12.01.2007

Zurück zu Keynes in die Zukunft

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Zurück zu Keynes in die Zukunft

Vor 60 Jahren ersann der britische Ökonom ein faires Weltwährungssystem von Susan George

Die sogenannte Doha-Runde, mit der die Welthandelsorganisation (WTO) angeblich den Entwicklungsländern helfen will, ist so gut wie tot. Es ist also an der Zeit, die Ideen wiederzubeleben, die der große englische Ökonom John Maynard Keynes nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat: das Projekt einer Internationalen Handelsorganisation und einer Organisation für Zahlungsausgleich.

Die Doha-Agenda, die 2001 in der Hauptstadt von Katar von einer Ministerkonferenz der WTO verabschiedet wurde, ist zusammengebrochen. Und das ist gut so. WTO-Generaldirektor Pascal Lamy versucht noch immer verzweifelt, das Programm zu retten, aber dessen Gegner betonen schon seit langem, dass überhaupt keine Vereinbarung immer noch besser sei als eine schlechte. Von Beginn der Verhandlungen bis zur letzten ergebnislosen Konferenz im Juli 2006 war im Grunde klar, welche Ziele die Doha-Gespräche verfolgten: erstens die mächtigsten Großbauern zu begünstigen, zweitens die gerade entstehenden oder noch schwachen Industriezweige der sich entwickelnden Länder zu zerstören und drittens überall das „General Agreement on Trade in Services“ (Gats) zu installieren und so die Übernahme öffentlicher Dienstleistungen durch private Unternehmen zu ermöglichen.

Allerdings sind mit dem Scheitern der Doha-Runde die grundlegenden WTO-Vereinbarungen von 1995 nicht außer Kraft gesetzt. Das allgemeine Zoll- und Handelsabkommen Gatt, das erwähnte Gats, das WTO-Agrarabkommen und etwa zwei Dutzend weitere Instrumente, die unter der Schirmherrschaft der WTO entwickelt wurden, bleiben in Kraft, wenngleich sich ihre Anwendung nun erheblich verzögern wird – eine Atempause, eine Art Aufschub der Urteilsvollstreckung, die allerdings den Doha-Gegnern ein „window of opportunity“ eröffnet.

Seit dem Scheitern von Doha stellt sich die Frage, was an die Stelle dieser Verhandlungsrunde treten soll. Manch einer mag da vielleicht entgegenhalten, dass man genauso gut fragen könnte, was an die Stelle einer Krebserkrankung treten solle. Wir könnten also intuitiv antworten: gar nichts. Aber das wäre beim Thema Welthandel unklug. Denn während die Abwesenheit einer Krankheit uneingeschränkt zu begrüßen ist, würden beim Fehlen einer internationalen Handelsvereinbarung schlicht die bilateralen und multilateralen Abmachungen in Kraft bleiben, die allesamt für die schwächeren Handelspartner noch folgenreicher und gefährlicher sind als die WTO-Regelungen.

Eine andere mögliche Welthandelsordnung

Wir sollten die Gestaltung der künftigen Handelsbeziehungen nicht den Regierungen der mächtigsten Staaten überlassen, die sich den Interessen ihrer transnationalen Unternehmen unterordnen. Vielmehr sollten wir uns auf die Jahre kurz nach 1945 besinnen, die eine tiefgreifende Umgestaltung der internationalen Beziehungen brachten. Damals waren selbst Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF) willkommene Institutionen, die sowohl für den Süden als auch für den vom Krieg zerstörten Norden wichtige Aufgaben wahrnahmen.

John Maynard Keynes legte nach 1945 ein außerordentlich innovatives Projekt vor, das als Regulativ für den künftigen Welthandel gedacht war: eine Institution namens International Trade Organisation (ITO), die sich auf eine internationale Zentralbank, die International Clearing Union (ICU) stützten sollte. Die ICU sollte eine supranationale Weltwährung, den „Bancor“, auflegen. Warum aus der ITO und der ICU nie etwas wurde und was sie denn hätten bewirken können, ist eine zwar nicht erbauliche, doch lehrreiche Geschichte. Sie zeigt, dass es in einer rationalen Welt möglich wäre, ein Handelssystem aufzubauen, das den Bedürfnissen der Menschen sowohl im reichen Norden als auch im armen Süden gerecht wird.

