Das große Versprechen
Barack Obama fordert die Demokratische Partei heraus von Michael Tomasky
Als ein Phänomen – vom griechischen Verb „phaínesthai“ (erscheinen) – bezeichnen Naturwissenschaftler alles, was sich beobachten lässt. In der Alltagssprache dagegen wenden wir das Wort auf Rock- und Filmstars, auf Spitzensportler und andere Volkshelden an. In der Politik, wo viele mittelmäßige Opportunisten über Jahre und Jahrzehnte Stufe um Stufe auf der Karriereleiter hochklettern, tauchen Phänomene nicht gerade häufig auf.
Ende Juli 2004 jedoch war es so weit, als Barack Obama – damals noch Senatskandidat aus Illinois – beim Wahlparteitag der Demokraten in Boston die Hauptrede hielt. Bei seinem Auftritt erlebten Delegierte, Parteitagsbesucher und Fernsehzuschauer einen selbstbewussten, eloquenten und gut aussehenden Mann, der eine Woche zuvor seinen 43. Geburtstag gefeiert hatte. Und sie hörten etwas überaus Ungewöhnliches, zumal inmitten eines erbitterten Präsidentschaftswahlkampfs: einen in staatsbürgerlichen Prinzipien verwurzelten Appell, die Kluft zwischen dem sogenannten roten (republikanischen) und dem blauen (demokratischen) Lager zu überwinden:
„Neben dem berühmten Individualismus gibt es ein weiteres wichtiges Element, das unsere amerikanische Geschichte ausmacht: die Überzeugung, dass wir alle miteinander ein Volk sind … Es gibt nicht ein liberales und ein konservatives Amerika – es gibt die Vereinigten Staaten von Amerika. Es gibt nicht ein schwarzes und ein weißes Amerika, ein Amerika der Latinos und eines der Asiaten – es gibt die Vereinigten Staaten von Amerika. Die politischen Auguren teilen unser Land gern in rote und blaue Staaten ein. Aber auch für sie habe ich eine Neuigkeit: Auch in den blauen Staaten haben wir Ehrfurcht vor Gott, und auch in den roten Staaten wollen wir nicht, dass FBI-Leute in unseren Bücherschränken herumschnüffeln.“ Nach dieser Rede wurde Obama sogleich als ein potenzieller Erlöser gefeiert. Seine Rede, so hieß es, sei die vielleicht wichtigste Parteitagsrede eines weitgehend unbekannten Politikers seit 1948 – damals hatte Hubert Humphrey auf dem Wahlparteitag der Demokraten sein glühendes Plädoyer für die Bürgerrechte gehalten.
Bei den Senatswahlen im November 2004 trat Obama gegen den – ebenfalls schwarzen – Republikaner Alan Keyes an. Als Obama mit 70 Prozent der Stimmen die Wahl gewann, begannen die Spekulationen über seine künftigen Präsidentschaftsambitionen. Ein Phänomen war geboren.
Was macht Obamas Anziehungskraft aus? Sein Aussehen ist gewiss kein Nachteil: Seine Augen und sein Gesicht strahlen Ruhe und Wärme und Aufrichtigkeit aus. Auf Afroamerikaner wie auf Weiße macht er den Eindruck eines Menschen, der den sozialen Aufstieg der Schwarzen verkörpert und die Rassengrenze hinter sich gelassen hat.
Eine Politik jenseits der Lager
Der Hauptgrund für seinen Erfolg liegt jedoch in dem zentralen Thema seiner Reden. Auf dem Parteitag wollte Obama weit mehr als nur die Standardthemen der Demokraten – Gesundheitspolitik, Arbeitsplätze, positive Diskriminierung – herunterbeten. Sein großes Thema ist die Bedrohung der gemeinsamen politischen Kultur in den USA, vor allem von rechts, aber auch von links.
