Langer Marsch
Die Frauen des Südens von Camille Sarret
Wer weiß schon, dass Ruanda das einzige Land der Welt ist, wo die Frauen im Parlament die Mehrheit haben? Seit den Wahlen von 2008 sind 56,3 Prozent der Abgeordneten weiblich. Dieser Rekord lässt sogar die skandinavischen Länder, die Europameister der Gleichheit, vor Neid erblassen. Dabei dürfen die Frauen in Ruanda erst seit der Unabhängigkeit 1961 wählen. Vier Jahre später wurde die erste Frau ins Parlament gewählt, aber bis in die 1990er Jahre gab es kaum Frauen in der Politik. Erst nach dem Genozid an den Tutsi 1994 änderte sich die Situation von Grund auf. „Da viele Männer tot oder handlungsunfähig waren, übernahmen die Frauen die Verantwortung und zeigten, dass sie dazu durchaus imstande waren“, sagt Immaculée Ingabire, die Koordinatorin der „Nationalen Koalition gegen Gewalt gegen Frauen“ in Ruanda. „Zahllose Frauen wurden vergewaltigt, aber sie waren es, die das Land aus dem Chaos geführt haben. Das hat das traditionelle Machosystem durchbrochen.“
In der Zeit nach dem Genozid wurde fast ein Drittel der Familien ausschließlich von Frauen ernährt. Sie übten Berufe aus, die zuvor Männern vorbehalten waren, sogar auf dem Bau und in technischen Bereichen. Und sie traten in Parteien ein. An der Ausarbeitung der ruandischen Verfassung von 2001 waren Frauen maßgeblich beteiligt: Darin wurde erstmals ein Erbrecht für Frauen festgeschrieben – und ein Quotensystem eingeführt, das Frauen 30 Prozent der Plätze in allen Entscheidungsgremien garantiert. Sie forderten außerdem ein Ministerium für Gleichstellung und Frauen und gründeten nationale Räte, um Frauen auf möglichst vielen Stufen der Macht (vom Stadtteilrat bis zur Regierungsspitze) zu vertreten. Im Kabinett werden gleich vier Ministerien von Frauen geleitet: für Industrie, Landwirtschaft, Energie und Auswärtige Angelegenheiten.
Trotzdem liegt noch vieles im Argen. Im Staatsapparat sind nach einem Bericht des Arbeitsministeriums 74 Prozent der Staatssekretäre in den Ministerien Männer, ebenso 80 Prozent der Direktoren und 67 Prozent der Sachverständigen. Frauen arbeiten meistens als Verwaltungsassistentinnen und Sekretärinnen. Auch in der Privatwirtschaft „stellen Frauen weiterhin die Mehrheit in unsicheren und schlecht bezahlten Stellen des informellen Sektors. […] Nur 18 Prozent der Unternehmen im formellen Sektor gehören Frauen.“1
Ein immer noch düsteres Kapitel ist die Ausübung von Gewalt gegen Frauen: „Es gibt zwar den politischen Willen, aber man muss auch dafür sorgen, dass sich die Mentalität ändert“, sagt Immaculée Ingabire. „Und wir müssen zeigen, dass diese Kultur nicht unveränderbar ist, dass jede Gesellschaft imstande ist, ihre Traditionen weiterzuentwickeln.“
Ganz anders sieht es in Afghanistan aus. Häusliche Gewalt, Vergewaltigungen, Säureanschläge und Morde an Frauen nehmen beständig zu. Trotzdem sind die Frauen nicht stumm. Es gibt Wortführerinnen, wie zum Beispiel Malalai Dschoja, die 2005 als 27-Jährige ins Parlament gewählt wurde.
Malalai Dschoja hat einen Teil ihrer Kindheit und Jugend in einem pakistanischen Flüchtlingslager verbracht, dort konnte sie zur Schule gehen und Englisch lernen. Nach ihrer Rückkehr kümmerte sie sich während der Herrschaft der Taliban um eine Krankenstation und die Organisation geheimer Alphabetisierungskurse für Frauen.2 „In der Politik zog sie von Anfang an den Zorn der Kollegen auf sich, weil sie denen ihre Vergangenheit als Kriegsherren, Drogenhändler und gnadenlose Islamisten vorhielt“, schreibt die Soziologin Carol Mann.3 Malalai Dschoja hat mehrere Mordanschläge überlebt. In Kabul wurde sie sogar von Parlamentariern angegriffen. Frauen in Burkas demonstrierten für Dschoja in Farah, Dschalalabad und Kabul. Nach einem Fernsehinterview, in dem sie die afghanische Nationalversammlung mit einem Zoo verglichen hatte, wurde sie aus dem Parlament ausgeschlossen.
Shukria Haidar, die im Pariser Exil lebte und damals als inoffizielle „Botschafterin der afghanischen Frauen“ galt, befürchtet die Rückkehr der Taliban an die Macht, seit Präsident Karsai im Januar 2010 auf der Londoner Konferenz, an der von 63 Vertretern aus Afghanistan nur vier Frauen beteiligt waren, seine „Politik der ausgestreckten Hand“ angekündigt hat. Im darauffolgenden Juni versammelte er 1 600 Vertreter von Stämmen und Bürgerinitiativen in einer Loja Dschirga (große Versammlung). Haidar sorgte sich damals, dass das Prinzip der Gleichberechtigung, für das sie nach dem Sturz der Taliban zwei Jahre lang gekämpft hatte, aus der Verfassung gestrichen wird. Dazu kam es zwar nicht, doch Human-Rights-Watch-Vertretern war aufgefallen, dass weder die afghanische Regierung noch ihre internationalen Unterstützer darüber sprachen, dass man bei eventuellen Verhandlungen mit den Taliban auf die Garantie von Frauenrechten unbedingt bestehen muss.4 Monika Hauser, Gründerin von medica mondiale und 2008 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet, äußerte kürzlich in der taz ihre große Besorgnis über die aktuelle Lage der Frauen in Afghanistan.5 Bei der internationalen Hilfe zum Staatsaufbau sei bis 2009 allein von der deutschen Regierung dreißigmal so viel für Militär wie für Ziviles ausgegeben worden.
In Indien ist das Prinzip der Gleichberechtigung gesetzlich verankert. Und das wirke sich auch direkt auf den Alltag der Frauen aus, sagt Urvashi Butalia, die seit mehr als zwanzig Jahren einen feministischen Verlag in Neu-Delhi leitet. „In den Fünfjahresplänen werden Frauen extra berücksichtigt. Um den Ärmsten und vor allem den Frauen zu helfen, hat der indische Staat erst kürzlich einen Tagesmindestlohn für öffentliche Arbeiten eingeführt.“ Ein Gesetz gegen häusliche Gewalt, „eines der besten der Welt“, sagt Butalia, wurde 2005 angenommen.
Dennoch herrscht in Indien immer noch der furchtbare Brauch des dowry death (Mord an Ehefrauen wegen unzureichender Mitgift). Nach inoffiziellen Schätzungen werden jedes Jahr etwa 25 000 Frauen umgebracht.6 Obwohl die Mitgift seit 1961 offiziell verboten ist, ist sie seit Ende der 1980er Jahre wieder vermehrt Bestandteil der Heiratskultur.
„Egal ob Abgeordnete, Industrielle oder Journalisten, heute wird unabhängig von sozialer Herkunft und Kaste überall Mitgift gezahlt“, sagt der Indien-Spezialist Max-Jean Zins. „In den 1970er Jahren war das noch schlecht angesehen, aber heute gilt es als Zeichen von Reichtum und Ansehen. Im modernen Indien dreht sich alles um den Konsum. Heute ist die indische Frau ein Objekt, das dazu bestimmt ist, andere Objekte zu erlangen.“
Außerdem gibt es in Indien einen Frauenmangel von fast 40 Millionen. Das hat vor allem mit der weit verbreiteten Praxis der gezielten Abtreibung weiblicher Föten zu tun und der extremen Vernachlässigung von kleinen Mädchen, die einfach schlechter versorgt werden als ihre Brüder und früher sterben. „Erst wenn Frauen das 35. Lebensjahr erreicht haben, entspricht die weibliche der männlichen Lebenserwartung“, sagt Zins.
In der Politik haben die indischen Frauen dagegen relativ viel Einfluss. Die größte Demokratie der Welt hat 1992 für Kommunalwahlen Frauenquoten festgelegt. „Das hat auf lokaler Ebene unheimlich viel verändert. Angesichts des Erfolgs weigern sich die männlichen Politiker, ein entsprechendes System auch für die Parlamentswahlen einzuführen“, sagt Urvashi Butalia.
In den Ländern Asiens und Afrikas, die mehrheitlich Kolonien oder Protektorate waren, sind die Vorkämpferinnen des Feminismus, ebenso wie im Westen, oft aus marxistischen Kreisen hervorgegangen. Ihre Erfahrungen haben sie vor allem im Kampf gegen den Kolonialismus gemacht: „Sie hatten eine Vision der künftigen Nation, in der politische Autonomie und die Emanzipation der Frauen eng verwoben waren.“7 In Ägypten etwa gründete Huda Sharawi bereits in den 1920er Jahren die Ägyptische Frauenunion und engagierte sich im Kampf für die Unabhängigkeit. 1929 erregte sie Aufsehen, als sie am Bahnhof von Kairo ohne Schleier aus dem Zug stieg. Diese Geste wurde einige Monate später von vielen Ägypterinnen bei einer Demonstration gegen das britische Mandat wiederholt.
Die Frau an Ghandis Seite
In Britisch-Indien verkörperte die Sozialreformerin Kamaladevi Chattopadhyay (1903–1988) das doppelte Engagement für die Frauen und für die Unabhängigkeit. Sie gehörte zur Brahmanen-Aristokratie, war reich und gebildet. In den früher 1920er Jahren schloss sie sich der Unabhängigkeitsbewegung an und überzeugte Mahatma Gandhi, den Frauen zu erlauben, gemeinsam mit den Männern auf dem „Salzmarsch“, einem friedlichen Protestzug gegen die britischen Machthaber, durch das Land zu ziehen.
In Asien, im Maghreb und im übrigen Afrika zielten die ersten, in der Unabhängigkeitsbewegung entstandenen feministischen Strömungen auf laizistische und universalistische Werte. Die Frauen wurden zum Marsch in die Institutionen aufgefordert. Doch einen Bereich hatte man damals noch gar nicht im Blick: die Familie. Nach Ansicht von Margot Badran8 haben sich erst die islamischen Feministinnen gegen Ende des 20. Jahrhunderts dieser Aufgabe angenommen.
Diese in den 1980er Jahren entstandene und durch die iranische Erfahrung geprägte religiöse Strömung des Feminismus ist bis heute höchst umstritten. Laizisten unterstellen, dass der islamische Feminismus von den Fundamentalisten manipuliert wird. Margot Badran hält dagegen: „Dieser Feminismus steht im Zentrum eines innerislamischen Wandels. Es geht nicht darum, die patriarchalischen Sitten zu ändern, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet haben, sondern die Botschaften über Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit im Koran aufzudecken.“9 Denn das, was man lange Zeit unter Islam verstanden habe, müsse radikal auf den Kopf gestellt werden.
Der islamische Feminismus stützte sich auf die Errungenschaften früherer Kämpfe für die Rechte der Frauen und trat Mitte der 1980er Jahre in Erscheinung, als die Frauen aus der Mittelschicht an die Hochschulen gingen und das Haus verließen, um zu arbeiten. Zum ersten Mal wurde über die Teilung der Rolle des Familienoberhauptes nachgedacht. Gleichzeitig wurde das aus den USA stammende Gender-Konzept von muslimischen Theologinnen übernommen, um die heiligen Texte daraufhin zu befragen.
Vor etwa sechs Jahren stellten die „gebildeten Kämpferinnen“, wie Margot Badran sie nennt, ihr unabhängiges Denken unter Beweis, als sie versuchten, die religiösen Praktiken vom muslimischen Recht in den heiligen Texten zu trennen, indem sie nachwiesen, dass es sich bei Ersteren um historische Erfindungen handelt, die sich verändern ließen. Zur Umsetzung ihrer Ideen begannen sie länderübergreifende Netze zu knüpfen. Innerhalb der islamischen Kultur solidarisierten sich die altgediente, weltliche Frauenbewegung und der islamische Feminismus, weil ihr gemeinsames Ziel ist, „den Islam von der Dominanz der Männer zu befreien und einen egalitären Islam, vor allem innerhalb der Familie, zu verwirklichen“, schreibt Badran.
In Marokko wäre 2004 die Reform des Familienrechts (Mudawana) ohne eine solche Allianz nicht möglich gewesen: „Diese Reform stand am Ende zwanzigjähriger Debatten zwischen den Machthabern, den liberalen Feministinnen und den Islamisten. Mohammed VI. beendete sie 2003 durch einen Schiedsspruch.“ Der junge König hatte begriffen, dass er sich um dieses zentrale Thema kümmern musste, wenn sich die marokkanische Gesellschaft modernisieren und die Radikalisierung des Islam verhindert werden sollte, vor allem nach den Attentaten vom 16. Mai 2003 in Casablanca.
Der gleiche Prozess könnte sich beim Thema Abtreibung wiederholen. „Das ist ein Thema, über das man anfängt, öffentlich zu diskutieren“, meint die Wissenschaftlerin Souad Eddouada.10 „Im Namen der vom Islam verteidigten Würde der Frau könnte die Abtreibung unter bestimmten Umständen als einzige Lösung betrachtet werden.“ Auf der arabischen Halbinsel hat die Allianz zwischen weltlichen und religiösen Kräften 2002 in Bahrain und 2005 in Kuwait immerhin das Wahlrecht für Frauen durchgesetzt.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Camille Sarret ist Journalistin.