11.02.2011

Die Christen des Orients

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Die Christen des Orients

Seit der Spätantike hat die alteingesessene Religionsgemeinschaft die politischen Geschicke im Nahen Osten mitgestaltet von Rudolf El-Kareh

Die tödlichen Bombenanschläge vom 7. November und 31. Dezember 2010 auf christliche Kirchen in Bagdad und Alexandria lösten in der arabischen Welt einhellig Empörung aus.1 Intellektuelle sprachen von „Gefühlen der Scham“2 . Und sunnitische und schiitische Würdenträger und Politiker, darunter der Leiter der Al-Azhar-Universität in Kairo und Vertreter der Muslimbruderschaft, verurteilten die Anschläge mit scharfen Worten. Der ehemalige libanesische Ministerpräsident und Sunnit Selim al-Hoss forderte die „Einberufung einer arabischen Versammlung, um den Taten der Zwietracht entgegenzutreten“. Ihm schloss sich die libanesische Hisbollah an: „Angesichts der blutigen Anschläge auf die gesellschaftliche und religiöse Vielfalt sind Worte der Wut und Trauer nicht genug.“3

Seit dem Einmarsch der US-Truppen vor mittlerweile acht Jahren vergeht im Irak kaum ein Tag, ohne dass religiöse Stätten, und zwar christliche und muslimische, angegriffen werden. Doch in dem plötzlich erwachten Interesse des Westens für das Schicksal der „Orientchristen“ wird wieder nur der sogenannte Kampf der Kulturen heraufbeschworen. Während die eingangs zitierten Stimmen von Muslimen mehr oder weniger ignoriert werden, ist viel davon die Rede, dass die christlichen Minderheiten wegen ihres Glaubens unterdrückt, verfolgt und gequält werden.

Die solchen Reden zugrunde liegende Verwechslung von Religiosität und soziopolitischer Herkunft stempelt die orientalischen Christen in ihrer Heimat zu Fremden ab. Darin ähneln einander auch die islamistischen und kulturalistischen Essenzialisten „westlichen“ Zuschnitts. Während die einen die Orientchristen als eingeschleuste Fremdlinge denunzieren, betrachten sie die anderen als Vertreter des Westens „auf islamischem Boden“.

Dabei sind die im Orient lebenden Christen keine autonome gesellschaftliche Gruppe, geschweige denn eine Ethnie. Ihre Geschichte ist eng verflochten mit den vielfältigen Akkulturations-, Wandlungs- und Neuordnungsprozessen, die vom Byzantinischen bis zum Osmanischen Reich, über die Schismen von Rom und Konstantinopel bis hin zur Herrschaft der Umayyaden und Abbassiden die Bevölkerungsstruktur in der Region geprägt haben. Christliche Gemeinden sind im gesamten Maschrek, dem „Orient“, verbreitet; besonders im Irak, in Syrien, im Libanon, in Palästina und in Ägypten.

Eine entscheidende Etappe in der Geschichte der Beziehungen zwischen den orientchristlichen Gemeinden und Europa war das 1536 gegen Habsburg gerichtete Bündnis zwischen dem osmanischen Sultan Süleyman II. und dem französischen König Franz I. Ihr Abkommen räumte unter anderem den im Osmanischen Reich reisenden oder ansässigen Franzosen allerlei Privilegien ein, wie Glaubens-, Handels- und Bewegungsfreiheit. Zudem erhielten die Konsuln die Befugnis, auf osmanischem Staatsgebiet heimisches Recht zu sprechen.

Kurz darauf gelangten auch andere europäische Mächte wie England, Österreich-Ungarn und Russland in den Genuss der osmanischen Kapitülâsyon (Versprechen). Diese Verträge schufen eine rechtliche Grundlage für die vielfältigen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Beziehungen zwischen den europäischen Großmächten und den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen des Osmanischen Reichs, zu denen eben auch Christen gehörten.

Diese Verbindungen begründeten die lokale Autorität der christlichen Gemeinden und spielten in den heimlichen Plänen der europäischen Mächte, das Osmanische Reich unter sich aufzuteilen, eine wichtige Rolle. Nach einem lang andauernden Niedergang der osmanischen Herrschaft, die sich über den größten Teil des östlichen Mittelmeers, die Adria hinauf bis an die Grenzen Kroatiens und in Nordafrika bis Tunis erstreckte hatte, besiegelten die Versailler Verträge von 1919 schließlich die Auflösung des Imperiums.

Ob in London, Paris, Berlin oder Wien – überall gab es damals koloniale und natürlich miteinander konkurrierende Bestrebungen. Im 19. Jahrhundert wurde die kritische Lage des Osmanischen Reichs zur „Orientalischen Frage“ erklärt. Unter dem Vorwand des Minderheitenschutzes mischten sich die europäischen Mächte mehr und mehr in die inneren Angelegenheiten des „kranken Mannes am Bosporus“ ein; zudem war die osmanische Regierung bei den europäischen Banken hoch verschuldet.

Napoleon III. als Schutzherr

Im Libanon-Gebirge arteten 1860 ursprünglich sozial motivierte Konflikte in ein Massaker zwischen Drusen und maronitischen Christen aus; auch in Damaskus kam es zu mehreren Gemetzel, denen etwa 25 000 Mitglieder der griechisch-orthodoxen Gemeinde zum Opfer fielen. Noch im gleichen Jahr setzte Napoleon III. bei der Hohen Pforte eine europäische Militärexpedition zur Befriedung des Libanons durch. Eine Kommission wurde eingesetzt, die die Trennung des Libanon von Syrien empfahl. Ein christlicher, vom Sultan eingesetzter Gouverneur (mutasarrif) sollte einem zwölfköpfigen Rat aus Vertretern aller religiösen Gemeinden vorstehen.

Nach der französischen Initiative wurden zahlreiche englische, russische, österreichische und deutsche Gesandtschaften beim Sultan vorstellig, um in anderen syrischen Provinzen, insbesonders in Palästina, Frankreich den Rang als „Schutzmacht der Orientchristen“ streitig zu machen.

Ein Teil der christlichen Claneliten profitierte von dieser Situation; andere schlossen sich mit Muslimen und Laizisten aus Syrien und Ägypten der „Nahda“ an, der Reformbewegung für die kulturelle und politische arabische Renaissance. Die szientistischen und positivistischen Strömungen und Emanzipationsbestrebungen in Europa waren eine der Inspirationsquellen der Nahda, die natürlich auch eine große Unabhängigkeitsbewegung war.

So wollte die Nahda die arabischen Länder von der osmanischen Herrschaft befreien.4 Der große maronitische Schriftsteller, Journalist und politische Aktivist Ameen Rihani (1876–1940), der zahlreiche literarische und politische Werke auf Englisch und Arabisch schrieb, setzte sich damals für ein vereintes arabisches Königreich unter dem Emir Faysal I. ein. Doch London und Paris hatten andere Pläne für die Region: Das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 und die Balfour-Deklaration von 1917 über die Schaffung einer jüdischen Heimstätte in Palästina bildeten mit Billigung des Völkerbunds den Auftakt zum Zerfall des arabischen Orients und dessen Aufteilung unter den europäischen Mächten.

In den arabischen Unabhängigkeitsbewegungen haben Christen stets eine wichtige Rolle gespielt: Fuad Nassar, Palästinenserführer der ersten Stunde; Michel Aflaq, Mitbegründer der Baath-Partei; George Habash, Gründer der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP); Najef Hawatmeh, Chef der Demokratischen Front zur Befreiung Palästinas (DFLP); Msgr. Hilarion Capucci, ehemaliger Erzbischof von Jerusalem, Fardschallah Helu, Generalsekretär der syrischen kommunistischen Partei, sowie seine libanesischen Amtskollegen Antun Tabet und Nicolas Chaoui.

Innerhalb der arabischen Welt verfügen heute nur zwei Staaten über eine historisch gewachsene nationalstaatliche Struktur: das Marokko der Makhzen5 und Ägypten, das unter der Herrschaft von Muhammad Ali Pascha (1769–1849) ein nach damaligen Maßstäben moderner Staat wurde: mit einem effizienten Verwaltungssystem, gezielter Wirtschaftsförderung und Landreformen. Im Kampf für die Unabhängigkeit spielte die Unterscheidung zwischen Muslimen und Kopten keine Rolle. Auch Präsident Gamal Abdel Nasser, der 1952 mit den „freien Offizieren“ in Kairo die Macht ergriff, stärkte das Nationalgefühl unter Berufung auf den Panarabismus.

Eine Konfession, viele Meinungen

Sein Nachfolger Anwar as-Sadat (1918–1981) versuchte hingegen die verschiedenen religiösen Gruppen gegeneinander auszuspielen und gleichzeitig die säkularen Parteien zu deckeln, wovon wiederum die Muslimbruderschaft profitierte. Die von seinem Nachfolger Husni Mubarak tolerierte religiöse Diskriminierung durch die Scharia, das in der ägyptischen Verfassung geltende Gesetz des Islam, verschärfte die Spannungen zusätzlich.

Auch in anderen arabischen Staaten beteiligten sich Christen am Unabhängigkeitskampf, vor allem wenn, wie in Syrien, Jordanien und im Irak, die Staatsbürgerschaft über die Religionszugehörigkeit gestellt wurde. Im Libanon wurde hingegen ein System geschaffen, in dem die vier höchsten Staatsämter unter den großen Konfessionen des Landes – Christen, Schiiten und Sunniten – verteilt werden müssen. Allerdings sorgt die ökonomisch wie auch politisch einflussreiche Rolle der Christen hier immer wieder für Spannungen (siehe auch Artikel auf S. 17).

Im Irak wurde der säkulare Staat Saddam Husseins nach der US-Invasion gewissermaßen rekonfessionalisiert. Die Besatzer, die sich wie eine koloniale Schutzmacht gebärdeten, nahmen fälschlicherweise an, dass die Basis von Husseins Baath-Partei rein sunnitisch war. Damit wurde die sunnitische Gemeinschaft insgesamt zum „Feind“ erklärt.6 Zwischen den schiitischen und sunnitischen Milizen entbrannte ein Bürgerkrieg, von dem auch die alteingesessenen irakischen Christen nicht verschont blieben. Sie flohen zu Hunderttausenden nach Syrien, Jordanien und in den Libanon.

Die US-Teilungsstrategie im Irak ruft die wiederkehrende Forderung Israels nach einer Zerstückelung der arabischen Staaten in kleinere Einheiten ins Gedächtnis.7 Das beunruhigt nicht zuletzt die christlichen Gemeinden: Auf der Nahost-Synode im Oktober 2010 verwiesen sie erneut auf die systematische Diskriminierung der Christen in Palästina, die zur Auswanderung genötigt werden sollten.8 Für die Christen der Region spielen Palästina und die Symbolik Jerusalems nach wie vor eine wichtige Rolle, zumal sich auch palästinensische Christen in der Unabhängigkeitsbewegung engagieren.

Abgesehen von der US-Teilungsstrategie ist das politische Terrain äußerst heterogen. Oft verlaufen die Gräben innerhalb einer Konfession: So sind etwa im Libanon die CPL-Partei des Christen Michel Aoun und die Bewegung von Suleiman Frangié mit der Hisbollah verbündet, während der maronitische Führer der Forces Libanaises, Samir Geagea, dem prowestlichen Bündnis des ehemaligen Ministerpräsidenten Saad Hariri angehört. In Palästina leben viele Christen in Hamas-geführten Kommunen.

Mit dem US-Einmarsch von 2003 wurde die tiefe Krise der arabischen Staaten und des politischen Islam offenbar. Außerdem begannen sich die verschiedenen religiösen Gruppen stärker voneinander abzukapseln, worunter vor allem die christlichen Minderheiten leiden. Die westlichen Verfechter des „Minderheitenschutzes“ und die konservativen muslimischen Prediger bedienen sich derselben Argumente: Sie trennen die arabischen Christen von ihren Wurzeln, wie zeitweilige Gäste, die zu akzeptieren Barmherzigkeit und Toleranz gebieten. Der Vatikan mag noch so sehr auf die historische Rolle der Christen in der arabischen Welt verweisen, die Verantwortung tragen nicht nur die einzelnen Gemeinschaften und Konfessionen: Die Gesellschaft als Ganzes ist gefordert, um eine gemeinsame säkulare Lösung zu finden.

Fußnoten: 1 Im Unterschied zum Attentat auf die Kirche „Unserer Lieben Frau von der immerwährenden Hilfe“ in Bagdad (mit 46 Opfern), zu dem sich die irakische Fraktion von al-Qaida bekannte, gab es beim Anschlag auf die „Kirche der zwei Heiligen“ in Alexandria (21 Tote) zwar kein Bekennerschreiben, aber die Kopten waren schon vorher von Al-Qaida-Aktivisten bedroht worden. 2 As-Safir, Beirut, 8. Januar 2011. 3 As-Safir und An-Nahar, 4. Januar 2011. 4 Siehe Selim Nassib, „Monarchen, Militärs und Mullahs. Renaissance und verpasste Moderne in der arabischen Welt“, Le Monde diplomatique, März 2003. 5 „Makhzen“ bezeichnet den traditionellen marokkanischen Regierungs- und Verwaltungsapparat mit dem König als Zentrum; er dient noch heute dem marokkanischen Staat als Grundlage. 6 Siehe Nir Rosen, „Irak 2010. Zwischen Nachkriegszeit und Demokratie“, Le Monde diplomatique, März 2010. 7 Diese vor allem von David Ben Gurion formulierte Strategie ist in einem Dokument zusammengefasst, das von Oded Jinon, einem hochrangigen Mitarbeiter im israelischen Außenministerium, ausgearbeitet und von der PR-Abteilung der Zionistischen Weltorganisation unter dem Titel „A Strategy for Israel in the 1980s“ in der Zeitschrift Kivunim, Nr. 14, im Februar 1982 herausgegeben wurde. 8 Siehe Jonathan Cook, „Israel’s Purging of Palestinian Christians“, Counterpunch, 9. Januar 2007. Aus dem Französischen von Barbara Schaden Rudolf El-Kareh ist Soziologe und Schriftsteller. Er lehrte als Professor im Libanon, in Frankreich und in Kanada.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2011, von Rudolf El-Kareh