In seinem neuen Buch „The Audacity of Hope“ (Die Kühnheit der Hoffnung)1 geht er also nicht der Frage nach, wie die Demokraten mehr Wahlen gewinnen können oder wie bestimmte progressive politische Ziele zu erreichen wären. Es geht ihm vielmehr darum, „was wir unternehmen könnten, um unsere Politik und unser Leben als Bürger zu verändern“. Obama wünscht sich eine politische Kultur, die natürlich (links)liberale Positionen bezieht, die sich aber auch die Mühe macht, auf Menschen jenseits des eigenen, demokratischen Lagers zuzugehen.
Obama hat sich also Großes vorgenommen. Und er glaubt offensichtlich, dass er den Wandel herbeiführen kann – ein Selbstvertrauen, das großenteils aus seiner persönlichen Erfahrung und seinem Familienhintergrund herrührt. Er ist der Sohn eines in Harvard ausgebildeten Ökonomen aus Kenia und einer weißen Mutter aus Kansas, doch aufgewachsen ist er vor allem in Hawaii bei seinen Großeltern mütterlicherseits. Als Barack zwei Jahre alt war, ging sein Vater nach Kenia zurück, kurz darauf ließen sich seine Eltern scheiden. Der Junge lebte dann einige Zeit bei seiner Mutter. Nachdem sie einen indonesischen Mann geheiratet hatte, verbrachte er fünf prägende Jahre (im Alter von sechs bis zehn) in Indonesien.
Dann kehrte er mit seiner Mutter und einer inzwischen geborenen Schwester nach Hawaii zurück. Als seine Mutter für einen Forschungsaufenthalt wieder nach Indonesien ging, entschloss sich der junge „Barry“, bei seinen Großeltern in Hawaii zu bleiben. Hier besuchte er eine private Highschool und hatte, obwohl seine Großeltern alles andere als reich waren, ein angenehmes Leben.
Das war in den Siebzigerjahren. Hawaii war zwar nicht Mississippi, dennoch: Obama war ein Schwarzer in den USA. Das emotionale Ringen mit seiner Herkunft hat er in seinem ersten Buch beschrieben. „Dreams from My Father“ entstand, bevor er in die Politik ging. Daher ist es für ein Mitglied des US-Senats ein ungewöhnlich aufrichtiges Dokument – eine stellenweise schonungslose Schilderung seiner Gefühle als Jugendlicher. Sein Bedürfnis, sich als Schwarzer zur Schau zu stellen, kommt ihm im Nachhinein „bestenfalls wie eine Flucht und schlimmstenfalls wie eine Falle“ vor: „In dieser irre machenden Logik blieb einem nichts anderes übrig, als sich in eine immer engere Wutspirale zurückzuziehen, bis Schwarzsein nur noch das Wissen um die eigene Ohnmacht, die eigene Niederlage bedeutet. Und der Gipfel der Ironie: Wenn man sich gegen diese Niederlage und gegen den Verfolger zur Wehr setzte, dann gab es auch dafür einen Namen, der dich wiederum in einen Käfig sperrte: Paronoider. Militanter. Gewalttäter. Nigger.“2
In den darauffolgenden Jahren hat sich seine Sicht der Dinge gemildert. Er studierte in New York und ging 1985 nach Chicago, wo er sich als Sozialarbeiter für Jugendliche in der afroamerikanischen South Side einsetzte. Während des Jurastudiums war er Herausgeber der renommierten Harvard Law Review. Er kehrte nach Chicago zurück und gründete dort ein kleines Anwaltsbüro. Er lernte seine Frau kennen: Auch Michelle war Absolventin der Harvard Law School, zugleich aber ein echtes Produkt der South Side. Ihren Mann, mit dem sie inzwischen zwei Töchter hat, hält sie für „eine Art Träumer“.
