Ein Modell auf der Kippe
Woran der britische Multikulturalismus krankt von Wendy Kristianasen
Jack Straw brachte den Stein ins Rollen. Der ehemalige britische Außenminister, der heute den Wahlkreis Blackburn im Unterhaus vertritt, äußerte am 5. Oktober 2006 gegenüber einer Lokalzeitung in Lancashire: „Es ist mir unangenehm, mit Menschen zu sprechen, die ich nicht sehen kann.“ Er sprach von Menschen, deren Gesichter von einem Schleier (Nikab) verdeckt werden. Er sieht darin ein „deutliches Zeichen der Abgrenzung und der Verschiedenheit“.1 Eine interessante Aussage, wenn man bedenkt, dass fast 20 Prozent von Straws Wählern Muslime sind.
Der Schleier bietet ein leichtes Ziel für Angriffe auf kulturelle Symbole, die eine politische Absicht verfolgen. Die Äußerung Straws löste einen Sturm aus, der durch die Medien noch verstärkt wurde. Offenbar will die Labour Party angesichts der Wählerverluste, die Tony Blairs Regierung aufgrund seiner katastrophalen Irakpolitik drohen, bei der weißen Arbeiterklasse Eindruck schinden. Sie riskiert dabei, ihren breiten Rückhalt bei den muslimischen Wählern einzubüßen.
Zusätzlich verschärft wurde die von Straw losgetretene Debatte durch die Suspendierung der 23-jährigen Aishah Azmi, die in einer Grundschule in Dewsbury in Yorkshire als Lehrerassistentin angestellt war. Azmi hatte sich geweigert, im Klassenraum ihren Schleier abzulegen. Am 15. Oktober erklärte der Labour-Politiker Phil Woolas – als Minister für kommunale Selbstverwaltung offiziell auch für „Communal Cohesion“, also für die ethnischen und religiösen Bevölkerungsgruppen zuständig – gegenüber dem Sunday Mirror, die Kopftuch-Lehrkraft solle gefeuert werden: „Sie hat sich selbst in eine Lage gebracht, in der sie ihre Arbeit nicht mehr ausüben kann.“ Und Staatssekretärin Harriet Harman, die in der Regierung für Verfassungsfragen zuständig ist, erzählte dem New Statesman sogar, sie wünsche sich, dass der Schleier grundsätzlich verschwindet: „Ich möchte, dass Frauen ganz und gar integriert werden. Wer für Gleichheit ist, muss auch mitten in der Gesellschaft stehen, statt sich vor ihr zu verstecken.“2
Und schließlich ergriff auch noch Blair das Wort: Er stehe voll hinter der Suspendierung von Aishah Azmi, das gehöre nun einmal zu der schwierigen, aber notwendigen Debatte über die Frage, wie der Islam in die britische Gesellschaft und in die moderne Welt überhaupt integriert werden kann. Der Schleier sei ein „Zeichen der Abgrenzung“, und deshalb habe er eben die Wirkung, „dass Menschen außerhalb der muslimischen Gemeinschaft ein Unbehagen empfinden“.3
Am 19. Oktober wies ein Arbeitsgericht in Leeds die Klage Azmis zurück, die sie wegen Diskriminierung und Belästigung eingereicht hatte. Allerdings wurden ihr von der lokalen Verwaltung 1 100 Pfund (etwa 1 650 Euro) Schmerzensgeld zuerkannt, weil der zuständige Gemeinderat sich in dem Konflikt nicht korrekt verhalten habe.
Die Regierung lenkte die Debatte schließlich auf das Thema Schule im Allgemeinen: Sie forderte, dass staatliche Schulen bei ihren Aufnahmekriterien für Schüler ein ethnisches Quorum einführen sollten, um so die kulturellen und religiösen Barrieren zwischen ihnen zu überwinden (was die Schuldirektoren freilich für einigermaßen utopisch erklärten). Zudem sollten die neuen, staatlich geförderten religiösen Schulen bis zu 25 Prozent Schüler anderer Glaubensrichtungen aufnehmen. Und die nichtstaatlichen Glaubensschulen (darunter 114 muslimische) könnten ihren gemeinnützigen Status einbüßen, falls sie sich nicht hinreichend in die lokale Umgebung integrieren.