Mit einer ITO und einer ICU ließe sich eine Weltordnung entwickeln, in der ein so riesiges Handelsdefizit, wie es derzeit die Vereinigten Staaten aufweisen, ebenso ausgeschlossen wäre wie die enormen Handelsbilanzüberschüsse, die das heutige China erzielt. Bei einem solchen System wären die erdrückenden Schulden der Dritten Welt ebenso undenkbar gewesen wie die verhängnisvollen Strukturanpassungsprogramme, die sich IWF und Weltbank für die armen Länder ausdenken. Natürlich hätten die von Keynes vorgeschlagenen Institutionen den Kapitalismus nicht abgeschafft, doch wenn wir heute zu diesem Konzept zurückkehren könnten, wäre in der Tat eine andere Welt möglich. Gewiss, Keynes’ Plan ist vor 60 Jahren entstanden, er müsste entstaubt, modifiziert und den Bedingungen des 21. Jahrhunderts angepasst werden, aber im Kern ist er auch heute noch höchst relevant.

Die von Keynes konzipierte Internationale Handelsorganisation sei, so heißt es in der Regel, deshalb nie realisiert worden, weil die USA sie nicht wollten. Das ist richtig, aber zu einfach. Washington und London hatten schon lange vor Kriegsende über ein ITO-Abkommen verhandelt. Keynes selbst hatte die Idee bereits 1942 in die Debatte geworfen. Sie wurde auf der Konferenz von Bretton Woods im Juli 1944, die unter seinem Vorsitz tagte, als offizielle britische Position vorgestellt. Die US-Regierung war damals – zweifellos unter dem Einfluss der großen Konzerne – weniger begeistert, und der wichtigste US-Unterhändler Harry D. White drängte auf das alternative Modell Weltbank/IWF.1 Diese beiden Institutionen, die man auch als Bretton-Woods-Institutionen bezeichnet, wurden vom US-Kongress alsbald abgesegnet, während die Vereinbarung über die ITO noch nicht ratifizierungsreif war.

1945 erfolgte die Gründung der Vereinten Nationen. Die ökonomische Instanz der UNO, der Wirtschafts- und Sozialrat (Economic and Social Council oder Ecosoc) begann die Vorschläge der USA und Großbritanniens für die Gründung einer Welthandelsorganisation zu beraten und organisierte zu diesem Zweck 1946 eine UN-Konferenz über „Handel und Beschäftigung“.2 Doch bevor diese zusammentreten konnte, hatte sich Washington schon für ein zweigleisiges Vorgehen in Sachen Welthandel entschieden. Die USA traten an 22 weitere UN-Mitgliedstaaten heran, die auch möglichst schnell eine Liberalisierung des Handels in Angriff nehmen wollten. Sie gründeten ein paralleles Forum, auf dem das „General Agreement on Tariffs and Trade“ (Gatt) erarbeitet wurde, das allerdings zunächst nur als Zwischenlösung gedacht war.

Diese 23 Länder unterzeichneten am 30. Oktober 1947 das Gatt, das am 1. Januar 1948 in Kraft trat. Da alle Teilnehmer davon ausgingen, dass dieses Abkommen in die ITO-Charta – und somit in eine dauerhaftere Vereinbarung – integriert würde, hielten sie die institutionelle Ausstattung des Gatt ziemlich knapp. Kurz darauf wurde auch die ITO-Charta vollendet und 1948 auf der Konferenz von Havanna verabschiedet. Sie ist bis heute als Havanna-Charta bekannt, obwohl ihre offizielle Bezeichnung „Charta for an International Trade Organisation“ lautet.3