1996 wurde Obama für seinen Wahlbezirk Hyde Park, in dem er auch wohnt, in den Senat von Illinois gewählt. Hier brachte er zahlreiche Gesetze durch, wobei er auch das Vertrauen von republikanischen Senatoren gewann. Bei den Kongresswahlen von 2000 kandidierte er für einen Sitz im Repräsentantenhaus, unterlag aber bei den Vorwahlen gegen den Amtsinhaber, den ehemaligen Black Panther Bobby Rush. Vier Jahre später bewarb er sich um ein Senatorenamt in Washington. Dieses Mal war er einer von sieben Kandidaten, aber dank seines Charismas – und der Tatsache, dass einem reichen Konkurrenten eheliche Verfehlungen vorgeworfen wurden – gewann er die Vorwahl mit gewaltigem Vorsprung. Hinzu kam dann, dass der deutlich favorisierte Republikaner Jack Ryan einen Monat vor Obamas berühmter Parteitagsrede auf seine Kandidatur verzichten musste, weil unschöne Details aus seinem Scheidungsprozess bekannt geworden waren.
In beiden Büchern zeigt sich Obama als ein intellektuell wie spirituell Suchender. Ein besonders aufschlussreiches Kapitel in „Dreams from My Father“ schildert, wie aufgebracht er war, als er von seiner kenianischen Halbschwester erfuhr, dass sein Vater, ein ehemals hoher kenianischer Regierungsbeamter, von Staatschef Jomo Kenyatta wegen zu freimütiger Äußerungen abgestraft worden und in Armut versunken war.
Für Obama stand früh fest, dass er sich über die durch seine Hautfarbe definierten Grenzen hinwegsetzen wollte. Als einer, der in der Welt der Weißen gelebt hat – in der privaten High School, an der Columbia University und in Harvard, aber auch zu Hause –, hatte er gelernt, die Frage der Hautfarbe so weit hinter sich zu lassen, wie man das als Schwarzer in den USA nur kann.
Diese Sensibilität prägt sein Politikverständnis. Und er lässt keinen Zweifel daran, wie viel er der Kultur der amerikanischen Zivilgesellschaft verdankt: den großartigen Universitäten, die er besuchte; dem politischen Betrieb, den er, so frustrierend es manchmal war, als Organisator erlebte; all den Möglichkeiten, dank derer die Bürger an etwas teilhaben können, was größer ist als sie selbst. Er lässt keinerlei Zweifel an seiner Überzeugung, dass diese Kultur gehegt und gestärkt werden muss, damit noch mehr Menschen an ihr teilhaben können. Genau davon handeln auch seine besten Reden. Und genau das macht ihn in einem politischen Umfeld, in dem seit langem nur sehr wenige Demokraten etwas Interessantes zu sagen haben, verdientermaßen zu einem Star.
In seinem aktuellen Buch schildert er seine Vereidigung im Senat, mit der bewegenden Willkommensrede für die neuen Senatoren durch den damals 87-jährigen Senator Robert Byrd. Der warnte vor der Jahr für Jahr zunehmenden „gefährlichen Beschneidung der kostbaren Unabhängigkeit des Senats“, die von der Exekutive ausgehe. „Als ich diese Rede hörte“, schreibt Obama, „spürte ich all die wesentlichen Einwände auf mich eindringen, die von diesem Ort mit seinen Marmorbüsten, seinen ehrwürdigen Traditionen, seinen Erinnerungen und Geistern ausgingen. Und mir kam in den Sinn, dass Senator Byrd – wie in seiner Autobiografie nachzulesen ist – seine ersten politischen Ambitionen verspürte, als er in jungen Jahren Mitglied des Ku-Klux-Klan von Raleigh County (in West Virginia) war – einem Verein, von dem er sich längst losgesagt hat, und ein Fehler, den er sicher zu Recht auf die Zeit und den Ort seines Heranwachsens zurückführte, der ihm aber in seiner Karriere immer wieder vorgehalten wurde. Ich dachte darüber nach, dass er sich zusammen mit anderen Senatsgrößen dem Widerstand der Südstaatler gegen die Bürgerrechtsgesetze angeschlossen hatte.“
Nun war Senator Byrd ein entschiedener Gegner der Resolution, die den Irakkrieg absegnete. Obama sieht im politischen Leben Byrds einen „Kampf widerstreitender Impulse, in dem mal das Dunkel, mal das Licht die Oberhand gewinnt“. Genau das aber erscheint ihm als emblematisch für eine Institution, deren „Regeln und Zusammensetzung den großen Kompromiss widerspiegeln, der bei der Gründung der Vereinigten Staaten vollzogen wurde: die Übereinkunft zwischen den Nordstaaten und den Südstaaten, die Rolle des Senats als Schutz gegen die Leidenschaften des Augenblicks, als Bewahrer der Minderheitenrechte und der Souveränität der Einzelstaaten, aber auch als ein Instrument, das die Reichen vor dem Pöbel schützen und den Sklavenhaltern garantieren soll, dass ihre absonderlichen Gebräuche unangetastet bleiben …“
Der Leser wird in Obamas aktuellem Buch keine kühnen, innovativen Ideen finden, die den Demokraten den Weg aus ihrer politischen Sinnkrise weisen würden. Manchmal klingt auch Empörung an: „In einer Zeit, da normale Arbeiter nur wenig oder gar keinen Einkommenszuwachs erleben, haben viele amerikanische Konzernchefs offenbar jedes Schamgefühl verloren – sie reißen sich einfach alles unter den Nagel, was ihnen ihre handverlesenen und unterwürfigen Aufsichtsräte erlauben.“
Am interessantesten ist jedoch die tiefe Ambivalenz, die er gegenüber der heutigen politischen Szene der USA empfindet. Sie scheint in allen Kapiteln auf, wobei das Argumentationsmuster immer dasselbe ist: Über ein bestimmtes Thema denkt die Rechte so und die Linke so; und ich bin zwar grundsätzlich ein Linker, aber die Rechte hat doch ein, zwei Argumente, über die wir nachdenken sollten, und die Linke lässt sich eben manchmal auch ein bisschen zu sehr mitreißen. So gesteht Obama beispielsweise, dass er bei der Wahl Ronald Reagans zwar sehr beunruhigt war, dessen Anziehungskraft jedoch gut nachvollziehen konnte: „Es war dieselbe Anziehungskraft, die für mich als Kind Militärbasen gehabt hatten, mit ihren sauberen Straßen und ihrer gut geölten Maschinerie, den zackigen Uniformen und dem noch zackigeren Grüßen.“
Obama räumt ein, dass es auch in seiner Partei einige Übereifrige gibt. Und er hält Demokraten wie Republikanern vor, dass sie mit ihrem doktrinären Denken zur Politikverdrossenheit der Amerikaner beitrügen. Außerdem habe das liberale Lager keine „kohärente nationale Sicherheitspolitik“.
Frustration über den Parteibetrieb
Ussama Bin Laden sei nun einmal nicht Ho Chi Minh, und man dürfe nicht vergessen, dass die aktuellen Gefahren, die den USA drohen, vielfältig, real und potenziell vernichtend seien: „Unsere jüngste Politik hat alles nur noch schlimmer gemacht, aber wenn wir morgen aus dem Irak abziehen würden, blieben die USA auch weiterhin ein Ziel, weil sie innerhalb der bestehenden internationalen Ordnung eben eine dominierende Position einnehmen.“ Aber die Konservativen liegen für Obama „natürlich genauso falsch, wenn sie glauben, sie könnten ‚die Übeltäter‘ einfach eliminieren und anschließend die Welt sich selbst überlassen“. Er tritt für einen schrittweisen Abzug der US-Truppen aus dem Irak ein, ohne einen Zeitpunkt festzulegen.
