das Land aus dem jahrelangen Patt ideologischer Stellungskriege herausführt. Dass die Sieger das problematische Erbe der Verlierer nicht nur ausschlagen, sondern alles verjuxen, was nicht ihren Interessen dient, dämmert manchen Ernüchterten erst heute.
Ernüchtert ist der Politologe Ernesto Galli della Loggia, der zum Jahresende3 eine schonungslose Bilanz zieht. Er sieht in Italien statt Lebensqualität Verödung, statt Öffnung zur Welt Provinzialisierung, statt Kommunikation Leerlauf, statt produktiver Investitionen Senkung der realen Löhne und Einkommen, statt Entfaltung des sozialen Lebens Abbau der öffentlichen Strukturen. Eine gewaltige Klage. Der Autor findet keinen einzigen Gerechten, der die „Irrtümer, die wir alle begangen haben, die Opfer, die heute nötig sind, und die Hoffnungen, die wir noch haben dürfen“, benennen könnte. „Vergebliches Warten, dass endlich von da, wo es kommen müsste, von der Politik, ein Wort der Wahrheit über unser Heute und unser Gestern käme.“ Doch wie soll die Politik dieses Wort finden, wenn zu den „Irrtümern, die wir alle begangen haben“, die Zerstörung der politischen Sprache gehört? Was ist aus Begriffen wie Arbeit, Krise, Zukunft, Gemeinwohl geworden? Wer hat sie nicht nur medial verflacht, sondern zu Instrumenten der Erpressung degradiert? Was hat Berlusconi aus dem Wort „Freiheit“ gemacht?
Der Begriff der Freiheit war in der politisch-demokratischen Kultur Italiens von Erfahrungen getränkt, die von Garibaldi bis zur Resistenza reichten und in Ereignissen auch der Nachkriegszeit immer wieder aufgefrischt wurden. Seinen Wahlsieg vom 13. Mai 2001 kommentierte Berlusconi mit den Worten: „Der 13. Mai ist der Tag der Befreiung und der Rückkehr der Demokratie in unserem Land.“ Bis dahin war es in Italien eine Selbstverständlichkeit, den 25. April 1945 als Tag der Befreiung und Beginn der Demokratie zu feiern. Dieses Selbstverständnis kampflos preisgegeben und Berlusconi bei seiner radikalen Umwertung der Werte unterstützt zu haben, gehört zu den keineswegs lässlichen Sünden der enttäuschten Kommunisten, der Craxi-Sozialisten, der Liberalen und der konservativen Christdemokraten, die Berlusconi in seinem luxuriösen „Haus der Freiheiten“ willkommen heißen konnte.
Ernesto Galli della Loggia steht nicht allein. In der Turiner La Stampa vom 19. Dezember klagt Irene Tinagli, Preisträgerin des World Economic Forum 2010, Berlusconi sei mit seiner „liberalen Revolution“ gescheitert. Die Proteste gegen ihn seien jedoch Sonderinteressen und einer konservativen, lähmenden Angst vor der Zukunft zuzuschreiben. Auch sie konstatiert die Unfähigkeit der Politiker, „ohne Heuchelei und Populismus die tiefsitzende Angst anzugehen und ein Ziel zu zeigen, das Millionen Italienern den Mut gibt, über ihren Zaun zu schauen und den Sprung zu wagen“. Sprung wohin? In eine Modernität, die Berlusconi zwar versprochen, aber in Verfolgung seiner eigenen Interessen nicht realisiert hat. Wer Berlusconi bisher kritisch-schützend begleitet hat, ist heute bereit, die ursprünglichen Ziele ohne den lästig Gewordenen weiterzuverfolgen: Zähmung der von Gewerkschaften, Studenten, prekär Beschäftigten und Umweltschützern vertretenen „Sonderinteressen“. Ausrichtung auf ein vom Wachstum, das heißt von Unternehmen und Großprojekten getragenes „Gemeinwohl“.
Der Berlusconismus hat in diesem Sinne Pionierarbeit geleistet, auch wenn er als Versuch einer direkten Übernahme der Politik durch die Wirtschaft nur partiell erfolgreich war. Er hat die politischen Strukturen, in denen sich die gesellschaftlichen Interessen artikulieren und einen gemeinsamen Ausdruck finden können, ausgehöhlt und mit Surrogaten gefüllt. Er hat das Parlament zu einer Börse und einem Ort der Bandenbildung degradiert. Er hat Sprache durch Sprüche ersetzt und massenhaft Passivität erzeugt. Unter Einsatz aller auf diesem Gebiet blühenden Hilfswissenschaften. Er hat schließlich die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung postuliert, da ein System der Gewaltenteilung und verfassungsmäßig garantierter Gewichte und Gegengewichte mit einem unternehmerisch geführten Staat unvereinbar ist.
Berlusconi selbst ist der Überzeugung, dass ein Berlusconismus ohne ihn als Integrationsfigur in sich zusammenfällt. Gianfranco Fini hat versucht, dem Einsturz durch eine neue Bündelung konservativer Kräfte zuvorzukommen. Auf der Linken will Nichi Vendola die Opposition davon überzeugen, dass sie Teil des Problems sei und den Weg aus dem Palazzo ins Freie finden müsse. Doch einstweilen wird es, mit oder ohne Berlusconi, weitergehen wie bisher.
Peter Kammerer ist Professor für Soziologie an der Universität Urbino. © Le Monde diplomatique, Berlin