11.02.2011

Das Unmögliche ist machbar

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Das Unmögliche ist machbar

Politiker sprechen gern von komplizierten Verhältnissen, wenn sie eigentlich sagen wollen, dass jeder Versuch, sie zu verändern, schlicht verrückt sei. Doch manchmal ist alles auch ganz einfach. Wie etwa nach dem 11. September 2001, als der damalige US-Präsident George W. Bush seine klare Ansage machte: „Mit uns oder mit den Terroristen.“ Bis vor kurzem ging es nach Ansicht des französischen Präsidenten in Tunesien auch nur um die Wahl zwischen einem befreundeten Diktator und „einer Art Talibanregime in Nordafrika“, wie sich Nicolas Sarkozy bei einem Besuch in Tunis 2008 ausdrückte.

Doch sobald eine soziale oder demokratische Bewegung neue Akteure hervorbringt, die in diesem auf ewig abgekarteten Spiel nicht vorgesehen waren, gerät alles durcheinander. Die in Bedrängnis geratenen Machthaber werden bei dem geringsten Verdacht auf „subversives Verhalten“ hellhörig. Finden sie etwas, nutzen sie es aus oder erfinden es einfach.

Am 13. Januar, einen Tag vor Ben Alis Flucht, beklagte sich der laizistische Oppositionsführer Ahmed Najib Chebbi beim tunesischen Unesco-Botschafter Mezri Haddad über ein „Entwicklungsmodell, das niedrige Gehälter als einzigen internationalen Wettbewerbsvorteil preist“.1 Er prangerte die „provozierende Zurschaustellung illegal erworbenen Reichtums in den großen Städten“ an und erklärte, „niemand in Tunesien erkennt mehr die Regierung an“. Daraufhin platzte Haddad der Kragen: „Ben Ali hat Tunesien 1987 vor den fanatischen Massen und den Fundamentalisten gerettet. […] Jetzt muss er sich an der Macht halten, ganz gleich was geschieht, denn das Land ist von Fanatikern bedroht und den mit ihnen verbündeten Neobolschewisten.“

Nur wenige Stunden später forderte auch Haddad die Absetzung des „Retters von Tunesien“, und am 16. Januar wurde Chebbi zum Minister für Regionalentwicklung ernannt.

In Tunesien ist mehr oder weniger spontan eine Bewegung entstanden, der sich sofort viele Leute aus vollkommen unterschiedlichen sozialen Schichten anschlossen. Jetzt muss man sich entscheiden: Will man das Spiel abbrechen und den Gewinn einstecken – oder den Einsatz verdoppeln? Ein Teil der Gesellschaft, also das liberale Bürgertum, will natürlich, dass alles wieder in geordneten Bahnen verläuft; der andere Teil, also die Landbevölkerung, die kleinen Angestellten, Arbeitslosen und Studenten, setzt darauf, dass die Protestbewegung noch mehr erreicht, als einen alten Diktator mit seinem gierigen Familienclan aus dem Palast zu werfen. Im Übrigen hatte niemand die Absicht – vor allem nicht die Jugend –, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um für andere, die weniger Mut, aber bessere Referenzen besitzen, die Kastanien aus dem Feuer zu holen.

Die Vorstellung, dass sich der Kampf gegen die Diktatur der Familie Ben Ali auf die Wirtschaftsmacht der Oligarchie ausweiten könnte, gefällt weder den Reiseveranstaltern noch den Finanzmärkten oder dem Internationalen Währungsfonds (IWF). Am 19. Januar wertete die Ratingagentur Moody’s denn auch tunesische Staatsanleihen aufgrund der „Instabilität des Landes“ ab. Auch in Algier, Tripolis, Peking und den westlichen Staatskanzleien war man wenig erfreut. Man erinnere sich: Als die Tunesier auf die Straße gingen und Freiheit und Gleichheit forderten, bot Paris dem schwankenden Regime Ben Alis zunächst sogar „die Expertise französischer Sicherheitskräfte“ an.2

Ben Ali hatte stets vorgegeben, sich gegen die Fundamentalisten und für die Trennung von Staat und Kirche und die Frauenrechte einzusetzen; er war Vorsitzender einer Partei, die zur Sozialistischen Internationale gehörte – und fand ausgerechnet in Saudi-Arabien Asyl.