Obama schreibt mit bemerkenswerten Offenheit über seine Wahlkampagne und was man alles aushalten muss, wenn man das Amt eines Senators erobern und ausüben will. Dabei kann er sich auch über sich selbst lustig machen und eigene Schwächen sehen. Doch vor allem zeigen diese Passagen seine tiefe Frustration darüber, wie die Parteipolitik heute aussieht. Zum Beispiel macht es ihm keinen Spaß, Wahlkampfspenden einzutreiben,3 aber noch weniger schätzt er offenbar mächtige Interessengruppen und vor allem nicht die Organisationen, die ein einziges Ziel verfolgen und die Kandidaten auf dieses Ziel hin abchecken, bevor sie ihre Unterstützung anbieten. Im Wahlkampf von 2004 habe er mindestens 50 Fragebogen ausfüllen müssen, obwohl er das nur bei Organisationen machte, auf deren Unterstützung er rechnen konnte. Die meisten Fragen habe er ohne größere Gewissensbisse bejaht, schreibt Obama, doch dann gab es auch Fragen, bei denen er zögerte:
„Ich konnte mit einer Gewerkschaft darin übereinstimmen, dass in unseren Handelsgesetzen Arbeits- und Umweltschutzvorschriften fehlen, aber hieß das zugleich, dass ich den Nafta-Vertrag aufheben wollte?4 Ich mochte auch die Auffassung teilen, dass eine allgemeine Krankenversicherung zu den obersten Prioritäten des Landes gehören sollte, aber bedeutete dies, dass eine Verfassungsänderung der beste Weg ist, um dieses Ziel durchzusetzen? Ich ertappte mich, wie ich bei solche Fragen kneifen wollte, machte kritische Randnotizen, überlegte, was für problematische Vorentscheidungen damit verbunden waren. Meine Mitarbeiter schüttelten meist nur den Kopf. Eine falsche Antwort, das machten sie mir klar, und die Wahlempfehlung, die Wahlhelfer und die Adressenliste kriegt mein Gegenkandidat. Dann kreuz ich sie eben alle so an, wie sie’s haben wollen, dachte ich – und schon sitze ich in dem reflexhaften Parteienstreit fest, den ich doch unbedingt beenden wollte.“
Man kann das für einen Ausdruck bedenkenträgerischer Schwäche halten. In den Augen vieler Linker und Linksliberaler kommt es gegenwärtig auf politische Kriegsführung an. Da gibt man besser nicht zu, dass auch die Konservativen vielleicht mal recht haben, da legt man sich lieber nicht mit Interessensgruppen an, die für die richtige Sache kämpfen, aber dabei Fehler machen.
Die Beobachter, die in Obama noch bei seiner Bostoner Parteitagsrede den politischen Krieger gesehen hatten, wurden in den ersten beiden Jahren seiner Senatskarriere von ihm enttäuscht. Sein Abstimmungsverhalten zeigt alles in allem ein fast schon konventionell progressives Profil: Nach einer Statistik des National Journal stimmte er bei ökonomischen, sozialen und außenpolitischen Themen liberaler ab als 83 Prozent seiner Senatskollegen.5
Doch in den meisten Fragen hat er sich nicht besonders mutig exponiert. Nur selten suchte er das Rampenlicht, erstmals nach dem Hurrikan „Katrina“, als er bei ABC in der Sonntagmorgen-Talkshow auftrat. Seine Antworten waren eher vorsichtig und abgewogen. Etwa zur selben Zeit brachte er seinen ersten wichtigen Gesetzentwurf ein, der Autokonzernen staatliche Zuschüsse zur Renten- und Krankenversicherung ihrer Belegschaften verspricht – unter der Bedingung, dass sie im Gegenzug benzinsparende Autos produzieren.
Seither hat er auch versucht, die Öffentlichkeit auf den Genozid in Darfur aufmerksam zu machen. Die Harvard-Professorin Samantha Power, die die Rolle der USA in den Genoziden des 20. Jahrhunderts erforscht und deren Studie über den Krieg in Ruanda 2003 einen Pulitzer-Preis erhalten hatte, beriet ihn ein Jahr lang in Washington in außenpolitischen Fragen. Ende August 2006 besuchte er ein Flüchtlingslager im benachbarten Tschad. Mit Senator Richard Lugar, einem gemäßigten Republikaner aus Indiana, inspizierte er die Atomwaffenarsenale in der Exsowjetunion. Und mit Tom Coburn, dem ultrakonservativen Republikaner aus Oklahoma, verfasste er einen Gesetzentwurf, der vorsieht, dass die Kosten aller Aufträge und Zuwendungen der US-Regierung sowie die von einzelnen Abgeordneten für ihre Wahlbezirke durchgesetzten Ausgaben im Internet veröffentlicht werden müssen.6
Beim entscheidenden Thema, das die Ära George W. Bush prägt, hat sich Obama bislang nicht hervorgetan. Obwohl er den Irakkrieg – vor dessen Beginn und auch während seiner Wahlkampagne – offen kritisiert hat, zögerte er als Senator mit seiner ersten großen Rede zum Irakkrieg. Im November 2005 forderte er vor dem Council on Foreign Relations in Chicago einen schrittweisen Rückzug der US-Truppen ab 2006 und vertrat damit die Mehrheitsmeinung der demokratischen Senatoren.7 Und auch nach seiner ersten Irakreise im Januar 2006 hat er keine entschiedene Position bezogen.