Woran ist die ITO am Ende gescheitert? Das Projekt hatte so gut wie jede politische Unterstützung verloren. Keynes selbst war 1946 gestorben. US-Außenminister Cordell Hull, ebenfalls ein ITO-Befürworter, war nicht mehr im Amt. Die Aufbruchstimmung von Bretton Woods war verflogen. Im Außen- und Finanzministerium der Truman-Regierung konzentrierte man sich ganz auf den Marshallplan und diverse Handelsvereinbarungen mit einzelnen Ländern. Der eingefleischte Isolationismus vieler US-Amerikaner spielte ebenfalls eine Rolle. Auch die Unternehmer waren großenteils gegen die ITO: Manchen Konzernen war das Konzept zu protektionistisch, anderen nicht protektionistisch genug. Zudem standen die hart umkämpften Präsidentschaftswahlen von 1948 bevor, und weder Demokraten noch Republikaner wollten die Wähler mit einem kontroversen Thema irritieren. Und schließlich hatte gerade der Kalte Krieg begonnen, sodass die ITO für Politiker wie Bürokraten nicht mehr das erste Thema war.

Als Präsident Truman wiedergewählt war, legte er die ITO- oder Havanna-Charta halbherzig dem Kongress vor, aber die Legislative machte sich nicht mal die Mühe, darüber abzustimmen. Das Gatt hingegen blieb am Leben, weil es als „provisorisch“ galt und keine einschränkenden institutionellen Regelungen enthielt. Auf seine Weise war das Abkommen dann sogar recht erfolgreich, denn im Lauf der Jahrzehnte wurden die Zölle für Industrieprodukte von durchschnittlich 50 auf 5 Prozent gesenkt, obwohl viele Länder an hohen Zollschranken festhielten. Im Rahmen des Gatt fanden insgesamt acht Verhandlungsrunden statt, die weitere Liberalisierungsschritte brachten. Die letzte war die sogenannte Uruguay-Runde, deren Ergebnis das weitaus ehrgeizigere WTO-Abkommen war. Das revidierte und aktualisierte Gatt wurde dann innerhalb des WTO-Rahmens zum „Gatt 1994“. Am Ende hatten die nach 1945 abgeschlossenen Handelsvereinbarungen fast nichts mehr mit dem Projekt gemein, das Keynes sich erhofft hatte.

Im Gegensatz zur WTO, die nichts mit den Vereinten Nationen zu tun hat und deshalb keine der rechtlichen Regelungen der UN, auch nicht die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 anerkennt, basiert die ITO-Charta auf der Anerkennung der UN-Charta. Entsprechend nennt sie als ihre Ziele unter anderem Vollbeschäftigung sowie ökonomischen und sozialen Fortschritt und Entwicklung.

Der ganze zweite Abschnitt der Charta bezieht sich auf wirtschaftspolitische Instrumente zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung. Und im Gegensatz zur WTO insistiert die ITO auf fairen Regeln für die Arbeiter und auf der Verbesserung der Löhne und Arbeitsbedingungen, weshalb sie sich auch zur Kooperation mit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) verpflichtet. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass sich der Internationale Gewerkschaftsbund nach Gründung der WTO sechs Jahre lang bemüht hat, eine Sozialklausel durchzusetzen, und zwar in einer ohnehin stark verwässerten Version der Prinzipien, die bereits in die ITO-Charta aufgenommen waren. Vergeblich. Nach dem Ministertreffen der WTO von 2001 in Doha haben die Gewerkschaften das Handtuch geworfen.

Was von der Havanna-Charta zu lernen wäre

Die ITO-Charta enthält auch Programme zur Weitergabe von beruflichen Qualifikationen und technologischen Errungenschaften, wie auch die Klausel, dass Investitionen von Ausländern nicht als Vorwand dienen dürfen, sich in die inneren Angelegenheiten von Mitgliedsländern einzumischen. Umgekehrt wird den ärmeren und schwächeren Ländern das Recht eingeräumt, staatliche Subventionen und andere Fördermittel wie überhaupt „protektionistische“ Maßnahmen im Sinne von Wiederaufbau und ökonomischer Entwicklung einzusetzen. In der Charta heißt es dazu ausdrücklich: „Hilfe in Form schützender Maßnahmen ist gerechtfertigt.“ Das gilt besonders für gezielte Beihilfen, „die darauf ausgerichtet sind, die Entwicklung einer Industrie zur Verarbeitung einheimischer Rohstoffe zu fördern“.