Was wäre geschehen, wenn man in den letzten Monaten in Teheran oder Caracas die Leichen Dutzender erschossener Demonstranten entdeckt hätte? Schon vor mehr als 30 Jahren hatte die – damals noch bei den Demokraten engagierte – amerikanische Politikwissenschaftlerin Jeane Kirkpatrick einen solchen Vergleich zurückgewiesen.3 Sie meinte, die prowestlich eingestellten „autoritären“ Regime seien ihren möglicherweise „totalitären“ Nachfolgern stets vorzuziehen.

Im November 1979 erschien ihre einflussreiche Untersuchung über zwei aktuelle außenpolitische Niederlagen Washingtons: die Revolutionen im Iran und in Nicaragua. Sie argumentierte, in beiden Fällen hätten die USA unter der Präsidentschaft von Jimmy Carter gerade dadurch, dass sie die Demokratie vorantreiben wollten, „aktiv an der Absetzung amerikafreundlicher, moderater Autokraten (Schah Reza Pahlevi und Augusto Somoza) durch weniger freundliche und extremistische mitgewirkt“. Die gestürzten Regime, so Kirkpatrick, seien natürlich auch nicht ganz unschuldig, „gelegentlich, so wird jedenfalls behauptet, kommt es wohl auch vor, dass in diesen Ländern politische Gegner gefoltert wurden“, aber die damaligen Regierungschefs seien trotz alledem „Freunde der USA“ gewesen: „Sie sandten ihre Söhne an unsere Universitäten, stimmten bei der UNO für uns und unterstützten stets amerikanische Interessen und Positionen.“

Die Politik der Carter-Administration habe mit ihren Demokratievorstellungen den Regimewechsel indirekt befördert und damit einen verhängnisvollen Fehler begangen: „Washington überschätzte sich und die ‚Moderaten‘ in der Opposition und unterschätzte die Unnachgiebigkeit der Radikalen.“ Das Ergebnis war die Theokratie der Ajatollahs im einen und der Sieg der Sandinisten im anderen Fall.

Weder die Akzeptanz einer prowestlichen „Diktatur des kleineren Übels“ noch die Furcht vor als Demokraten verkleideten Fundamentalisten (früher Kommunisten) können uns heute noch überraschen. Aber dass in den letzten Wochen der Geist Kirkpatricks die Pariser Regierung sogar noch stärker heimgesucht zu haben scheint als Washington, ist schon bemerkenswert. Die USA waren beruhigt, als sie merkten, dass die Islamisten in der tunesischen Protestbewegung gegen Ben Ali keine führende Rolle spielten. Wikileaks hatte das Urteil des State Departments über die „Quasimafia“ und das „sklerotische Regime“ des herrschenden tunesischen Clans bereits enthüllt; das Weiße Haus überließ sie nun ihrem Schicksal und vertraute auf eine liberale, bürgerliche Erhebung.

Der tunesische Aufstand schlägt auch Wellen jenseits der arabischen Welt. Viele Gründe für die Explosion der Wut finden sich auch anderswo: ungleiches Wachstum, hohe Arbeitslosigkeit, Unterdrückung von Protesten durch einen übermächtigen Polizeiapparat, eine gebildete Jugend ohne Zukunftsperspektive und eine parasitäre Herrscherkaste. Die Tunesier werden all diese Übel nicht auf einmal ausrotten können, aber sie haben das Joch der Unabwendbarkeit abgeschüttelt. „Es gibt keine Alternative“, hatte man ihnen eingebläut. Ihre Antwort war: Manchmal geschieht das Unmögliche.

Serge Halimi

Fußnoten: 1 Interview mit dem französischen Radiosender RMC vom 13. Januar 2011. 2 Außenministerin Michèle Alliot-Marie am 12. Januar vor der französischen Nationalversammlung. 3 Jeane Kirkpatrick, „Dictatorships and Double Standards“, in: Commentary, New York, November 1979, verfügbar unter: www.commentarymagazine.com. Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Le Monde diplomatique vom 11.02.2011, von Serge Halimi