Ein Gefallen für die Investoren
Die größte Überraschung in Obamas erstem Amtsjahr war jedoch seine Zustimmung zum sogenannten Class Action Fairness Act. Dieses von den Republikanern eingebrachte und seit dem 18. Februar 2005 geltende Gesetz schränkt das im angelsächsischen Recht bedeutsame und traditionsreiche Rechtsmittel der Sammelklage deutlich ein. Künftig können Geschädigte, die gemeinsam gegen große Unternehmen klagen wollen, ihre Klagen nur noch bei Bundesgerichten und nicht mehr bei Bezirksgerichten oder solchen der Bundesstaaten einreichen. Damit sind die Klagemöglichkeiten geschädigter Verbraucher, etwa gegen die Zigaretten- oder die Asbestindustrie, eingeschränkt worden. Das Gesetz wurde vom Weißen Haus begrüßt und von Präsident Bush begeistert unterzeichnet. Obama war einer von 18 demokratischen Senatoren, die für das Gesetz stimmten. Von den meisten der 17 anderen hatte man das erwartet, weil sie „rote“ Staaten repräsentieren oder zu den „gemäßigten“ Demokraten gehören wie Joe Lieberman aus Connecticut und Dianne Feinstein aus Kalifornien.
Über dieses Votum Obamas gab und gibt es immer noch reichlich Spekulationen. Ken Silverstein veröffentlichte im November 2006 einen längeren Artikel über die nicht ganz so rühmlichen Aspekte von Obamas Arbeit als Senator. Demnach gehörten zu den aggressivsten Lobbyisten für besagtes Gesetz „einige Finanzhäuser, die den zweitgrößten Block von Obamas Geldgebern stellen“8 . Diese Unternehmen hassen „class action suits“, weil solche Gruppenklagen nicht selten zur Folge haben, dass Firmen, in die sie investiert haben, hohe Schadenersatzzahlungen leisten müssen.
Die Möglichkeit, dass Obamas Abstimmungsverhalten von diesen Lobbyisten beeinflusst wurde, ist nicht von der Hand zu weisen. Für wahrscheinlicher halte ich angesichts seiner Bücher und Aufsätze eine andere Erklärung: Er wollte zeigen – und sei es nur, um es sich selbst zu beweisen –, dass er fähig ist, sich zumindest einer Interessensgruppe der Demokraten zu verweigern. Und er tat es gegenüber den Anwaltskanzleien, weil die ihm nicht so gefährlich werden können wie die Repräsentanten der Gewerkschaften oder die Gegner des Abtreibungsverbots. Ich bin fest überzeugt, dass er nichts anderes wollte als herauszufinden, wie er sich dabei fühlt.