Zahlreiche weitere Bestimmungen der Charta beziehen sich ebenfalls auf Rohstoffe und vor allem auf den Schutz von Kleinproduzenten. Die ITO erlaubt zum Beispiel die Einrichtung staatlicher Fonds, die zyklische Schwankungen der Rohstoffpreise ausgleichen sollen, und empfiehlt „die Erhaltung endlicher natürlicher Ressourcen“. Aus der Gesamtheit der Bestimmungen, die sich auf den Warenhandel beziehen und zu Verhandlungen zwischen Waren produzierenden Mitgliedsländern auffordern, ergibt sich ein erstaunliches Bild: Die ITO befürwortet, ohne es explizit zu formulieren, nicht nur einen Opec-artigen Mechanismus – also ein Produzentenkartell für den Bereich der Rohstoffe –, sondern auch die Verarbeitung solcher Rohstoffe durch die Förderländer, um so eine lokale Wertschöpfung zu erzielen.

Diese Regeln hätten den Produzentenländern deutliche Vorteile gebracht – stattdessen mussten sie jedoch dem unerbittlichen Verfall der Rohstoffpreise tatenlos zusehen. Diese fielen (nach Zahlen der Unctad) zwischen 1977 und 2001 pro Jahr im Durchschnitt um 2,6 Prozent bei Nahrungsmitteln, um 5,6 Prozent bei Kaffee und Kakao und um 3,5 Prozent bei Ölsaaten und Speiseöl. Nur bei Metallen (die im Gegensatz zu Nahrungsmitteln und Getränken nie von Kleinproduzenten stammen) fiel das jährliche Minus mit 1,9 Prozent etwas geringer aus.

Die Havanna-Charta gestattet auch die Unterstützung bestimmter – insbesondere staatlicher – Industriezweige zum Beispiel durch Subventionen oder öffentliche Aufträge (für staatlich geförderte Filme werden sogar bestimmte Aufführungsquoten ins Auge gefasst). Und sie gibt den einzelnen Staaten das Recht, die eigene Landwirtschaft und Fischerei zu schützen.

Im Rahmen der Doha-Runde betraf einer der härtesten Streitpunkte, der am Ende auch das ganze Projekt zum Scheitern brachte, die Frage von Exportsubventionen für Agrarprodukte. In diesem Punkt verbietet die ITO schlicht und einfach, Produkte für ausländische Märkte so zu subventionieren, dass sie dort für den Verbraucher weniger kosten als im Herstellungsland. Desgleichen dürfen Länder, denen die Finanzen durcheinandergeraten, zwar ihre Einfuhren beschränken, doch diese Restriktionen müssen proportional ausfallen, also den vormaligen Lieferanten faire Quoten zugestehen.

In ihren institutionellen Strukturen war die ITO einfach und demokratisch. Mitglieder wurden zunächst alle Staaten, die zur ersten UN-Konferenz über Handel und Entwicklung eingeladen waren. Weitere Mitgliedstaaten wurden von dieser Konferenz aufgenommen. Jedes Mitglied hat eine Stimme, während bei Weltbank und IWF die Stimmen nach den finanziellen Beiträgen gewichtet sind, weshalb die USA jede wichtige Entscheidung ganz allein blockieren können. Ein Mitglied, das mit seinen UN-Beiträgen im Verzug ist, verliert das Stimmrecht. Nach dieser Regel hätten die USA die meiste Zeit kein stimmberechtigtes ITO-Mitglied sein dürfen.

Was die Leitungsstruktur betrifft, so wählen alle ITO-Mitglieder einen 18- köpfigen Exekutivrat. Dabei müssen acht Vertreter aus Ländern mit „großer ökonomischer Bedeutung und einem hohen Anteil am Welthandel“ kommen. Die zehn anderen sollen unterschiedliche Regionen und Wirtschaftstypen repräsentieren. Abgestimmt wird in der Regel mit einfacher und nur in bestimmten Fällen mit Zweidrittelmehrheit. Konflikte sollen möglichst durch gemeinsame Beratungen gelöst werden, gelingt dies nicht, darf jedes Mitglied einen Streitpunkt vor den Exekutivrat bringen, der die geschädigte Partei zu Vergeltungsmaßnahmen autorisieren kann.

Diese Bemühungen, eine neue Welthandelsordnung zu errichten, wurden in einer Welt unternommen, die noch im Begriff war, sich aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs herauszuarbeiten. Mit Ausnahme der USA gab es kein Land mit nennenswerten Geldreserven. Der Marshallplan hatte sehr viel weniger mit Wohltätigkeit als mit Eigeninteresse zu tun – schließlich ließ sich so der Handel zwischen den USA und Europa wieder ankurbeln.4 Ohne diesen Handel hätten die USA damals für ihre Produktionsüberschüsse keine Abnehmer gefunden.

Wie sollten sich unter diesen Bedingungen die Volkswirtschaften wieder aufrappeln, also Produktion und Handel ankurbeln? Keynes formulierte seine Lösung für dieses globale Problem zu Beginn der 1940er-Jahre. Da der Zweite Weltkrieg zum Teil durch eine Handelspolitik verursacht war, die zu einem mörderischen Konkurrenzkampf um dieselben Märkte geführt hatte, wollte Keynes sicherstellen, dass keine Macht die Märkte beherrschen und riesige Handelsüberschüsse akkumulieren konnte. Seine Lösung, die UCI, war eine neue Zentralbank der Zentralbanken und die von ihr aufgelegte Weltwährung Bancor, die ausschließlich als Zahlungsmittel für den Welthandel fungieren sollte.

Von der Schädlichkeit der Exportüberschüsse

Das System sollte folgendermaßen funktionieren: Mit Exportwaren verdient ein Land Bancors, die es für seine Importe wieder ausgibt. Entscheidend ist dabei ein gewisses Gleichgewicht zwischen Exporten und Importen, so dass die Bilanz eines Landes gegenüber der ICU am Ende des Jahres in etwa ausgeglichen ist, also weder einen Überschuss noch ein Defizit aufweist. Für die nationale Währung jedes Landes würde ein Wechselkurs für den Bancor vereinbart, der aber angepasst werden könnte. Neu an diesem Konzept war die Einsicht, dass Länder mit zu vielen Bancors das System im selben Maße stören wie Länder mit zu wenig Guthaben der ICU-Währung. Mit anderen Worten: Gläubiger sind für die Stabilität und das Gedeihen der Weltwirtschaft genauso gefährlich wie Schuldner.

Aber wie sollten die einzelnen Länder gezwungen werden, ihre Handelsbilanz möglichst ausgeglichen zu halten? Keynes entwickelte ein raffiniertes Rezept: Die ICU als Zentralbank und Träger der neuen Währung sollte jedem Land einen Überziehungsbetrag einräumen, genau wie eine Bank ihren Einzelkunden. Diese offizielle Überziehungssumme sollte bei der Hälfte des Volumens liegen, das der Außenhandel des betreffenden Landes im Durchschnitt der vorangegangenen fünf Jahre erzielt hat. Wird die Überziehungssumme überschritten, soll das betreffende Land für die überschüssige Summe einen Strafzins zahlen. Der sollte natürlich zunächst die Defizitländer treffen. Die große Neuerung bestand jedoch darin, dass Länder mit Handelsbilanzüberschüssen für Exporterlöse, die über das bewilligte Maß hinausgingen, ebenfalls Strafzinsen hätten zahlen müssen. Und je höher das Defizit oder der Überschuss, desto höher die Zinsrate.

Bei dieser Regelung waren Länder mit negativer Handelsbilanz gehalten, ihre nationale Währung abzuwerten, um ihre Exporte zu verbilligen. Länder mit positiver Handelsbilanz mussten dagegen ihre Währung aufwerten, um ihre Exporte zu verteuern. Wenn ein solches Land seinen Handelsbilanzüberschuss nicht reduzierte, behielt sich die ICU das Recht vor, die den bewilligten Überschuss übersteigenden Einnahmen zu konfiszieren und in einen Reservefonds zu stecken. Mit den Geldern dieses Fonds wollte Keynes eine internationale Polizeitruppe, Hilfsaktionen bei Naturkatastrophen und andere UN-Aufgaben von globalem Interesse finanzieren.

Es war eine elegante Konstruktion. Wollte ein Land mit stark positiver Handelsbilanz vermeiden, Strafzinsen zu zahlen oder gar seine Überschüsse konfisziert zu sehen, musste es schleunigst mehr Exportgüter aus Defizitländern kaufen. Diese wiederum konnten mehr verkaufen, also ihre Handelsbilanz leichter ausgleichen. Von diesem System hätten alle profitieren können: Der Handel hätte expandieren und die Welt sich insgesamt wohlhabender und friedlicher entwickeln können, die armen Länder hätten mehr Geld gehabt, um ihre Entwicklung zu finanzieren, also nicht die irrsinnigen Schulden akkumuliert, auf denen sie heute sitzen.

Keynes kam mit seiner Idee damals bekanntlich nicht zum Zuge. Das Nachsehen haben heute die unterentwickelten Länder, in denen Weltbank und IWF mit ihren aufgenötigten Strukturanpassungsprogrammen Verwüstungen angerichtet haben. Das Resultat ist, dass die Schulden der Dritten Welt niemals zurückfließen werden und dass nicht demokratisch gewählte Regierungen, sondern die Wall Street darüber befindet, welche Wirtschaftspolitik ein Land betreiben muss: Der brasilianische Präsident Lula da Silva und viele andere Politiker verschuldeter Länder sind dafür die jüngsten Zeugen. Die Regeln des Welthandels kommen nicht den ärmeren Mitgliedstaaten der WTO zugute, während die reichen WTO-Staaten immer egoistischer werden – und zugleich immer reicher.

Da die WTO und ihre verhängnisvollen Regeln nun mal existieren, stellt sich die Frage, wie die für eine gerechte Welt engagierten Kräfte dazu beitragen können, dass fairer Handel Wirklichkeit wird. George Monbiot glaubt, dass der verschuldete Süden seine 26 Billionen Dollar, die er an die reiche Welt zurückzahlen müsste, als eine Art „nuklearer Drohung“ gegen das globale Finanzsystem benutzen könne, um die Gründung einer ICU im Sinne von Keynes zu erzwingen. Der Süden könnte aber auch eine eigene Mini-Clearing-Union gründen. Vielleicht wäre Lateinamerika in der Lage, einen solchen Plan zu lancieren. Und vielleicht wird irgendwann auch eine Regierung in Europa diese Idee unterstützen. Doch bevor wir uns den Kopf darüber zerbrechen, wie das funktionieren könnte, sollten wir uns klar machen, dass wir nicht das Rad neu erfinden, sondern nur weiterdenken müssen, was Keynes vor 60 Jahren begonnen hat.

Fußnoten:

1 Siehe George Monbiot, „The Age of Consent“, London (Flamingo) 2003. Bevor ich dieses Buch gelesen hatte, glaubte ich (wie alle anderen, die sich mit diesem Thema befassen), dass die Pläne für Weltbank und IWF von Keynes stammen. George Monbiot zeigt jedoch auf, gestützt auf ein Buch des Historikers Armand van Dormael (Bretton Woods: „Birth of a Monetary System“, London 1978), dass Keynes insbesondere dem IWF sehr skeptisch gegenüberstand und voraussah, dass viele Länder ihre IWF-Kredite nicht zurückzahlen können. Keynes ließ sich auf die Vorschläge der US-Amerikaner am Ende nur deshalb ein, weil er ein System mit Regeln immer noch besser fand als einen völlig ungeregelten Zustand. Aber über das Ergebnis von Bretton Woods war er alles andere als glücklich. 2 Der Schwerpunkt „Beschäftigung“ ist hier besonders augenfällig. Die spätere Welthandelsorganisation (WTO) weigerte sich von Anfang an, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. 3 Siehe die ausführliche Darstellung in: Susan Ariel Aaronson, „Trade and the American Dream: A social history of Postwar Trade Policy“, Lexington (University Press of Kentucky) 1996. 4 Der „Lebensmittel“-Anteil des Marshallplans bestand zu einem Drittel aus Virginia-Tabakblättern, die gegen die Proteste europäischer Regierungen geliefert wurden. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Susan George ist Buchautorin (auf Deutsch zuletzt: „Change it! Anleitung zum politischen Ungehorsam“, München, Droemer 2006) und Präsidentin des Transnational Institute in Amsterdam.

Le Monde diplomatique vom 12.01.2007, von Susan George