Die Muslimbrüder
„Wann wird Mubarak abtreten?“, fragte am 5. Februar die Internetausgabe der ägyptischen Tageszeitung al-Ahram. Das hätte bis vor kurzem kein Redakteur des Amtsblatts gewagt, nicht einmal im privaten Kreis. Es ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass eine neue Ordnung entsteht. Und in dieser werden die Muslimbrüder neben anderen Kräften eine wichtige Rolle spielen. Sie sind die größte Graswurzel-Organisation des Landes. Die offiziell seit 1954 verbotene Gruppe hat Sympathisanten und Mitglieder in jeder Straße und in jedem Dorf.
Muslimbrüder haben auf dem Tahrir-Platz demonstriert. Ihre Ärzte verpflegten die Verletzten Seite an Seite mit anderen Ärzten. In Kairo und Alexandria organisierten ihre Mitglieder gemeinsam mit ihren Nachbarn – ob Muslime oder Christen, Linke oder Liberale – Lebensmittel und verteidigten öffentliche Gebäude, Moscheen und Kirchen gegen den Mob.
Seit ihrer Gründung 1928 sind die Muslimbrüder eine Bewegung des Mittelstands. Bis heute ist sie vor allem in den Berufsvereinigungen der Ärzte, Anwälte und Ingenieure stark, aber auch an den Hochschulen. Dagegen standen religiöse Institutionen und Moscheen stets unter scharfer Kontrolle des Religionsministeriums.
Mit der Parole „Der Islam ist die Lösung“ (al-Islam huwa al-Hall) meinen die Muslimbrüder die Wiederbelebung islamischer Grundwerte wie sozialer Gerechtigkeit (adala) und Freiheit (hurriya). Im Wahlprogramm von 2010 wurden Themen wie Entwicklungspolitik und die regionale Rolle Ägyptens angesprochen. Das Vorbild der Muslimbrüder ist nicht Saudi-Arabien oder der Iran, sondern die heutige Türkei und ihre AKP-Regierung.
Ihr Wahlziel lautet: Beteiligung und keine Dominanz. 2005 wie 2010 stellten sie Kandidaten nur für ein Drittel aller Parlamentssitze auf, um eine Polarisierung zwischen dem Regime und der islamischen Bewegung zu vermeiden. Aus dem gleichen Grund integrierten sie sich in die neuen sozialen Bewegungen. Sie unterstützten die großen Streiks, ihre jugendlichen Anhänger vernetzten sich mit anderen über Blogs und Facebook, ihre Parlamentarier übersetzten die Forderungen in Gesetzesvorlagen und Initiativanträge.1
Dabei agierte die Führung der Bruderschaft jedoch lange zurückhaltend. Das hatte taktische Gründe: Man fürchtete, das Regime werde ein offensiveres Eintreten für die sozialen Forderungen mit noch härteren Repressionen beantworten. Hinzu kam, dass immer mehr Moscheen von fundamentalistischen Gruppen aus dem Boden schossen – manche eher unpolitisch, andere von systemtreuen Salafisten. Die Muslimbrüder standen vor der Entscheidung – und setzten nicht auf die Stärkung islamischer Frömmigkeit, sondern auf die Nähe zur ägyptischen Zivilgesellschaft.
Ivesa Lübben