Wie gefangen im politischen System
Wie gesagt: Obama ist von seinem Temperament her kein politischer Krieger, ja nicht einmal ein Vertreter unserer „liberalen Linken“. In vielerlei Hinsicht ist er ein bürgerlicher Republikaner: ein Mensch, der an staatsbürgerliche Tugenden glaubt und an die Möglichkeit, durch vertrauensvolles Verhandeln zu einem guten Ergebnis zu kommen. Diese Vorstellungen entsprechen weitgehend einer liberalen Position, aber seit in den Sechzigerjahren ein aggressiverer, auf mehr und mehr Rechte pochender Liberalismus aufgekommen ist, der zuweilen Partikularinteressen auf soziale Gerechtigkeit über ein universaleres Verständnis von Allgemeinwohl stellt, hat sich ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Spielarten des Liberalismus herausgebildet. In „Audacity of Hope“ äußert sich Obama dazu folgendermaßen:
„Die Linken in den Sechzigerjahren haben die vollen Bürgerrechte für Minderheiten und Frauen durchgesetzt, die individuellen Freiheiten gestärkt und zu mehr Aufmüpfigkeit gegenüber der Obrigkeit ermuntert – und sie haben damit Amerika für all seine Bürger zu einem besseren Ort gemacht. Aber was dabei verloren ging und bislang noch keinen Ersatz gefunden hat, sind unsere gemeinsamen Grundannahmen – eine bestimmte Qualität von Vertrauen und gefühlter Gemeinsamkeit – die uns alle als Amerikaner vereint.“
Mit seinem neuen Buch bestätigt Obama, was viele schon vermutet haben. Er fühlt sich wie ein Mensch unter einer Glasglocke, nämlich in politischen und ideologischen Systemen gefangen, die in ihrer geistigen Armut zu klein für ihn sind, zugleich aber auch zu groß, weil sie so mächtig sind, dass sich alle ihren Regeln beugen müssen. Obama will diese Glocke aufsprengen, um aus ihren Scherben etwas Neues und Dynamisches zusammenzufügen. Er sieht sich als den Politiker, der etwas Neues an die Stelle der verlorenen „gemeinsamen Grundannahmen“ zu setzen vermag. Aber um das zu schaffen, braucht er vielleicht eine größere Plattform, als sie der Senat bietet.
Seit September 2006 mehren sich die Anzeichen, dass Obama eine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl im Herbst 2008 ernsthaft ins Auge fasst. Wenn er sich bewirbt, wird er noch vor Mitte dieses Jahres seine Wahlkampagne planen müssen. Dann aber wird er nicht einmal eine volle Legislaturperiode als Senator hinter sich haben – und wahrscheinlich auch keine bedeutendere Gesetzesinitiative vorweisen können. Letzteres wird ihm ab und zu von Beobachtern in Washington angekreidet. In der Los Angeles Times wurde er deshalb schon als „ein sehr sonderbares Wesen“ bezeichnet, als „ein Führer, der noch nie geführt hat“.8
Vielleicht ist Obama aber auch genau richtig positioniert. Vielleicht würde mit weiteren ernüchternden Dienstjahren im Senat – mit der ständigen Versuchung, schlechte Kompromisse zu schließen und sich auf die potenziell gefährliche Kooperation mit Lobbyisten einzulassen – der Glanz, der ihn derzeit umstrahlt, doch eher verblassen.
Mit der ganzen Ambivalenz, die bei Obama immer wieder anklingt, kann sich der junge Senator aus Illinois in zwei verschiedene Richtungen entwickeln: Entweder akzeptiert er die politische Glasglockenwelt und fügt sich der Erkenntnis, dass er „unseren Parteienbetrieb und unsere politische Kultur“ eben doch nicht verändern kann. Oder – was weit verheißungsvoller wäre – es gelingt ihm, eine neue Politik zu entwerfen, die in einem progressiven Sinne liberal wäre und außerdem über die traditionelle demokratische Wählerschaft hinaus viel mehr US-Bürger ansprechen würde, weil sie die Verankerung in den staatsbürgerlichen Traditionen betont. Um das zu schaffen, wird er mehr Mut zeigen müssen, als er hat. Er wird nicht nur „Die Kühnheit der Hoffnung“ formulieren, sondern auch kühnes Handeln wagen müssen. Und er muss seine staatsbürgerlichen Überzeugungen in handfeste Vorschläge umsetzen: über das weitere Vorgehen im Irak, über neue Wege in der Energiepolitik, über die richtige Balance von Freiheit und Sicherheit. Er muss den Amerikanern konkret zeigen, wie das Land, das ihm vorschwebt, aussehen soll. Wenn Barack Obama das schafft, dann, erst dann hat er sich die Charakterisierung als ein Phänomen verdient.
Fußnoten: