12.01.2007

Islamistische Wahlverwandtschaften

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Islamistische Wahlverwandtschaften

von Bernard Rougier

Für Scheich Hassan Nasrallah, den Generalsekretär der Hisbollah, waren die Kämpfe seiner Miliz mit der israelischen Armee im Sommer 2006 die „Schlacht der Umma“, also der gesamten islamischen Welt.

Unter den sunnitischen Islamisten im Libanon teilte man diese Meinung offenbar nicht. In Stellungnahmen und Flugblättern verschiedener Gruppierungen ging es vor allem um die Verurteilung der „barbarischen“ israelischen Luftangriffe. Offene Aufrufe zur Unterstützung der schiitischen Islamisten blieben aus – eine auffällige Zurückhaltung, zumal im Vergleich mit den Positionen der Muslimbrüder in Ägypten und Jordanien, die sich während der gesamten Krise rückhaltlos solidarisch mit der Hisbollah zeigten.1

Der Libanonkrieg des letzten Sommers ließ die unterschiedlichen Haltungen der sunnitischen und der schiitischen Bevölkerung des Landes offen zutage treten. In der gesamten Region unterstützten die meisten – aber eben nicht alle – radikalen islamischen Gruppierungen die Hisbollah. Um die Haltung der verschiedenen Gruppierungen innerhalb der sunnitischen Islamisten – also der radikalen, politisch aktiven Strömungen in der sunnitischen Bevölkerung – zu verstehen, muss man sie nicht nur unter konfessionellen, ideologischen und politischen Aspekten betrachten, sondern auch ihren jeweiligen (lokalen, nationalen oder regionalen) Wirkungsbereich bedenken.

Den sunnitischen Muslimbrüdern in Jordanien, Palästina und Ägypten ging es bei der Solidarität mit der schiitischen Hisbollah um strategische und ideologische Ziele, vor allem im Kampf gegen Israel. Im Libanon hingegen war den Muslimbrüdern der nationale konfessionelle Zusammenhalt wichtiger: Sie unterstützten den Plan von Ministerpräsident Fuad Siniora, die Hisbollah langfristig zu entwaffnen.

Obwohl sich alle sunnitischen Strömungen innerhalb des eigenen Landes stets als Verteidiger der sunnitischen Orthodoxie gegen den schiitischen Islam darstellen, werden ihre politischen Prioritäten durch einen anderen regionalen Konflikt beeinflusst, nämlich den Irakkrieg, was zuweilen sogar zu verkehrten Fronten führt. Während die libanesischen Muslimbrüder für die konfessionelle Annäherung zwischen Sunniten und Schiiten im Irak eintreten, unterstützt die Führung der Bruderschaft in anderen Ländern diejenigen sunnitischen Gruppen im Irak, die von Versöhnung nichts wissen wollen.

Die arabische Welt hat auf den Aufstieg und die Erfolge der Hisbollah und des schiitischen Islam teils mit Vorbehalten, teils mit Bewunderung reagiert. Die weitere Entwicklung des Islamismus in der Region wird letztlich davon abhängen, wie sich diese verschiedenen Reaktionen austarieren und welche Konstellation am Ende daraus entsteht.

Für die Islamisten in den Nachbarländern des Libanon stand die Hisbollah seit den 1990er-Jahren für eine Art Gegenangriff der arabischen Gesellschaften auf das übermächtige Israel. Dass die Hisbollah – die „Partei Gottes“ – nicht nur bei den libanesischen Schiiten ankommt, verdankte sie einer einfachen, aber über ihren Sender al-Manar sehr wirkungsvoll verbreiteten Botschaft: Sie erweckte die alte Vorstellung von einer islamischen Gemeinschaft der Nationen zu neuem Leben.

