12.01.2007

 Der Wolf als Ente

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 Der Wolf als Ente

Was sich an den Falschmeldungen im Internet ablesen lässt von Eric Klinenberg

Joel Dinerstein aus New Orleans war schon immer ein begeisterter Nutzer alternativer Netzmedien. Doch als er im Spätsommer 2005, wenige Stunden bevor der Hurrikan „Katrina“ zuschlug, aus der Gegend floh, war er zum ersten Mal in seinem Leben wirklich auf sie angewiesen. Dinerstein, früher Rockkritiker und heute Professor an der Tulane-Universität, verbarrikadierte Fenster und Türen seines Hauses und verabschiedete sich von seinen Nachbarn. Dann fuhr er zu Freunden nach Austin, Texas.

Im Wohnzimmer seiner Gastgeber sah er die laufenden Berichte im Fernsehen. Die Nachrichten der großen landesweiten Sender, so erzählt er nach seiner Rückkehr, seien zwar eindrucksvoll gewesen, aber lückenhaft und irreführend. „Ich fand die Berichte unglaubwürdig. Mein Eindruck war, dass die Journalisten der überregionalen Medien hauptsächlich im French Quarter abhingen und mit dem Hubschrauber herumflogen. Sie hatten offensichtlich keine Ahnung von den kulturellen und sozialen Verhältnissen in New Orleans, vom Leben der Schwarzen hier. Sie berichteten von Plünderungen, Gewalt und Anarchie, aber ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass da etwas nicht stimmte. Das Unheimliche an den Bildern und Berichten im Fernsehen war, dass darin die Stadt außerhalb des Zentrums überhaupt nicht vorkam.“

Freunde und Nachbarn, die in New Orleans ausgeharrt hatten, waren telefonisch nicht erreichbar, weil die Mobilfunkmasten zusammengebrochen und die Festnetzleitungen tot waren. Die meisten E-Mail-Adressen in der Gegend funktionierten wegen Serverausfällen ebenfalls nicht (der Server der Tulane-Universität war ganze sechs Wochen außer Betrieb).

Ein digitales schwarzes Brett

So suchte Dinerstein im Internet gezielt nach Journalisten vor Ort sowie nach Augenzeugenberichten aus Uptown und der Gegend rund um die Tulane-Universität. Hätte der Hurrikan zehn Jahre früher zugeschlagen, wäre Dinerstein kaum fündig geworden. Doch im Jahr 2005 konnte er auf die Internetseite nola.com zugreifen – eine häufig aktualisierte Onlineausgabe der Tageszeitung The Times Picayune, die ein digitales schwarzes Brett eingerichtet hatte (für ihre Lokalberichterstattung wurde sie später unter anderem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet).

Lang bevor „Katrina“ die Wichtigkeit des Internets unter Beweis stellte, hatten die Manager großer Medienkonzerne und ihre Verbündeten in Washington immer wieder gefordert, die strikten Beschränkungen aufzuheben, die Zeitungsverlagen nicht erlauben, gleichzeitig auch Fernsehsender oder Radiostationen zu besitzen.

Robert Okun, der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende von NBC, antwortete im Jahr 2003 auf die Frage, ob die US-Rundfunkaufsicht Federal Communications Commission (FCC) zulassen sollte, dass ein Medienunternehmen mehr als 35 Prozent der Fernsehzuschauer erreicht: „Es gibt doch so viele konkurrierende Angebote, dass wir eigentlich keine Obergrenzen mehr brauchen.“1 Der Medienforscher James Gattuso von der Heritage Foundation in Washington behauptete sogar, diese Regelungen schadeten der Öffentlichkeit: „Das Problem der Konsumenten sind nicht die Medienmonopole, sondern ein nie da gewesenes, unübersichtliches Angebot. Überholte und unnötige Restriktionen der FCC verhindern die Weiterentwicklung von Medienmärkten und deren Technologien.“2

Auf dieser Überzeugung beruhte auch die ambitionierte Politik des damaligen Behördenleiters Michael Powell: „Entgegen einer weit verbreiteten Ansicht bin ich der Meinung, dass wir uns vor Angeboten kaum retten können. Ich bin überzeugt, dass bei all unserer Medienvielfalt kein bedeutendes Ereignis irgendwo auf der Welt stattfinden kann, ohne dass wir innerhalb von 20 Minuten davon erfahren. Über Google News habe ich Zugang zu 4 000 Nachrichtenquellen in aller Welt. Diese Vielfalt an Möglichkeiten eröffnet doch eine ziemlich faszinierende Perspektive auf das Geschehen.“3

Doch so einfach ist die Sache nicht. Zum Beispiel ist die digitale Spaltung der Gesellschaft viel weiter fortgeschritten, als man denkt. Umfragen des Center for the Digital Future an der University of Southern California haben ergeben, dass 21 Prozent der Amerikaner das Internet im Jahr 2005 überhaupt nicht genutzt haben. Ein Drittel aller amerikanischen Haushalte hat keinen Internetzugang, und von den übrigen zwei Dritteln verfügen weniger als 50 Prozent über einen Breitbandanschluss, der das Abrufen von Video- und Audiostreams erleichtert.

Der Mythos vom Journalismus „von unten“

Belegt ist, dass wohlhabende und gebildete Bürger viel häufiger als ärmere – und weiße oder asiatische Amerikaner eher als Afroamerikaner und Latinos – zu Hause über einen Anschluss verfügen und daher viel geübter sind im Auffinden neuer Nachrichtenquellen, Informationen, Unterhaltungsangebote und Dienstleistungen.4

Das Internet ist also längst nicht überall so verbreitet, wie die Medienkonzerne gern behaupten. Und es ist auch keine so reiche und verlässliche Quelle lokaler Nachrichten, wie seine begeisterten Anhänger oft sagen. Die „Katrina“-Krise hat zwar bewiesen, wie ungewöhnliche Innovationen im Netz die Zivilgesellschaft beleben können. Und auch abseits großer Katastrophen gibt es zahllose Beispiele für neue Websites, die das Angebot auf lokaler Ebene bereichern.

Doch das übertriebene Gerede über den Journalismus „von unten“, über Blogs und das revolutionäre Potenzial des Internet droht die Tatsache zu verschleiern, dass die großen Medienkonzerne das Internet dazu nutzen, ihren Einfluss weiter auszudehnen. Ungeachtet der vielen interessanten lokalen Onlineprojekte ist die Vorstellung, dass mit dieser Technologie auch die Gefahr der Medienkonzentration gebannt sei, einer der größten und gefährlichsten Mythen der Medienpolitik im digitalen Zeitalter.

Tatsächlich dominieren die großen Medienkonzerne das Internet: „Das Internet ist seit langem für die scheinbar unbegrenzte Vielfalt von Informationsquellen und Nachrichten aus dem gesamten politischen Spektrum bekannt. Die meistbesuchten Seiten sind aber im allgemeinen eng mit der alteingesessenen Medienindustrie verbunden. Von den 20 beliebtesten, im Nielsen/Net Rating 2005 aufgeführten Internetauftritten gehörten 17 einem der großen alten Nachrichtenkonzerne an. Ihre Inhalte wurden überwiegend offline für Zeitungen, Fernsehsendungen oder Nachrichtenmagazine erstellt. Die amerikanischen Websites mit den meisten Besuchern waren im Dezember 2005: Yahoo News (24,6 Mio.), MSNCB (22,9 Mio.), CNN (20,9 Mio.), AOL (14,7 Mio.), Internet Broadcasting Systems (mit Ausschnitten aus Fernsehsendungen der großen Senderketten und anderer TV-Anbieter, 12,9 Mio.), Gannet (11,5 Mio.), die New York Times online (10,9 Mio.), die Internetableger der Tribune-Zeitungen (10,5 Mio.), Knight Rider Digital (9,9 Mio.) und USA Today.com (9,9 Mio.).“5

Die neuen Mediengiganten Yahoo, AOL und IBS können zwar nach Besucherzahlen mit den Senderketten, Kabelsendern und Zeitungskonzernen in dieser Liste gut mithalten. Aber sie erstellen kaum eigene Inhalte. „Das Internet ist eine wunderbare Nachrichten- und Informationsquelle, die nur ein kleiner Teil der Leute als solche nutzt. Und als die FCC nachfragte, welche Seiten sie aufsuchen, stellte sich heraus: Mehr als die Hälfte geht zu broadcast.com. Die zweitgrößte Gruppe informiert sich über newspaper.com. Sie nutzen also die gleichen Informationsquellen wie zuvor, nur eben mit einer neuen Technik, in einem anderen Medium. Das sorgt weder für Meinungsvielfalt noch für mehr Wettbewerb unter den Medien“, stellt Gene Kimmelman fest, Vorsitzender der Verbraucherorganisation Consumers Union.6

Sogar Medienmogule beobachten mit Unbehagen, wie große Konzerne das Netz dominieren. Barry Diller hat als Manager beim Aufbau der Fox Broadcasting Company mitgearbeitet. Er war Chef der Unterhaltungsabteilungen bei ABC, Paramount und Vivendi Universal. Danach wurde er Aufsichtsratsvorsitzender beim Medienkonzern USA Interactive, (der Anteile an dem digitalen Vertrieb Home Shopping Network und am Weltmarktführer im Kartenverkauf, Ticketmaster, hält). Auch Diller glaubt, dass „die Entwicklung im Internet analog zu jener der anderen Massenmedien verlaufen wird. Bei Comcast (einem der größten Kabelnetzbetreiber) und ähnlichen Anbietern kann man schon den Versuch erkennen, die Websites zu registrieren, die ihre Kunden aufsuchen. Das hat zur Folge, dass man wie an einer Mautstelle zur Kasse gebeten wird. Und das wird ohne Zweifel einen Dominoeffekt auslösen.“7

Die Medienkonzerne haben zwar ausgefeilte Strategien entwickelt, um die digitalen Besucherströme auf ihre Seiten umzuleiten, aber in die Berichterstattung aus erster Hand und in den Lokaljournalismus haben sie nur wenig investiert. Der Großteil der Nachrichten im Netz besteht aus neu verpackten Meldungen von Agenturen und Zeitungskonsortien. Und die meisten Tageszeitungen nutzen das Netz nicht für interaktive oder multimediale Angebote, sondern überwiegend zur Veröffentlichung bereits gedruckter Artikel.

Neue Medienriesen wie Yahoo, AOL und IBS greifen fast ausschließlich auf Inhalte anderer Nachrichtenorganisationen zurück. Bei ABC.com, fox.com und msnbc.com bestehen die Nachrichten zu 60 bis 70 Prozent aus knappen, nichtssagenden Agenturmeldungen von Reuters und Associated Press. Selbst angesehene Zeitungen, wie die New York Times und die Washington Post verlassen sich hauptsächlich auf Agenturmeldungen, um ihre Websites auf den aktuellen Stand zu bringen – mit irgendwelchen unbedeutenden Nachrichten, die sie so nie drucken würden.

Nicht vertrauenswürdig und nicht demokratisch

Weil sie kein solides Geschäftsmodell für Nachrichten im Netz hatten, ließen die Medienmanager der großen Websites zwischen 2003 und 2004 Stellen abbauen, die die Redaktion, Bearbeitung und lokale Aufbereitung von Agenturmeldungen betrafen. Bei den Websites, die das Project for Excellence in Journalism (PEJ) untersuchte, standen etwa drei von fünf Agenturmeldungen unbearbeitet im Netz.

Die PEJ-Analyse von 1 903 Artikeln auf den neun größten, auf Nachrichten spezialisierten Websites ergab, dass es zwar zum richtigen Zeitpunkt mehr Inhalte in einer technisch ausgefeilten Präsentation gebe, das Netz aber immer noch vor allem als Archiv diene für Agenturmeldungen, zweitklassiges Material und die Wiederverwertung von Berichten aus den Morgenzeitungen.8

Der Mangel an professionellen Journalisten, die Fakten überprüfen, Texte redigieren oder klein portionierte Meldungen um eigene Recherchen ergänzen können, weist auf eines der größten Probleme des Nachrichtenangebots im Internet hin: Es ist nicht vertrauenswürdig. Sehr viele der erstmals im Netz veröffentlichten Informationen sind falsch, und daher vertrauen Leser diesen Inhalten meist nur, wenn sie von einem bewährten Anbieter aus dem Bereich der „alten Medien“ stammen.

Selbstverständlich trifft man nicht nur im Netz auf eine fiktive oder irreführende Berichterstattung. Die Skandale um fehlerhafte oder sogar ausgedachte Berichte von Jayson Blair und Judith Miller (New York Times), Steven Glass (The New Republic), Jack Kelley (USA Today) und CBS News (mit einem Bericht über Präsident Bush’ Dienst bei der Nationalgarde) haben gezeigt, dass auch die angesehensten Nachrichtenmedien der USA die journalistische Ethik nicht für sich gepachtet haben. Doch hier handelt es sich immer noch um Ausnahmen, die zudem spektakulär aufgedeckt wurden und mit ernsthaften Konsequenzen für die schwarzen Schafe verbunden waren.

Die Vorbehalte gegen Nachrichten aus dem Netz, insbesondere wenn sie von Einzelpersonen, Bloggern und anderen unbekannten Quellen stammen, sind indes nicht unbegründet. Die meisten kleinen Websites bieten mehr Meinungen als Tatsachenberichte und entsprechen nur rudimentär den üblichen journalistischen Standards.

Wo haben Wal-Mart und seine Werbeagentur Edelman nur die Abnehmer gefunden, die bereit waren, die umstrittene Eigenwerbung der Firma – teilweise wortwörtlich – als reine Nachricht oder kompetente Privatmeinung wiederzugeben oder das vorgestanzte Eigenlob zu veröffentlichen, mit dem der weltgrößte Einzelhandelskonzern auf sein Engagement für „Katrina“-Opfer hinwies? Wo haben selbst ernannte Journalisten das Gerücht gestreut, Juden hätten die Anschläge vom 11. September geplant und noch am Morgen vor der Katastrophe 4 000 Mitglieder der Jewish Community vor dem Betreten des World Trade Centers gewarnt? – natürlich im Netz.

Selbst Dan Gilmor, der in seinem Buch „We the Media“ das revolutionäre Potenzial des „Journalismus von unten“ feiert, gibt zu: „Für Manipulatoren, Schwindler, Schwätzer und Witzbolde aller Art ist das Internet ein Geschenk des Himmels.“9

In vielen Fällen wurden sogar professionelle Journalisten vorgeführt, die fehlerhafte oder unzutreffende Geschichten aus dem Internet zogen und sie in angesehenen Medien veröffentlichten. Im Dezember 2005 fand die Los-Angeles-Times-Reporterin Julie Cart einen Bericht über Dave Freudenthal, den Gouverneur von Wyoming. Darin hieß es, der Gouverneur wolle die erfolgreiche Wiederansiedlung von Wölfen in seinem Staat rückgängig machen und ein Bundesgesetz zum Schutz bedrohter Tierarten nicht anerkennen. Er betrachte den Wolf als einen „Hund des Bundes, auf den die Bestimmungen des Gesetzes nicht zutreffen“. Die Los Angeles Times druckte den Bericht über die Wölfe auf der Titelseite und erfuhr bald darauf, dass das angebliche Dekret Freudenthals eine Ente war – ins Netz gestellt von jemandem, der sich einen Aprilscherz erlaubt und sicher nie erwartet hatte, dass er damit eine der angesehensten Zeitungen des Landes zum Narren halten würde. Am nächsten Tag veröffentlichte die Zeitung (die übrigens kurz zuvor einen großen Teil ihrer Redakteure entlassen hatte) eine Berichtigung.10

Vor der Los Angeles Times waren bereits etliche andere große Nachrichtenmedien auf derartigen Ulk hereingefallen. Falsche Wirtschaftsmeldungen, die von glaubwürdigen Medien aufgegriffen worden waren – von der Ermordung Bill Gates’ über frei erfundene „Produktinformationen“ zu Medikamenten von Cel Sci bis hin zu angeblichen Ermittlungen gegen das Finanzgebaren der Hightechfirma Emulex Corp. – sorgten für Unruhe auf dem Aktienmarkt.

Manchmal spielten Webmärchen sogar im Wahlkampf eine Rolle. So bat die Journalistin Marcia Kramer von WCBS-TV in einer Fernsehdebatte zwischen Hillary Clinton und Rick Lazio vor den Senatswahlen im Oktober 2000 beide Kandidaten „um eine Stellungnahme zum Gesetzentwurf 602P“. Clinton war zunächst sprachlos und meinte dann, sie habe keine Ahnung. Daraufhin erklärte Kramer: „Nach dem Gesetzentwurf, der dem Kongress vorliegt, darf die amerikanische Post von jedem E-Mail-Benutzer in Zukunft 5 Cent pro versendeter Nachricht kassieren, obwohl sie keine Gegenleistung erbringt. Damit sollen die 230 Millionen Dollar an jährlichen Verlusten ausgeglichen werden, die der Post durch die Verbreitung von E-Mails entstehen. Aber wenn jemand nur zehn E-Mails am Tag versendet, bedeutet das Mehrkosten von 180 Dollar im Jahr. Ich würde gern wissen, ob sie für diesen Antrag stimmen werden oder nicht.“

