Der andere Italiener
Nichi Vendola ist links, grün, katholisch, schwul – und ein erfolgreicher Politiker von Chase Madar
Silvio Berlusconi macht gern Scherze. Sein Talent für die battuta hat ihm in seiner politischen Karriere auch schon große Dienste geleistet. Aber alles hat Grenzen. Die Enthüllung, dass die siebzehnjährige marokkanische Bauchtänzerin „Ruby Rubacuori“ (Ruby Herzensbrecherin), die bei seinen Privatpartys aufzutreten pflegte, auf sein Geheiß hin aus dem Polizeiarrest entlassen wurde, parierte er mit der Bemerkung: „Besser, man fährt auf schöne Mädchen ab als auf warme Brüder.“1 Der Scherz, der auf den neuen Star der italienischen Linken, Nichi Vendola, gemünzt war, kam nicht besonders gut an – die italienische Öffentlichkeit zeigt sich zunehmend angewidert von Berlusconis „Bunga-Bunga“-Lebenswandel.
Nichi Vendola ist der Präsident von Apulien, italienisch Puglia. In dem Streifen zwischen Absatz und Sporn des italienischen Stiefels, der zu den ärmsten und konservativsten Regionen des Landes gehört, leben vier Millionen Menschen. Dass dort ein Regionalpräsident gewählt (und wiedergewählt) wurde, der nicht nur 1991 die kommunistische Reformpartei RC (Rifondazione Comunista)2 mitbegründete, sondern außerdem ein bekennender Schwuler ist, widerspricht allen Erwartungen.
Der überzeugte Katholik Vendola ist inzwischen einer der beliebtesten Politiker Italiens und wird wahrscheinlich bei den nächsten allgemeinen Wahlen 2013 eine breite Koalition von linken und linksliberalen Parteien anführen. Mit seiner charismatischen Kämpfernatur bereitet er der italienischen Rechten schon heute Sorgen.
Natürlich teilt Vendola auch selbst gelegentlich aus. Im November letzten Jahres bezeichnete er die wohlhabende Lombardei als die mafiöseste Region Italiens und zog damit den Zorn des dortigen rechten Regionalpräsidenten Roberto Formigoni auf sich. Kein Süditaliener hat es bisher gewagt, den Norden für sein lasches Vorgehen gegen ’Ndrangheta und Camorra zu kritisieren. Vendola kehrt den alten antikommunistischen Stalinismusvorwurf um und hält nun seinerseits Berlusconi vor, dass er gegenüber Wladimir Putin auf Schmusekurs gehe und den Energiebedarf Italiens durch Geschäftemacherei mit autoritären Staaten wie Russland oder Libyen decken wolle.
Auf die Frage, ob er der erste schwule Premierminister Italiens werden wolle, antwortet Vendola augenzwinkernd, dass es schon einen gegeben habe, er jedoch versprochen habe, dessen Identität nicht zu verraten. Er zitiert gern den Dichter Giacomo Leopardi aus dem 19. Jahrhundert, den Schriftsteller und Filmemacher Pier Paulo Pasolini – über diesen ebenfalls schwulen, katholischen Linken hat er seine literaturwissenschaftliche Dissertation geschrieben –, das Neue Testament und seinen früheren Bischof, Don Tonino Bello, dessen Seligsprechung bevorsteht.
Laut einer aktuellen Umfrage ist Vendola der beliebteste Politiker Italiens, noch populärer als die Chefs der beiden größten Mitte-links-Parteien, Partito Democratico und Italia dei Valori. Nach dem vergeblichen Versuch, Parteichef der Rifondazione Comunista zu werden, hat er die neue Partei Sinistra Ecologia Libertà (Freiheitlich ökologische Linke) ins Leben gerufen, auf deren Gründungsversammlung im Oktober 2009 er einstimmig zum Vorsitzenden gewählt wurde.
Darüber hinaus hat er die „Fabbriche di Nichi“ (Nichis Werkstätten) ins Leben gerufen, politische und soziale Vereine, die dezentrale „horizontale Beziehungen“ aufbauen und zu guten, dem Gemeinwohl dienenden Taten anstiften wollen. Ausgehend von Apulien haben sich die Fabbriche inzwischen über ganz Italien ausgebreitet, es gibt sogar ein paar Ableger im Ausland. Vendola hat auf Facebook mehr Freunde als jeder andere Politiker in Europa, er verschickt Podcasts, bloggt und twittert.
Derzeit ist der linke Hoffnungsträger jedoch noch Regionalpräsident von Apulien. Erstmals gewählt wurde er 2005. Zunächst siegte er ganz knapp bei den Vorwahlen in einem breiten linken Parteienbündnis, dann schlug er mit noch dünnerer Mehrheit den konservativen Amtsinhaber Raffaele Fitto.3 „Das Mitte-links-Bündnis wollte mich nicht als Spitzenkandidaten aufstellen, sie sagten, mit mir würden sie niemals gewinnen. Aber um ehrlich zu sein, die Linke hatte in Apulien ohnehin noch nie gesiegt – vor mir. Was beweist, dass das Problem nicht an mangelnder Nachfrage nach guter Politik lag, sondern am fehlenden Angebot.“ Im März dieses Jahres wurde er mit einem soliden Vorsprung wiedergewählt.
In Apulien hat Vendola verschiedene Reformen durchgesetzt. Die Region hat massiv in erneuerbare Energien investiert und liefert inzwischen 13 Prozent der Solarenergie und 24 Prozent der Windenergie Italiens. Grundbesitz und sonstiges Eigentum, das der Staat von der Sacra Corona Unita – der in den 1980ern entstandenen apulischen Mafiaorganisation – beschlagnahmt, wird nicht mehr an den Meistbietenden versteigert und damit de facto dem organisierten Verbrechen zum Rückkauf angeboten, sondern in Bauernkooperativen und Jugend- und Kulturzentren umgewandelt. Auch bei Touristen erfreut sich die Region wachsender Beliebtheit.
Aber wie der ganze Mezzogiorno steht auch Apulien vor vielen unlösbaren Problemen. Süditalien ist, was das Gesundheitswesen anbelangt, ein Katastrophengebiet: Neben den illegalen Müllhalden, die meist in der Hand des organisierten Verbrechens sind, lassen sich schmutzige, wenn auch legale Industrie- und Abfallbeseitigungsanlagen nieder. Die Region hat eine der höchsten Krebsraten Westeuropas.
Apuliens Wende zu sauberen Energiequellen und ein Provinzgesetz von 2008, das den Dioxinausstoß der Stahlfabrik in Tarent begrenzte, wurden sowohl von Umweltschützern wie von Lokalpolitikern begrüßt. Der geplante Bau von zwei neuen Müllverbrennungsanlagen hingegen hat manchen Vendola-Freund vergrätzt. Er selbst behauptet, sein Amt biete ihm keine Handhabe, private Müllverbrennungsanlagen zu verbieten, sofern sie den Vorschriften entsprächen.
Ein ernstes Problem ist und bleibt, nicht nur im Mezzogiorno, die Mafia. Der Süditaliener Vendola – er war jahrelang Vizepräsident des Antimafia-Ausschusses des italienischen Parlaments – fordert immer wieder, dass die Bekämpfung des organisierten Verbrechens mit gezielten Sozialprogrammen einhergehen muss – um zu verhindern, dass Leute auf der unteren Ebene bei den Syndikaten einsteigen. Sein Rezept erscheint insofern sinnvoll, als die italienische Mafiakultur tief ins soziale und familiäre Leben hineinreicht.
Bei seinem Aufstieg hat sich Vendola nicht nur Freunde gemacht. Er hat sich mit dem Starkomiker und Politkritiker Beppe Grillo überworfen und wurde von Marco Travaglio, dem wichtigsten Enthüllungsjournalisten Italiens, schon als „roter Berlusconi“ beschimpft.
Ein Mann für Apulien
Nützlich werden könnte Vendola auch sein Erfolg auf der der internationalen Bühne: Die Auslandsitaliener wählen sechs Senats- und zwölf Abgeordnetensitze. Bei einem USA-Besuch im November 2010 traf sich Vendola mit John Kerry, dem Vorsitzenden des Senatsausschusses für auswärtige Beziehungen, und versicherte ihm, dass er das Engagement seines Landes in Afghanistan nicht prinzipiell beenden wolle, sich künftig aber nur noch auf die humanitäre Arbeit und Friedenseinsätze konzentrieren wolle – eine Position, mit der er ziemlich nah bei seiner früheren Partei Rifondazione Comunista liegt.
Vendola ist der Chef einer „postkommunistischen“ Partei, die in ihrer programmatischen Vagheit für Grüne, Gewerkschafter, Antimafia-Aktivisten und Feministinnen gleichermaßen attraktiv ist. Er gilt als unprätentiöser, unideologischer, pragmatischer Regionalpolitiker und hat selbst unter Rechtsliberalen seine Bewunderer, so zum Beispiel den Italienkenner und ehemaligen Chefredakteur des Economist, Bill Emmott, oder die Vorsitzende des wichtigsten Arbeitgeberverbandes Confindustria, Emma Marcegaglia.
Die italienischen Medien bezeichnen ihn schon als „l’Obama italiano“. Doch es gibt einige bemerkenswerte Unterschiede zwischen den beiden: Obamas Laufbahn spielte sich zwischen Stiftungen, Gemeindearbeit und Universität ab. Er war der ideale Kandidat für seinen Heimatwahlbezirk Hyde Park in Chicago und war auch nicht der erste schwarze Demokrat, den Illinois in den US-Senat entsandte. Er mag mit noch so großer Überzeugung von der möglichen Überwindung der politischen und sozialen Unterschiede in den USA sprechen – die Erfolge, die er damit für seine Partei und sich selbst bisher erzielen konnte, sind ausgesprochen mager.
Vendola hingegen wuchs in einem typischen katholisch-kommunistischen Haushalt auf, an einer Wand das Bild von Papst Johannes XXIII. und an der anderen das des russischen Kosmonauten Juri Gagarin. Mit 15 trat der 1958 geborene Nichi der kommunistischen Jugend bei. „Nach der Schule“, erinnert er sich, „las ich den Landarbeitern, die nicht lesen konnten, aus der Tageszeitung des PCI, der Unità vor. Sie liebten es, Geschichten über Südamerika zu hören und dann die Orte auf der Landkarte zu suchen. Als ich selbst zum ersten Mal dorthin fuhr, hatte ich schon so viel über diese Länder und ihre Kämpfe gelesen, es war fast so, als wäre schon einmal dort gewesen. Wenn man heute einen 20-Jährigen in Italien fragt, wo Chile liegt, hat er keinen Schimmer.“
Vendola ist Mitbegründer der Schwulenorganisation Arcigay, der AidsaktivistInnen Lila sowie der Rifondazione Comunista, die sich seit je für den Erhalt des sozialen Netzes in Italien einsetzt. Für die PCI-Politiker, die 1991 die Kommunistische Partei aufgelöst haben und das Wort „kommunistisch“ aus dem Namen ihrer neuen Partei verbannt wissen wollten, hat Vendola bis heute wenig Verständnis: „Ich hatte alles im PCI verändern wollen, insbesondere seine undemokratische innere Struktur. Und 1991 beschlossen sie dann, das Kind auszuschütten und nur das schmutzige Badewasser zu behalten.“
Italien hatte über Jahrzehnte die größte und vitalste Linke Europas. In den Jahren der ersten Republik baute der PCI (ebenso wie die Democrazia Cristiana) eine Reihe von lebendigen, politisch-gesellschaftlichen Organisationen auf: Frauenverbände, Jugendclubs, Bauernverbände und Kulturorganisationen. Die Auflage der kommunistischen Tageszeitung Unità lag 1974 bei 240 000. Doch nach den gesellschaftlichen Umbrüchen von 1968 – die in Italien von 1967 bis zum letzten großen Streik bei Fiat im Jahr 1980 reichten – verlor der PCI den Anschluss.
Die letzten zwanzig Jahre bezeichnet Vendola oft als verlorene Jahrzehnte, weil sie die politisch neugierige Zivilkultur, die Millionen Menschen in den Dunstkreis linker Politik zog, zum Verschwinden gebracht haben. Ein Großteil von Italiens Elite träumt heute von einem stabilen Zweiparteiensystem, dessen Fraktionen auf eine reale oder imaginäre Mitte hin konvergieren. Vendola hingegen liegt mehr an der politischen Partizipation der Massen als an der „Normalisierung“ des Systems. Er verweist stolz darauf, dass seine Wiederwahl zum Regionalpräsident von Apulien keineswegs zu einer Erlahmung seiner Sozialwerkstätten geführt, sondern deren Wachstum beflügelt habe. Wenn es nach Nichi geht, werden seine Fabbriche zu einer unabhängigen, außerparlamentarischen Kraft, ohne enge Bindungen zu seiner freiheitlich ökologischen Linkspartei.
Aus dem Englischen von Robin Cackett
Chase Madar ist Bürgerrechtsanwalt in New York. © Le Monde diplomatique, London