Dieses Ideal hatten die arabischen Regimes, denen es nur um das eigene Überleben ging, unter dem fortgesetzten Druck der USA und Israels aufgegeben. Schon der erste „Sieg“ der Hisbollah – der Rückzug Israels aus dem Südlibanon im Mai 2000 – stärkte unter den Palästinensern die Überzeugung, dass gewaltsame Aktionen ein besseres Mittel zur Wiedererlangung besetzter Gebiete seien als der lange Weg erniedrigender Verhandlungen. Diese verkappte Umdefinition der palästinensischen Kampfziele war eine Abkehr vom bisherigen Kurs der PLO und bedeutete auch, dass radikale Kräfte in der iranischen Führung Einfluss auf den arabisch- israelischen Konflikt nehmen konnten.

Der Widerstand der Hisbollah gegen die israelischen Truppen im Libanonkrieg des Sommers 2006 löste in der arabischen Welt so große Begeisterung aus, dass einige sunnitische Staaten zu Gegenmaßnahmen griffen. Das „arabisch-sunnitische Dreieck“, also Saudi-Arabien, Ägypten und Jordanien taten sich mit dem Ziel zusammen, um einer Radikalisierung in der Bevölkerung entgegenzuwirken.

Die wahhabitischen Korangelehrten der saudischen Religionsbehörde, die das Primat der Religion über die Politik verfechten, instrumentalisierten den uralten Vorwurf der „Häresie“ gegenüber dem schiitischen Islam, um den Einfluss des Iran im arabischen Osten zu begrenzen. Scheich Abdallah Bin Dschabrin, ein führender saudischer Religionsgelehrter, erließ zu Beginn des Libanonkriegs sogar ein Verbot jeder Art von Solidarität mit der Hisbollah.

Für die salafistische Strömung, die den Islam der Vorfahren (salaf) zu vertreten beansprucht und jede Loyalität gegenüber den vom Westen korrumpierten muslimischen Regierungen zurückweist, ist die Hisbollah ein zwielichtiger Konkurrent um die Herzen der Gläubigen. Die Salafisten sind sich mit den saudischen Wahhabiten in der Ablehnung der Schiiten einig, auch wenn ihre Tiraden gegen den westlichen Einfluss in der Region oft an Parolen Teherans erinnern. Aber im Unterschied zum Iran kämpfen sie für ein utopisches Ziel: die Wiedererrichtung des Kalifats.

Die al-Qaida gönnt der Hisbollah nur eine Nebenrolle

Nach zwei Wochen Libanonkrieg äußerte sich auch Aiman al-Sawahiri, der Chefideologie von al-Qaida, zum Kampf der Hisbollah, die der Terrorgruppe unerwartet Konkurrenz zu machen schien. Er rief „alle Muslime, wo immer sie seien, zum Widerstand gegen den Krieg der Zionisten und Kreuzfahrer“ auf. Die Hisbollah erwähnte er dabei mit keinem Wort.2 Aus seiner Sicht tobte die „Schlacht der Umma“ längst in Afghanistan und im Irak; den begrenzten Aktionen der Hisbollah im Südlibanon kam dabei nur eine Nebenrolle zu.

Führende Ideologen der Muslimbruderschaft wie der ägyptische Scheich Jussuf al-Qaradawi, der oft in den Sendungen von al-Dschasira auftritt, versuchten sich der Stimmung in der arabischen Öffentlichkeit anzupassen und gaben der Hisbollah ihre politische Unterstützung. Sie warnten aber zugleich im Namen der Religion vor den Folgen einer Ausbreitung des schiitischen Islam in der Region.

Auf dem Territoriums des alten Großsyriens (bilad al-scham, also Syrien, Libanon, Israel, Palästina und Jordanien) hegen die sunnitischen Islamisten einen ganz speziellen Groll gegen die Hisbollah. Sie glauben, dass die schiitische Miliz in den 1980er-Jahren gegründet wurde, um die Sunniten vom Kampf gegen Israel auszuschließen: Mit ihrer Selbstetikettierung als „islamischer Widerstand“ wollten die Hisbollah-Führer die letzte noch „heiße“ Front gegen Israel exklusiv für die Schiiten reklamieren. Für den revolutionären Iran war die Hisbollah in dieser Zeit das Mittel, um eine gemeinsame Kampffront mit dem „besetzten Palästina“ aufzubauen. Damit wurden die alten Bindungen zwischen sunnitischen Arabern und Palästinensern im Libanon ideologisch und sozialpolitisch zerbrochen.

Die palästinensische Sache wurde nun von der Hisbollah verteidigt und bekam durch die religiöse Propaganda des Ajatollah Chomeini einen islamischen Grundton – womit sie in gewisser Weise den palästinensischen Flüchtlingen und den sunnitischen Militanten aus der Hand genommen wurde. Für die libanesischen Schiiten, die der Willkür der Palästinenser ausgesetzt waren, als die Kämpfer der PLO in ihren Dörfern noch das Sagen hatten, bedeutete der sporadische, aber hartnäckige Widerstand einer schiitischen Guerilla eine Wende: Nun konnten sie darauf verweisen, dass sie den bewaffneten Kampf gegen Israel anführen. Die sunnitischen arabischen Staaten dagegen verfügten schon lange über keine militärische Option mehr, und die PLO war seit dem Jahr 1988 auf den Verhandlungskurs eingeschwenkt.

Zehn Jahre zuvor hatte der Krieg gegen die Sowjetunion in Afghanistan den sunnitischen Islamisten in der arabischen Welt die Chance für eine Bewährungsprobe eröffnet. Hier hatte sich die geopolitische Konstellation ergeben, in der ihr Religionseifer und ihr kämpferischer Einsatz gefragt war. Doch die neue Ideologie, die den Dschihad zum Selbstzweck erhob, mochte sich im pakistanischen Peschawar und im Hindukusch durchsetzen – fern der Heimat der Islamisten. Dagegen lag eine Machtergreifung in den eigenen Ländern in weiter Ferne. Die 1990er-Jahre waren geprägt von endlosen internen Debatten um Glaubensfragen. Dem schiitischen Fundamentalismus gelang es mit Unterstützung aus Teheran, seine revolutionäre Botschaft so zu formulieren, dass sie sich im Libanon – und damit unter syrischer Herrschaft – erfolgreich ausbreiten konnte.

Dass die militanten Sunniten sich nun auf die Auslegung antischiitischer Schriften aus dem Mittelalter verlegen, belegt das Scheitern ihres Islamismus im Nahen Osten. Mangels strategischer und militärischer Instrumente im Kampf gegen Israel verlegen sie sich darauf, die Schiiten als „Heuchler“ zu denunzieren. Dieser Trend verstärkt sich, seit salafistische Gruppen in der Region Fuß gefasst haben. Denn die Rückwendung zum ursprünglichen Islam impliziert fast zwangsläufig eine neue Konfrontation mit den schiitischen „Verweigerern“.3

Libanons Muslimbrüder und die schiitische Gefahr

Seit dem Februar 2005 haben sich die Muslimbrüder und Teile der Salafisten im Libanon um die Familie Hariri geschart, obwohl sie gegen den schwerreichen und großbürgerlichen Gründer dieser politischen Dynastie, den im Februar 2005 ermordeten Regierungschef Rafik al-Hariri, manche Vorbehalte hatten. Heute sind sie nur darauf bedacht, die sunnitische Identität im Nahen Osten zu verteidigen – der israelisch-arabische Konflikt erscheint demgegenüber zweitrangig. Tatsächlich scheint die Zukunft des sunnitischen Islam in der Region düster: Im Irak amtiert seit März 2003 eine schiitisch dominierte Regierung, der Iran ist zu einer bedeutenden Regionalmacht geworden, und im Libanon hat die Hisbollah eine politische, ideologische und militärische Führungsrolle übernommen.

Die neue Einheitsfront der sunnitischen Islamisten zeigt allerdings Risse. Ausgerechnet die Salafisten mit ihrer besonders starren Ideologie können ihre Feindbilder durchaus flexibel handhaben und einen Wechsel ihrer Loyalitäten mit jeweils anderen Traditionen begründen. Gegen Saad Hariri, die Führerfigur des sunnitischen Islam im Libanon, sprechen etwa der kosmopolitische Stil seiner Familie und ihre guten Beziehungen zum saudischen Königshaus.

Aber auch die Wahrnehmung einer internationalen Einmischung, und sei es auf symbolischer Ebene, verschärft die Konflikte innerhalb der breiten Regierungskoalition unter Fuad Siniora, die nach den Wahlen vom Sommer 2005 zustande kam.4

Vor diesem Hintergrund können die sunnitischen Islamisten nicht nur der Führungsriege um Saad Hariri, sondern auch dem Regime in Syrien gefährlich werden. Seit im August 2006 UN-Truppen in den Südlibanon eingerückt sind, hat die Frage, wie man die sunnitischen Militanten ideologisch kontrollieren kann, entscheidende Bedeutung gewonnen.

Mit der palästinensischen Hamas gibt es allerdings auch eine radikale sunnitische Gruppierung, die sich den politischen Proporzspielen im Libanon verweigert. Überdies bekämpft die Hamas die internationalen UN-Resolutionen und beharrt darauf, sich im Kriegszustand mit Israel zu befinden. Sie unterstützt den islamischen Widerstand, selbst wenn er von der Hisbollah ausgeht, und übt Solidarität mit dem syrischen Regime, obwohl das die Islamisten im eigenen Land bekämpft. So jedenfalls ist die Perspektive der politischen Führung der Hamas, die in Damaskus residiert. Mit dem Argument, der Kampf gegen Israel habe höchste Priorität, versucht die Hamas-Führung, die sunnitischen Glaubensbrüder im Libanon dazu zu bewegen, ihre Haltung gegenüber dem syrischen Regime zu ändern.

Ganz ähnlich verhalten sich auch die Dschihadisten in den Palästinenserlagern Ain al-Hilweh und Nahr al-Bared an der libanesischen Küste. Um ihre sunnitische Identität behaupten zu können, unterscheiden sie zwischen theologischen und strategischen Fragen: Auf konfessioneller Ebene werden die Schiiten nach wie vor verachtet, aber der Kampf in der Region erfordert, zumindest implizit, ein Bündnis mit der Hisbollah, schon um die Pläne des Westens zu vereiteln.

So erklärt sich, dass die Salafisten in Ain al-Hilweh alle UN-Resolutionen ablehnen, die eine Entwaffnung der palästinensischen und libanesischen Milizen fordern, zugleich aber im Namen der sunnitischen Identität den Einfluss der Hisbollah in den Flüchtlingslagern bekämpfen. Den sunnitischen Glaubensbrüdern freilich, die dem Hariri-Clan Gefolgschaft leisten, verweigern sie jede Solidarität. Denn in ihren Augen war es Rafik al-Hariri, der während der 1990er-Jahre den systematischen Ausschluss der palästinensischen Flüchtlinge aus dem sozialen Leben des Libanon betrieben hat.

Fußnoten:

1 Dieser Text ist die gekürzte Fassung eines Beitrags zum Sammelband von Franck Mermier und Elizabeth Picard (Hg.), „Liban, une guerre de trente-trois jours“, Paris (La Découverte) 2007. 2 Zitiert nach Al-Hayat (Beirut), 28. Juli 2006. 3 Diese abwertende Bezeichnung der Sunniten bezieht sich auf die „Partei Alis“ (Schi’at Ali), also auf die Schiiten, die den „recht geleiteten“ Nachfolgern des Propheten von der ersten bis dritten Generation die Anerkennung verweigerten. 4 Das gilt zum Beispiel für die Demonstrationen in Beirut am 5. Februar 2006 gegen die in einer dänischen Zeitung veröffentlichten Karikaturen des Propheten Mohammed. Aus dem Französischen von Edgar Peinelt Bernard Rougier ist Dozent für Politologie an der Université d’Auvergne in Clermont-Ferrand. Von ihm erschien zuletzt: „Le Jihad au quotidien“, Paris (PUF) 2004.

Le Monde diplomatique vom 12.01.2007, von Bernard Rougier