Clinton und Lazio sprachen sich einhellig dagegen aus, und Lazio geißelte den Antrag 602P darüber hinaus als „Beispiel für die Gier des Staates, der den Steuerzahlern Geld wegnimmt, auf das er kein Anrecht hat“. Die Kandidaten waren zu Recht irritiert – wenn auch nicht über den Gesetzesentwurf 602P, denn der war eine reine Erfindung und die meist verbreitete Legende des Internet. In einer Version dieser Geschichte wird der Antrag von einem fiktiven Kongressabgeordneten namens Tony Schnell vorgelegt, in einem nie geschriebenen Leitartikel einer Washingtoner Zeitung begrüßt und von einer ebenso fiktiven Anwaltskanzlei mit nicht existierender Adresse kritisiert.11 Die schon im Netz kursierenden Warnungen vor der Falschmeldung über den legendären Antrag 602P hatten die Redaktion von WCBS nicht mehr rechtzeitig erreicht.

Bildungssatire von politischer Tragweite

Aber nicht nur Journalisten, auch Regierungsbeamte und Ministerien erwiesen sich als leichtgläubig und verbreiteten unnötig Ängste, die das Vertrauen in den Staat und in die Medien erschütterten. Im März 2004 löste ein Bericht über die Gefahren von Dihydrogenmonoxid bei den Volksvertretern in Aliso Viejo, Kalifornien, solche Besorgnis aus, dass sie über ein Verbot von Styroporbechern diskutierten, weil die Chemikalie bei deren Herstellung eingesetzt wird. Unter der Webadresse www.dhmo.org wurde in ernsten Worten vor der Substanz gewarnt.

„Dihydrogenmonoxid ist farblos, geruchlos und geschmacklos. Jedes Jahr sterben tausende von Menschen daran. Die meisten Todesfälle ereignen sich durch versehentliches Einatmen von DHMO, aber die Bedrohung durch Dihydrogenmonoxid geht weit darüber hinaus. Im festen Aggregatzustand sorgt anhaltender Kontakt für schwerwiegende Gewebeschäden. Bei der Einnahme von DHMO kann es zu Symptomen wie übermäßiges Schwitzen und plötzlicher Harnabgang, manchmal auch zu Völlegefühl, Übelkeit, Erbrechen und zu einem Ungleichgewicht der köpereigenen Elektrolyte kommen. Für diejenigen, die von der Substanz abhängig geworden sind, bedeutet der Entzug von DHMO den sicheren Tod.“12

Mehr als drei Millionen Menschen besuchten die Website und lasen über DHMO und Krebs, über die Umwelteinflüsse der Substanz und über ihren Einsatz bei der Herstellung von Milchprodukten. Die Informationen klingen alarmierend – „Man findet es in jedem See, jedem Fluss und jedem Meer“, … „DHMO ist ein wesentlicher Bestandteil des sauren Regens“ – jedenfalls so lange, bis man begriffen hat, dass Dihydrogenmonoxid nichts anderes als H2O und die Website eine Bildungssatire des EDV-Professors Tom Way von der Universität Villanova ist. Kurz bevor sie darüber abstimmen wollten, die Wassernutzung in ihrer Stadt einzuschränken, wurden die Politiker in Aliso Viejo über den Schwindel aufgeklärt. Heute wissen sie, dass man Berichte im Internet mit etwas mehr Skepsis lesen sollte.

Auch den größten Enthusiasten des Internet ist klar, dass erfundene Nachrichten das Misstrauen der Nutzer nähren und diese zu den „echten“ Nachrichten auf den Websites der großen Medienproduzenten treiben. Sie spielen indirekt den Konzernen in die Hände. „Die Flut unverlässlicher Informationen im Netz“, so Dan Gilmor, „könnte zumindest kurzfristig den Einfluss der großen Medienkonzerne noch verstärken.“13

In den meisten amerikanischen Städten sind die Websites von Lokalzeitungen die gefragtesten Nachrichtenquellen. Daran wird sich nichts ändern, solange die Zeitungen ihre Meldungen kostenlos ins Netz stellen. Doch es gibt bereits Projekte, die eine neue Ära des Journalismus in den Städten erahnen lassen. Sie behandeln Themen, die in traditionellen Nachrichtenmedien nicht vorkommen. Manchmal übertreffen sie sogar die Tageszeitungen auf deren angestammtem Gebiet der Lokalreportage, weil die Redaktionen zu wenige Reporter beschäftigen.

Vorreiter in dieser Entwicklung ist New York City. Hier hat zum Beispiel die gemeinnützige Bürgerinitiative Citizens Union Foundation im September 1999 die „Gotham Gazette“ gegründet. Diese Website „bietet alles unter einem Dach für Besucher, die sich für die Politik und das Stadtgeschehen in New York interessieren.“14 Unermüdlicher Chefredakteur der Gotham Gazette ist Jonathan Mandell, ein New Yorker Journalist in dritter Generation. Der Name der Website bezieht sich laut Mandell auf „die Zeitung, die Batman liest“.15

Mit fünf Redakteuren und einem Jahresbudget von 500 000 Dollar, das sich aus Spenden und Stipendien zusammensetzt, bietet die Gotham Gazette täglich einen Überblick über aktuelle Ereignisse und Links zu den verschiedensten journalistischen Quellen (Tages-, Wochen-, Monatszeitungen und Internetpublikationen).

Neben eigenen Berichten und Reportagen in den Bereichen Politik, Kultur und Stadtleben gibt es Gastkolumnen prominenter Politiker, Akademiker und Journalisten, einen Programmteil, eine Buchklubseite, Kleinanzeigen, Verweise zu beliebten Websites, Blogs und viele zusätzliche Angebote: etwa eine Aufschlüsselung der öffentlichen Budgets oder interaktive Stadtpläne und Onlinespiele, die Probleme in der Stadtplanung simulieren.

In New York City gibt es außerdem viele Kiez-Websites, die zu bürgerschaftlichem Engagement ermutigen. Wer auf der Suche nach journalistischen Berichten aus erster Hand ist, findet diese aber am ehesten in den Blogs. Neben tausenden von Seiten zu Themen wie Politik oder Berufsleben und zu allen erdenklichen Interessensgebieten gibt es ein paar engagierte, unabhängige Betreiber, die sich auf die Veröffentlichung von Lokalnachrichten spezialisiert haben: Augenzeugenberichten, Geschichten aus der Nachbarschaft, kritische Reportagen und Schnappschüsse. Viele New Yorker bleiben am liebsten in ihrem eigenen Kiez und geben hier auch das meiste Geld aus. Dementsprechend gibt es Blogs, die nur das Geschehen in einigen wenigen Straßenzügen dokumentieren.

Ausweitung der Blogzone

Ein Weblog ist nach der Definition der bloggenden Politikwissenschaftler Daniel Drezner und Henry Ferrel „eine Website mit geringen oder gar keinen redaktionellen Eingriffen. Sie bietet Kommentare online, wird regelmäßig aktualisiert und präsentiert Einträge in umgekehrter chronologischer Reihenfolge. Hyperlinks verweisen auf andere Internetquellen.“16

Mittlerweile gibt es aber schon Blogs wie Gothamist, die diese Definition sprengen. Gothamist wurde von Jake Dobkin aus Park Slope gegründet und deckt das gesamte Stadtgebiet ab. Dobkin hat nach eigener Aussage „New York nie länger als zehn Wochen am Stück verlassen“. Er leitet das Projekt gemeinsam mit seiner Studienfreundin Jen Chung, die immer dann die Seite betreut, „wenn sie gerade nicht in einer Werbeagentur arbeitet“. Dobkin und Chung begannen damit, dass sie sich gegenseitig Geschichten und Neuigkeiten über das Stadtleben in New York zusandten. Dann traten sie dem „Netzwerk der Gelangweilten bei der Arbeit“ bei – einem losen Verbund junger, qualifizierter Arbeitskräfte, die während der vielen Überstunden am Arbeitsplatz im Internet surfen.

„Jen ist eine Medienexpertin“, erzählt der hübsche Hipster Dobkin bei einem Minztee in einem Café in SoHo, nicht weit von seiner Wohnung entfernt. „Sie verschlingt alles, was mit Kunst und Kultur zu tun hat. Außerdem ist sie süchtig nach Kieznachrichten und Klatsch. Mich interessieren eher schräge Sachen – Zeichensysteme, Graffiti, alternative Kultur und Zeitungsschnipsel. Wir bombardierten uns damit gegenseitig über E-Mail und Instant Messaging, und 2002 stellten wir einiges davon auf meine Website. Damals waren Blogs in New York noch nicht so angesagt. Als wir merkten, dass das noch mehr Leute interessiert, bestellte ich bei einer Firma namens Blogger kostenlos ein simples Programm für das Content Management. Damit habe ich die Website Gothamist gestaltet und mit unserem gesammelten Material gefüllt. Es gab damals nur wenige ortsbezogene Blogs. Wir stellten Dinge ins Netz, die uns interessieren und die sonst höchstens in einer Stadtteilzeitung erscheinen.“

In New York, wo die Leute mit den etablierten Medien bereits gut versorgt sind, dienen diese neuen Medien als ergänzende Nachrichtenquellen. Die Projekte sind finanziell durchaus erfolgreich, weil sie Inserenten anziehen, die sich fragen, wo sie junge oder gut verdienende Konsumenten erreichen können. Außerhalb New Yorks besteht das eigentliche Problem darin, dass gerade jene Teile der Bevölkerung die Informationen im Internet am seltensten finden, die sie am nötigsten hätten.

Solange es keinen gleichberechtigten Zugang zum Internet und zum Erwerb von Computerkenntnissen gibt, besteht die reale Gefahr, dass lokale Internetressourcen von der elektronischen Verwaltung bis zu Nachbarschaftsforen und Blogs die Ungleichheit unter den Bevölkerungsgruppen nicht abbauen, sondern im Gegenteil noch verstärken. Über die neuen Medien können gebildete und wohlhabendere Bürger an demokratischen Institutionen mitwirken oder Ansprüche auf öffentliche Leistungen durchsetzen. Und die Benachteiligten verlieren durch die digitale Spaltung der Gesellschaft noch mehr.

Ein Beispiel dafür ist die Nutzung von Internetforen. Sie haben sich in Krisen- und Notsituationen als besonders hilfreich für die Bürger erwiesen. Ungefähr 45 Minuten nach dem Mord an dem Weißen Greg Shipe in Mount Pleasant wurde im wenige Kilometer entfernten, armen und überwiegend von Schwarzen bewohnten Südosten Washingtons der Afroamerikaner Michael Lanham auf offener Straße getötet. Die Berichterstattung über die beiden Todesfälle in der wichtigsten lokalen Tageszeitung unterschied sich dramatisch.

Der Ombudsmann der Washington Post stellte fest, dass über den Mord im reichen Mount Pleasant ein ausführlicher Artikel auf der ersten Seite des Lokalteils erschien. Es gab Zitate von Nachbarn und von einem Studienkollegen des Opfers an der Vanderbilt-Universität sowie vom Stadtrat Jim Graham, der von einem „schrecklichen Ereignis“ und von „den ersten tödlichen Schüssen in Mount Pleasant seit fast zwei Jahren“ sprach. Über den Mord im Südosten Washingtons las man dagegen nur drei Sätze unter der Rubrik „Kurzmeldungen“.17

Kaum ein Leser wäre wirklich erstaunt über eine so ungleich verteilte Aufmerksamkeit in den großen Medien. Aber die Diskrepanz setzt sich im Internet fort. Der Südosten Washingtons hat weder die Dichte an Bloggern, die man in den besseren Vierteln findet, noch ein populäres Internetforum, in dem die Bewohner Nachbarschaftswachen organisieren, öffentliche Versorgungsleistungen einfordern, direkt mit Polizeivertretern kommunizieren oder über Möglichkeiten zum Schutz vor der Gewalt auf den Straßen diskutieren könnten. Während sich die Bewohner von Mount Pleasant im Internet darüber austauschten, wie man die Zustände für das traumatisierte Viertel verbessern könnte, konnten sich die Menschen im Südosten Washingtons im Netz an niemanden wenden.

Und dieser Fall aus der Hauptstadt der Vereinigten Staaten ist keine Ausnahme. Vier Monate nach den Verwüstungen „Katrinas“ hatte Joel Dinerstein beim Erforschen der Ereignisse in Uptown und im benachbarten Bezirk Garden die Wahl zwischen 9 120 ins Netz gestellten Originalbeiträgen – die vielen Kommentare der Teilnehmer des Nachbarschaftsforums nola.com nicht mitgerechnet. Für die geflohenen oder wiedergekehrten Bewohner der ärmeren Viertel gab es ungleich weniger Informationen im Netz.

Michael Tisserand, damals Redakteur beim New Orleans Gambit Weekly, der mit seiner Familie aus der Stadt evakuiert wurde, stellte außerdem fest: „Per Internet war es viel einfacher, die Unterstützung der Katastrophenhilfe Fema zu beantragen. Am Telefon war das fast unmöglich. Viele öffentliche Dienstleistungen, die telefonisch oder persönlich nicht mehr zugänglich waren, konnte man über das Internet noch in Anspruch nehmen. Auch hier waren die Besitzer von Internetanschlüssen also im Vorteil.“

Die Politiker stehen heute vor einer großen Herausforderung: Sie müssen nicht nur Bedingungen schaffen, die eine Vielfalt lokaler Eigenheiten begünstigen, sondern auch dafür Sorge tragen, dass alle Amerikaner die gleichen Chancen zur Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben ihrer Gemeinde bekommen. Noch weiter gefasst, heißt das, dass ein Internetzugang als unverzichtbare öffentliche Versorgungsleistung gelten müsste – wie der Zugang zu Wasser, Gas und Strom. Immer mehr Bürger Amerikas sind der Überzeugung, dass die Zukunft einer lebendigen Demokratie von dieser flächendeckenden Versorgung abhängen wird.

Fußnoten:

1 Abschrift von „Showdown at the FCC“, The Newshour, PBS, 15. Mai 2003. 2 James Gattuso, „The Myth of Media Concentration: Why the FCC’s Ownership Rules are Unnecessary“, Web-Memo Nr. 284 der Heritage Foundation, Mai 2003. 3 www.ojr.org/ojr/law/powell.php. 4 Siehe Leslie Harris et al., „Bringing A Nation Online“, www.civilrights.org/publications/reports/nation_online/bringing_a_nation.pdf. Die Statistik zur Nutzung des Internet stammt aus dem „2005 Digital Future Report“ des USC Annenberg School Center for the Digital Future, www.digitalcenter. org/pdf/Center-for-the-Digital-Future-2005-High lights.pdf. 5 So der Bericht „The State of the Media“ des „Project for Excellence in Journalism“ (PEJ) der Columbia University, New York, www.stateofthemedia. org/2006. 6 „Showdown at the FCC“, The Newshour, PBS, 15. Mai 2003. 7 Johnie Roberts und Barry Diller, „Is Big Media Bad?“ Newsweek, www.msnbc.msn.com/id/3606172. 8 www.stateofthemedia.org/2005/.narrative_on line_intro.asp?cat=1&media=3. 9 Dan Gilmor, „We the Media: Grassroots Journalism By the People, For the People, O’Reilly“, Sebastopol (CA), 2004, S. 74. Über Wal-Marts Einsatz von Bloggern für die Imagepflege siehe Michael Barbaro, „Wal-Mart Enlists Bloggers in Its Public Relations Campaign“, New York Times, 7. März 2006, siehe auch Stephen Baker, „Edelman Shows Wal-Mart the Power of Blogs“, Business Week Online, 26. Oktober 2005. 10 Los Angeles Times, „For the Record“, 28. Dezember 2005. 11 Über den angeblichen Gesetzentwurf 602P siehe die Urban-Legends-Website: www.snopes.com/business/taxes/bill602p.asp. 12 www.dhmo.org. 13 Gilmor, „We the Media“, S. 188. 14 www.gothamgazette.com. 15 Vgl. Mark Glaser, „Holy Policy Wonks, Batman! Gotham Gazette Aces Civic Duty“, Online Journalism Review, 20. November 2003. 16 Daniel Drezner und Henry Ferrel, „The Power and Politics of Blogs“, www.utsc.utoronto.ca/~farrell/blogpaperfinal.pdf. 17 Michael Getler, „The News in Black and White“, Washington Post, 25. September 2005. Aus dem Englischen von Herwig Engelmann Eric Klinenberg lehrt Soziologie an der New York University. Der vorliegende Text ist ein Auszug aus seinem neuesten Buch: „Fighting for Air: The Battle to Control America’s Media“, New York (Metropolitan Books) 2007.

Le Monde diplomatique vom 12.01.2007, von Eric Klinenberg