Am 11. Oktober schließlich ließ Integrationsministerin Ruth Kelly den Muslim Council of Britain (MCB), den größten Dachverband des Landes (siehe den Text unten), öffentlich wissen, bei ihrer Geldvergabe und ihrem Engagement müssten sie künftig einen „signifikanten Richtungswechsel“ vollziehen, und zwar zu Gunsten von Organisationen, die „etwas gegen den Extremismus tun und unsere gemeinsamen Werte verteidigen“.4
Damit war zweifelsfrei der bevorzugte neue Partner der Regierung gemeint: der Sufi Muslim Council und dessen Vorsitzender Hisham Kabbani, die sich dem Naqshbandi-Orden, einer breiteren Sufi-Vereinigung, zuordnen. Kabbani lebt in Michigan und hält in den USA häufig Vorträge, in denen er sich hart von radikalen islamischen Kräften distanziert. US-Präsident George W. Bush lud ihn auch ins Weiße Haus ein. Der britische Sufi Muslim Council konstituierte sich im Juli 2006 in Räumen des britischen Unterhauses, wobei Ministerin Ruth Kelly eine programmatische Rede hielt. In diesem Rat sind 102 Organisationen vertreten, die ihre – begrenzte – Basis vor allem im Nordwesten des Landes haben.
Außenpolitische Munition für die Extremisten
Dagegen hat sich das Verhältnis zwischen der Regierung und dem Muslim Council of Britain im vergangenen Jahr zusehends verschlechtert. Der Grund war, dass es der MCB nach dem Eindruck der Öffentlichkeit versäumt hatte, sich nach den Londoner Attentaten vom 7. Juli 2005 (mit 52 Todesopfern, darunter sieben Muslime) gegen den zunehmenden Extremismus zu stellen. Dieses Versagen dürfte mehr über das Autoritätsdefizit des Verbands aussagen als über seine politische Orientierung. Keinerlei mildernde Umstände lassen sich allerdings dafür finden, dass sich der MCB im Januar 2005 nicht an dem alljährlichen Holocaust-Gedenktag beteiligt hat, der 60 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz noch besonders bedeutungsvoll war.
Die Kluft wurde im Sommer 2006 noch tiefer, als der MCB aus Anlass des Libanonkriegs gemeinsam mit 38 muslimischen Verbänden, drei muslimischen Labour-Abgeordneten und drei Mitgliedern des Oberhauses einen offenen Brief an Tony Blair verfasste, in dem sie ihre Bedenken gegen die derzeitige Außenpolitik wie folgt formulierten: „Das Debakel im Irak und die aktuelle Unfähigkeit, die Angriffe auf Zivilisten im Nahen Osten unverzüglich zu stoppen, erhöht nicht nur die Gefahren für die Bürger in der Region, sie bedeutet auch neue Munition für die Extremisten, die uns alle bedrohen.“5
Der Brief erschien, kurz nachdem Innenminister John Reid am 10. August 2005 ein Komplott enthüllt hatte. Die Attentäter hatten angeblich die Explosion von mehreren Bomben an Bord von „einem Dutzend“ Flugzeugen auf der Transatlantikroute geplant. Nach Reid war ein „Massenmord in für Großbritannien einmaligen Dimensionen“ geplant. In der Folge hatten die britischen Behörden Verhaftungen vorgenommen, Steckbriefe mit ethnischen Profilen erlassen und verschärfte Sicherheitsmaßnahmen angeordnet.
Nach den Bombenanschlägen vom 7. Juli 2005 hatte die britische Regierung verstärkt das Gespräch mit der muslimischen Gemeinschaft gesucht, was unter dem Titel „Preventing Extremism Together“ (PET) firmierte. In dieser Zeit gab es von beiden Seiten konkrete Vorschläge für gemeinsame Initiativen. Die erfolgreichste Idee war dabei eine Informationskampagne, bei der bekannte Persönlichkeiten und Intellektuelle vor jungen Zuhörern im ganzen Land auftraten. Auch die Gründung des Nationalen Beirats der Moscheen und Imame (Minab), der sich Gedanken über notwendige Reformen des Unterrichts in einigen Moscheen machen sollte, war ein positives Zeichen.
Und noch eine weitere Institution wurde gegründet und mit einem Jahresbudget von 70 Millionen Pfund ausgestattet: Die Commission for Equality and Human Rights (CEHR) soll den gesetzlichen Schutz vor ethnischer Diskriminierung verbessern, indem sie die religiöse Zugehörigkeit als Merkmal einer ethnischen Gruppen anerkennt.
Abgelehnt wurde allerdings die Forderung der Muslime, eine unabhängige öffentliche Untersuchung der Anschläge vom 7. Juli zuzulassen, wie sie auch die Familien der Opfer gewünscht hatten. Diese Weigerung erscheint als die letzte Bestätigung einer Politik, die sich in den Augen vieler den USA und deren unpopulärer Außenpolitik unterordnete. Die im Zuge dieser Politik immer wieder praktizierte Doppelmoral trug dazu bei, die britischen Muslime von der Regierung zu entfremden und einige von ihnen in die Radikalisierung zu treiben. Sie stellte auch die PET-Initiative in ein schlechtes Licht.
Dabei hatte es nach dem Wahlsieg von New Labour im Jahre 1997 so ausgesehen, als sei in den Beziehungen zwischen den britischen Muslimen und der Mehrheitsgesellschaft eine goldene Ära angebrochen. Etliche Muslime zogen ins Ober- und ins Unterhaus ein, die religiösen Schulen erhielten staatliche Unterstützung. Bei der Volkszählung von 2001 wurde erstmals auch die religiöse Zugehörigkeit erhoben. Muslimische Zeitungen und Magazine florierten, es entstanden muslimische Fernsehsender, Schulen, Colleges, berufliche und politische Lobbygruppen. London wurde zu einem Zentrum für den globalen islamischen Finanzsektor, der im Jahr 250 Milliarden Dollar Umsatz macht.
Heute muss Lord Ahmed Nazir, der 1998 als erster Muslim ins britische Oberhaus berufen wurde, als alter Labour-Anhänger eingestehen: „Die große Mehrheit der Muslime, 90 bis 95 Prozent, haben bislang immer für Labour gestimmt. Aber langsam lässt die Unterstützung nach. So schlecht wie derzeit war das Verhältnis zur Regierung noch nie. Und das Problem ist die Außenpolitik … Es gibt heute mehr muslimische Schulversager als je zuvor, die Drogenkriminalität eskaliert und mit ihr die Beschaffungskriminalität. Die Extremisten sind natürlich ein Problem, aber bei rund 1 000 Festnahmen ist es nur in 20 Fällen zu Anklagen gekommen.“
Die Sorgen um die Sicherheit in Großbritannien sind echt. „Hassprediger“ wie Abu Qatada, Abu Hamsa und ihre weniger bekannten Gefolgsleute6 haben eher zur Ausbreitung eines gewalttätigen Extremismus beigetragen als der Regierung neue Erkenntnisse eingebracht. Sie hielten sich nicht an das inoffizielle Stillhalteabkommen, das ihnen Redefreiheit gewährte, solange sie nicht offen zu Gewalt aufriefen, wobei aber ihre Aktionen und Auftritte überwacht wurden, um verdächtige Gefolgsleute identifizieren zu können.
Die Sorge vor zunehmender Radikalisierung unter Großbritanniens zwei Millionen Muslimen wächst, vor allem seit fundierte Hinweise vorliegen, dass al-Qaida über die Verbindung zwischen Großbritannien und Pakistan im Vereinigten Königreich Fuß zu fassen versucht. Nach der Volkszählung von 2001 gibt es 660 000 britische Muslime pakistanischer Herkunft. 500 000 Menschen reisen jedes Jahr zwischen Großbritannien und Pakistan hin und her.
Tarique Ghaffur, Vizepolizeipräsident der Londoner Polizei (und damit der ranghöchste muslimische und asiatische Polizeibeamte der westlichen Welt) verweist besorgt auf die wachsende Isolierung von Teenagern, vor allem unter pakistanischen Einwanderern. Muslimische Familien seien nicht mehr bereit oder in der Lage, den britischen Behörden ihre Sorgen um die Jugendlichen anzuvertrauen. Ghaffur macht sich Sorgen um junge muslimische Briten, bei denen das Gefühl verbreitet ist, dass ihnen Unrecht geschieht: „Sie haben ihre eigenen Mythen, und über das Internet breiten sich dann die ganzen Verschwörungstheorien aus.“
Viel allgemeiner ist das Problem der Kriminalität
Eine kleine Minderheit radikalisiert sich, aber viel weiter verbreitet ist das Problem der Kriminalität. Elf Prozent der derzeitigen Gefängnisinsassen sind Muslime. Bis Juni 2004 war deren Anzahl innerhalb von zehn Jahren um 161 Prozent gestiegen, heute sind 6 571 von 74 488 Gefängnisinsassen in ganz Großbritannien muslimisch. Nach dem Zensus von 2001 lag die Arbeitslosigkeit bei Muslimen dreimal so hoch wie beim Rest der Bevölkerung; 33 Prozent von ihnen leben in heruntergekommenen Gegenden und 41 Prozent in Sozialwohnungen; 33 Prozent haben keine beruflichen Qualifikationen.
Kurshid Ahmed aus Dudley in den Midlands ist Vorsitzender des British Muslim Forum (siehe Text unten). Er spricht für einen Großteil der muslimischen Unterschicht im Land, wenn er sagt: „Die Barelwi-Gemeinde [s. u.] ist schlecht repräsentiert. 80 Prozent der pakistanischen Einwanderer stammen aus ländlichen Gebieten dort. Die meisten sind Analphabeten, sie können auch nicht in Urdu schreiben. Sie haben hier die letzten 40 oder 50 Jahre in Fabriken gearbeitet und sprechen immer noch kaum Englisch. Dasselbe gilt für die Bangladescher und die Jemeniten.“
Muslimische Kinder werden üblicherweise in die Koranschulen geschickt, die den lokalen Moscheen angegliedert sind. Die besuchen sie zwei Stunden täglich nach der Schule und an den Wochenenden bis zum Alter von 13 oder 15 Jahren; sie lernen etwas über den Islam, und wie man den Koran vorlesen muss. Kurshid Ahmed erklärt: „In den benachteiligten Einwanderergruppen der Barelwi stammen die Imame meist aus den Heimatdörfern in Pakistan. Sie sind durchaus kompetent, können aber meist nicht mit den Jugendlichen kommunizieren, da sie kaum Englisch sprechen. Das ist ein Riesenproblem. Diese Imame werden vor allem aus Loyalität zur Heimat beschäftigt, und auch weil sie billiger sind als andere: nur 50 bis 80 Pfund für eine lange Arbeitswoche.“ Ahmed will sich mit seiner Organisation und im Rahmen der Minab um diese Probleme kümmern.
Die 16-jährige Salma El Gaziqri ist eine aufgeweckte Schülerin, die seit einiger Zeit auf öffentlichen Veranstaltungen in Leicester spricht. Auch sie glaubt, dass die Probleme für viele schon mit der Kindheit beginnen. Das gelte auch für die relativ gut gestellte Deobandi-Gemeinde (s. u.): „In den Koranschulen sollten auch Themen wie Staatsangehörigkeit und Bürgerrechte vermittelt werden und zwar vor allem den kleinen Kindern. Auch politische Themen muss man ansprechen. Die Kinder kommen mit wirklich wichtigen politischen Fragen und Problemen in die Schule. Und was bringt man ihnen bei? Wie man sich auf islamische Art wäscht. Da ist doch eine ganz klarer Mangel.“
Dieser Mangel wird offenbar, wenn die Kinder ins Teenageralter kommen. „Der Ärger geht schon zu Hause los. Die jungen Muslime fühlen sich von den älteren männlichen Familienmitgliedern nicht verstanden. Also machen sie Unfug, damit man überhaupt auf sie hört.“
Ähnlich sieht es auch Muhammed Kirk Master, ein 32-jähriger Ire, der auch einen afrikanischen Elternteil hat. Der Sozialarbeiter aus Leicester schildert die gesellschaftliche Entfremdung, die Jugendliche in die Kriminalität, zu harten Drogen und zum Dealen führt: „In einer bestimmten Gegend in Leicester sind drei Viertel der Dealer Muslime.“ Die Koranschulen sieht er in dieser Hinsicht als eine wichtige Instanz: „Die Kids nehmen entweder die Mentalität an, die ihnen die Madrassen vermitteln, oder sie ziehen sich zurück, geraten auf die schiefe Bahn oder in schlechte politische Gesellschaft. Sie sagen von sich, dass sie sich gesichtslos fühlen.“
Kirk Master hat 2002 ein ehrgeiziges Projekt namens Build gegründet, das sich zum Ziel gesetzt hat, über die Koranschulen 15 000 Kinder zu erreichen. Letztes Jahr startete er ein Pilotprojekt gegen Drogenmissbrauch bei einem lokalen Radiosender – Ramadan Radio: „Viele riefen uns an. Das hat uns gezeigt, dass unsere Angebote auf einen breiten Bedarf treffen. Das gilt zum Beispiel für Sportgruppen, für Erziehungsberatung über Themen wie Drogen, Alkohol, Sexualverhalten. Das bieten wir nun in den Madrassen an. Und der Kontakt läuft über die Schulen und die Eltern.“ Die wichtigsten zwölf Madrassen haben das Angebot bereits angenommen, und das ist erst ein Anfang.
Die Stadt Leicester gilt als Vorzeigebeispiel der britischen Einwanderungspolitik: 33 Prozent der Einwohner (und fast 55 Prozent der Kinder) sind Muslime, Hindus und Sikhs oder stammen von Einwanderern aus der Karibik ab. Die Beziehungen untereinander sind ausgezeichnet. Die Federation of Muslim Organisations (FMO), Partner des BMC, versteht sich selbst als „Stimme der 50 000 Muslime in der Stadt“. Sie engagiert sich aktiv im Bildungsbereich, für soziale Belange und für die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Religionen.
In Leicester ist alles ein bisschen anders
Suleman Nagdi aus Simbabwe, ein prominentes Mitglied der FMO, verweist auf eine Besonderheit von Leicester: „Viele von uns hier stammen aus Afrika, wo wir ebenfalls schon Minderheiten waren. Also war es für uns leichter, uns zu integrieren, und wir haben das erfolgreich geschafft. Wir sind hierher gekommen, um in Sicherheit zu leben, andere, wie die Einwanderer vom indischen Subkontinent, sind gekommen, weil sie Arbeit suchten. Und sie mussten sich erst daran gewöhnen, eine Minderheit zu sein.“
Hier in Leicester kamen Christen und Muslime bei einem konfessionsübergreifenden Treffen zu der gemeinsamen Einschätzung, dass die britische Außenpolitik ebenso verhängnisvoll sei wie der verstärkte Einsatz von ethnischen Profilen bei der polizeilichen Ermittlungsarbeit. Zum Gedenken an die Opfer des 11. September fand auch ein Cricket-Match zwischen christlichen Geistlichen und Imamen statt, bei dem ein orthodoxer Jude und ein Hindu als Schiedsrichter fungierten.
Doch innerhalb der FMO gibt es auch erhebliche Probleme. Scheik Shahid Raza von der großen Hauptmoschee der Barelwi von Leicester beklagte, dass die Barelwi kürzlich von den Deobandi aus dem Leitungsgremium der FMO verdrängt wurden. Und von den PET-Aktivitäten haben in Leicester nur die FMO-Leute gehört. Auch gibt es zu diesem von der britischen Regierung geförderten Programm durchaus kritische Stimmen. Ismail Patel, ein Optiker, der aus Malawi stammt, meint über eine Informationsveranstaltung, die das Magazin Q News und die „Federation of Student Islamic Societies“ organisiert hatte: „Das ist ein koloniales Unterfangen, wenn man Fremde einlädt, die den Menschen erklären sollen, wie sie sich zu benehmen haben.“
Dewsbury liegt in der Nähe von Leeds und war früher für seine Tuchindustrie berühmt. Heute sind von den 50 000 Einwohnern 33 Prozent muslimischen Glaubens. Im Stadtteil Savile Town leben fast nur Asiaten, und zwar vorwiegend Barelwi aus Pakistan und Deobandi aus Indien, die der Tablighi Jamaat (siehe Text unten) nahe stehen. Überall in den schmalen, ruhigen Straßen mit den kleinen Reihenhäusern finden sich Geschäfte für muslimische Frauenbekleidung. Es gibt einen Asda-Supermarkt und sechs Moscheen. Eine von ihnen ist die riesige, 1980 errichtete Markazi Moschee, das europäische Hauptquartier der Tablighi Jamaat.7
Dewsbury ist für Journalisten ein schwieriges Pflaster geworden, seit im Sommer 2006 britische Zeitungen von einer angeblichen Verbindung zwischen Tablighi Jamaat und al-Qaida berichteten. In Dewsbury hat auch Mohammed Siddique Khan gelebt, der Haupttäter der Attentate vom 7. Juli 2005. Doch die Familie von Abdul Hai Munshi hieß mich in ihrem Haus herzlich willkommen. Wir saßen vor dem Fernseher, um ein Cricket-Spiel der englischen Auswahl zu verfolgen, wobei der 7-jährige Ismael „selbstverständlich“ für England war. Auch Abdul Hais Vater, Scheich Yakub, kam dazu.
Der bekannte und in der ganzen Gemeinde geachtete islamische Gelehrte ist Gründer des muslimischen Zentrums (Merkez). Er schildert, wie schockiert die Familie war, als am 7. Juni 2006 sein 16-jähriger Enkelsohn festgenommen wurde: „Die Polizei brach in die Wohnung ein und behandelte uns auf brutale Weise. Wir wussten gar nicht, was los war. Mit dem Jungen hatten wir ja nur per E-Mail oder Mobiltelefon Kontakt. Wir fühlen uns wie Opfer. Und bis zu einem gewissen Grad sind wir es ja auch.“ Der Junge, dem man Gefährdung der „Sicherheit“ vorgeworfen hatte, wurde inzwischen auf Kaution wieder freigelassen.
Die Abkapselung aufbrechen statt auszuwandern
Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Menschen in Dewsbury vor der Aussage scheuten, dass sie sich als religiöse Gruppe aufs Korn genommen fühlen. Anfangs sagten sie mir nur unter vier Augen, dass viele Muslime neuerdings die öffentlichen Verkehrsmittel meiden. Doch unter den wohlhabenderen Muslimen gibt es inzwischen etliche, die sich fragen, ob sie nicht langsam ihre Sachen packen sollten.
Andere ziehen den umgekehrten Schluss. Bashir Karolia ist Vorsitzender der „Indian Muslim Welfare Association“ in Batley bei Dewsbury, der seine Vereinigung neuerdings mehr nach außen öffnen will. Er meint selbstkritisch: „Wir sind doch selbst schuld. Wir haben uns zu stark abgekapselt. Schon vor dem 11. September hätten wir anderen den Islam erklären sollen.“
Heute gibt es gezielte Bemühungen, die besonderen Probleme britischer Muslime anzugehen. Scheich Yakub zum Beispiel hat einen „Sharia Council“ gegründet, eine der wenigen landesweiten Institutionen, die eine Lösung für praktische Probleme wie Scheidungen, Eheschließungen und Erbangelegenheiten finden wollen, indem sie zusätzlich zu den britischen Rechtsvorschriften islamische Gebote anwenden.
Der 36-jährige Maulana Ilyas Dallal leitet die Illahi Masjid-Koranschule in Dewsbury und hat außerdem einen Lehrauftrag an der Universität Leeds. Die Koranschule wird von 200 Kindern zwischen 5 und 13 Jahren besucht. Ein Viertel davon wird in Urdu unterrichtet, der Rest in Englisch (in anderen Koranschulen von Dewsbury ist der Unterricht in Gujarati und Urdu). Von dem Minab-Programm hatte Dallal noch nie etwas gehört. Er meinte, über Staatsbürgerschaft und Bürgerrechte aufzuklären sei Aufgabe der regulären Schulen und nicht der Koranschulen, er befürwortet deshalb mehr Kontakte und Kooperation zwischen beiden Institutionen.
Vor zwei Monaten organisierten die Koranschulen aus Dewsbury, Batley und Huddersfield ein Treffen, um über ein koordiniertes Vorgehen zu beraten.
Dallal hielt ein Referat über die Radikalisierung, in dem er unter anderem sagte: „Die jungen Menschen wissen nur wenig über den Islam. Sie brauchen ja nur das Fernsehen einzuschalten. Die Außenpolitik benutzen sie nur als Entschuldigung, oder sie wird von anderen missbraucht, um sie zu radikalisieren. Es geht hier nicht um allgemeine soziale Verwahrlosung. Mit Drogen, Kriminalität und so weiter kommen sie erst in Berührung, wenn sie nicht mehr in die Madrassen gehen. Dann driften sie in irgendwelche Netzwerke ab, die sie über das Internet finden. Was sie verzweifelt brauchen, das sind Mentoren und lokale Vorbilder.“
Kurshid Ahmed aus Dudley bringt das Dilemma der muslimischen Integration in Großbritannien auf den Punkt: „Zuerst haben wir uns mit der Diskriminierung beschäftigt. Dann haben wir uns für den Multikulturalismus ins Zeug gelegt. Aber einige Gemeinden sind zu kulturellen Ghettos geworden, haben sich komplett isoliert. Jetzt brauchen wir eine neue Definition für eine integrierte Gesellschaft – aber nicht für eine Assimilation wie in Frankreich.“
Seine positive Zukunftsformel heiß „Gleichberechtigung plus Partizipation plus Engagement“. Nach Kurshid Ahmed setzt dies allerdings eine „Partnerschaft in beiden Richtungen“ voraus. Die aber sei nur schwer herzustellen in dem Klima der Angst, das derzeit in Großbritannien herrscht.
Fußnoten: